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Auf dem linken Auge blind?

Ein kritischer Blick ins soziale Lager der Liberalen – wo man mit Freihandel, EU-Kritik und Ungleichheit nicht viel anfangen kann. Und lieber auf Quoten, Bevormundung und Visionen setzt.

Es steht nicht günstig für den Liberalismus. Das Wort «liberal» ist in vielen Ländern fast schon ein Schimpfwort geworden. Die verschärfte Variante des Kampfbegriffs ist der «Neoliberalismus», für viele Intellektuelle ein echtes Teufelszeug. Der Neoliberalismus befürwortet angeblich eine enthemmte Wirtschaft ohne jegliche staatliche Regeln, einen kalten Kapitalismus, der nur wenigen nützt. In Amerika hat dagegen die Linke den Begriff «liberal» okkupiert; er steht hier für mehr Regulierung, höhere Steuern und staatliche Bevormundung bis hin zu Sprechverboten. Die Begriffsverwirrung um den «Liberalismus» ist perfekt. Schauen wir uns also die Vorwürfe kritisch an.

 

Finanzkrise

Ist in der Finanzkrise nicht offenkundig der unregulierte Markt gescheitert? Nein, der pauschale Vorwurf des alleinigen Marktversagens ist falsch, denn an der Spekulationsblase, die krachend platzte, waren ja auch staatliche Massnahmen mitschuldig, vor allem die extrem expansive Geldpolitik. Doch dass der Vorwurf die Liberalen in Europa so stark in die Defensive gebracht hat, liegt auch an ihren eigenen Versäumnissen und Fehlern. Historisch gesehen haben die Neoliberalen gerade nicht für einen unregulierten Markt und einen Wettbewerb ohne Leitplanken gekämpft, sondern für das Gegenteil: Der Wettbewerb brauche klare Regeln, damit er sich nicht selbst pervertiere, forderten die frühen Neoliberalen wie Walter Eucken oder Alexander Rüstow, die Anfang der dreissiger Jahre das Konzept «Neoliberalismus» entwickelten. Niemals dürften Grossunternehmen, Konzerne oder Kartelle die Spielregeln so zu ihren Gunsten verändern, dass sie die marktwirtschaftlichen Prinzipien faktisch ausschalten können. Genau das ist aber geschehen und hat zur Finanzkrise geführt: Grossbanken waren und sind so gross, dass ihre Schieflage die ganze Volkswirtschaft bedroht. Daher geniessen sie de facto eine staatliche Garantie. Die öffentliche Hand hat sie in der Krise aufgefangen, ihre Verluste wurden zum Teil sozialisiert. Walter Eucken hat die private Haftung als konstitutiv für die Marktwirtschaft betont. Die Haftung wirke «prophylaktisch gegen eine Verschleuderung von Kapital» und zwinge dazu, die Märkte vorsichtig abzutasten. «Nur bei fehlender Haftung kommt es zu Exzessen und Zügellosigkeit», warnte Eucken vor mehr als einem halben Jahrhundert. Die als «systemrelevant» geltenden Banken, die man «too big to fail» nennt, waren von der Haftung im äussersten Fall befreit.

Das ist keine echte Marktwirtschaft. Man könnte von einem perversen Bankensozialismus sprechen, der Gewinne privatisiert und Verluste sozialisiert. Erst die implizite Staatsgarantie (und das viele billige Geld, das die Notenbanken in die Märkte pumpen) verleitet zu übermässiger Risikoaufnahme. Diese Systemfehler wurden in den achtziger Jahren, als man das Finanzsystem zu liberalisieren begann, bis kurz vor der Krise nicht ausreichend erkannt. Dass die Liberalen auf diese Lücke in der marktwirtschaftlichen Ordnung nicht deutlich genug hingewiesen haben, hat sie entscheidend in die Defensive gebracht. Nicht gelungen ist es ihnen auch, die staatliche Mitschuld an der Krise durch eine zu lockere Geldpolitik ausreichend klarzumachen. Nun entstehen durch die expansive Rettungspolitik der Notenbanken neue Risiken. Nötig wäre endlich ein glaubwürdiges Haftungs-, Insolvenz- und Abwicklungsregime für Banken – und zudem ein Insolvenzregime für Staaten, damit nicht die Steuerzahler für immer teurere Euro-Rettungsaktionen in Anspruch genommen werden. Die bisherigen institutionellen Arrangements im Euroraum erscheinen noch immer unzureichend.

 

Freihandel

Die mit der Krise wieder aufgelebte Verdammung von Märkten zieht sich durch das gesamte politische Spektrum. Auch an dieser linken Flanke des Liberalismus wachsen ähnliche Vorurteile wie bei den klassischen Linken. Sie beschränken sich nicht nur auf die Finanzwirtschaft, sondern erstrecken sich auch auf den Freihandel: Das geplante Freihandelsabkommen TTIP der Europäischen Union mit den Vereinigten Staaten ist zum bevorzugten Hassprojekt geworden. Erst prägte das ominöse «Chlorhühnchen» monatelang die Debatte, dann kam die Warnung vor «Gen-Food» hinzu; beides löst allergische Reflexe aus, obwohl auch mit dem Freihandelsabkommen weder das eine noch das andere eingeführt werden dürfte. Doch Angst essen Verstand auf. Begründeter sind dagegen Sorgen über die Stellung der Schiedsgerichte zum Investorenschutz. Es wäre besser, diese Gerichte mit ordentlichen Richtern zu besetzen und ihre Verhandlungen öffentlich und transparent zu machen.

All das verstellt vielen Linksliberalen leider den Blick auf die Hauptsache, dass eine Freihandelszone zwischen Europa und Amerika eine gewaltige wirtschaftliche Chance bietet. Es gibt nach wie vor viele nichttarifäre Handelshemmnisse. Wenn Sicherheitsstandards für viele Produkte, etwa für Autos, gegenseitig anerkannt würden, liessen sich Hunderte Millionen an doppelten Entwicklungskosten auf beiden Seiten des Atlantiks sparen. Doch die Gegner betrachten den Freihandel mittlerweile ganz generell voll Misstrauen. Die diffuse Sorge beherrscht die Stimmung, dass «die Kleinen» bei freiem Handel von den Grossen untergebuttert würden.

Das war nicht immer so. Die von Richard Cobden geführte «Manchester-Bewegung», eine richtige Massenbewegung für den Freihandel in den 1840er Jahren, hatte die Arbeiter und ärmeren Haushalte auf ihrer Seite. Von der Abschaffung der Kornimportzölle versprachen sie sich billigere Nahrungsmittel, ein günstigeres Leben und damit höhere Realeinkommen. Der Triumph des Freihandels hat die Monopolrenten der Grossgrundbesitzer abgeschafft und gerade den kleinen Leuten erhebliche Wohlstandsgewinne beschert. Dass viele Linksliberale heute blind sind für die Wohlstandschancen, die intensiverer Wettbewerb und die Marktwirtschaft den Verbrauchern bieten, kann nur mit ideologischer Verblendung erklärt werden.

 

Markt und Staat

Ein blinder Fleck der Linken und Linksliberalen ist auch ihre Fehldeutung des Begriffs «starker Staat»: Als Konsequenz der angeblichen Krise des Kapitalismus ertönte allseits der Ruf nach einer Rückkehr des «starken Staats», der die Finanzmärkte in die Schranken weist und «den Kapitalismus» zähmt. Die Ideen von John Maynard Keynes, der für konjunkturstimulierende Ausgabenprogramme eintrat, erlebten ein Revival. Umfragen zeigen, dass sich die Bürger insgesamt mehr staatlichen Einfluss auf die Wirtschaft wünschen.

Doch der Staat, der Banken rettet, Unternehmen stützt, Branchen fördert, Subventionen vergibt und die Bevölkerung durch Sozialpolitik ruhigstellt, ist in Wirklichkeit ein getriebener, ein erpressbarer, in letzter Konsequenz also schwacher Staat. Eucken schrieb vor mehr als einem halben Jahrhundert über das paradoxe Phänomen: «Die Zunahme der Staatstätigkeit nach Umfang und Art verschleiert den Verlust der Autorität des Staates, der mächtig scheint, aber abhängig ist.» Nun stehen manche Staaten am Rande des Staatsbankrotts, der nur durch die Niedrigzinspolitik und Anleihekäufe der Notenbanken verdeckt wird. Damit wird die Verletzlichkeit des überdehnten Staates deutlich.

 

(Anti-)Diskriminierung

Eine völlige Umwertung des Begriffs «liberal» hat, wie oben bereits erwähnt, in den Vereinigten Staaten stattgefunden und verwirrt bis heute. Liberal ist dort nicht mehr liberal. Die «progressive» Linke hat seit dem frühen 20. Jahrhundert die Bezeichnung «liberal» usurpiert. Während die älteren, klassischen Liberalen die bürgerliche Unabhängigkeit von staatlichen Eingriffen und das Recht auf Eigenständigkeit und Eigenverantwortung verteidigten, drehten die neuen «Liberalen» den Sinn des Wortes um. Der einflussreiche Sozialwissenschafter John Dewey schrieb in «Liberalism and Social Action» (1935): Die Ziele des Liberalismus seien nicht mehr durch Selbstkoordinierung der Menschen in der Marktwirtschaft zu erreichen, sondern «nur durch das Gegenteil der Mittel, denen der frühe Liberalismus sich verpflichtet fühlt». Dewey forderte eine «organisierte soziale Planung». Diese Linksliberale sahen Freiheit also nicht mehr als klassisches Abwehrrecht gegen den Staat, sondern als «positive Freiheit», wie sie später Isaiah Berlin definierte: Der Staat hatte dabei die Aufgabe, die Gesellschaft zu gestalten.

Seit dieser Umdeutung stehen die amerikanischen «Liberals» für mehr Staat («Wohlfahrtsstaat»), mehr Eingriffe in die unternehmerische und persönliche Freiheit und höhere Steuern. Seit den siebziger Jahren haben sie sich zudem verstärkt der Veränderung der bürgerlichen Kultur zugewandt. Der Staat sorgt nicht mehr nur für materielle Umverteilungsprogramme, sondern er soll die Menschen erziehen, die Gesellschaft gleicher zu machen und von Vorurteilen zu reinigen. Über Antidiskriminierungsvorgaben soll etwaiges diskriminierendes Handeln von Privatunternehmen verboten werden, Sprachgebote regulieren die Rede und letztlich das Kommunizieren der Bürger. Der amerikanische Juraprofessor David Bernstein hat in seinem lesenswerten Buch «You can’t say that» mit vielen absurden Beispielen gezeigt, wie das Zusammenspiel von Political Correctness und Antidiskriminierungsgesetzen die persönliche und die unternehmerische Freiheit einschränkt. Es hat sich eine regelrechte Antidiskriminierungsindustrie gebildet, die Unternehmer und Vermieter vor Gericht zerrt und Schadenersatz einklagt, wenn nur der Verdacht einer Ungleichbehandlung oder einer politisch unkorrekten Einstellung besteht. Diese Antidiskriminierungsindustrie macht Milliardenumsätze. Statt Meinungs- und Handlungsfreiheit herrscht ein zunehmend rigides Klima.

Liberale Ökonomen wie Milton Friedman waren dagegen, private Diskriminierung per Gesetz zu verbieten, weil dies unverhältnismässig in die Freiheit des einzelnen eingreift. Friedman argumentierte, dass der Markt als unpersönliches, anonymes Koordinierungsinstrument zur «Farbenblindheit» tendiere. Meint: Marktwirtschaft und offener Wettbewerb bieten auch Aussenseitern eine Chance. Unternehmer, die nicht die objektiv besten und produktivsten Mitarbeiter oder Bewerber auswählen, schaden sich selbst, weil ihnen Gewinne entgehen. Dennoch ist «Diskriminieren» nach liberaler Lesart ein Freiheitsrecht, es besteht auch eine negative Vertragsfreiheit. Hannah Arendt, die grosse Kämpferin gegen totalitäre Tendenzen, schrieb in einem ihrer Essays: «Diskriminierung ist ein ebenso unabdingbares gesellschaftliches Recht wie Gleichheit ein politisches ist.»

 

Gleichheit

Auch die politische Gleichheit wurde dank «positiver Diskriminierung» durch den Staat pervertiert, der im Rahmen der «Affirmative Action»-Programme seit vierzig Jahren etwa bei der Zulassung zu Universitäten eine Vorzugsbehandlung mit Sonderquoten für gewisse ethnische Minderheiten betreibt – auch wenn der Erfolg dieser «positiven Diskriminierung» äusserst umstritten ist. In einigen europäischen Ländern und nun auch in Deutschland gibt der Staat grösseren Unternehmen im Management eine Frauenquote vor. Auch dies ist ein Eingriff in die unternehmerische Freiheit, den echte Liberale verurteilen, viele Linksliberale jedoch bejubeln.

Zweifelsfrei ist der Liberalismus eine Geisteshaltung mit vielen Schattierungen. Im Kern jedoch steckt zweierlei: die Forderung nach wirtschaftlicher Freiheit und der Ruf nach geistiger Freiheit. Die europäische Aufklärung definierte den Menschen einst als vernunftbegabtes Wesen. Durch selbständiges Denken und Handeln soll der Mensch sich aus seiner «selbstverschuldeten Unmündigkeit» (Kant) befreien. Viele linksliberale, grüne oder auch konservative Politiker und Verbraucherschützer behandeln die Menschen aber wieder wie Unmündige, wie Kinder. Diese müssen vor allerlei (selbst)schädigendem Verhalten geschützt werden: vor dem Rauchen, vor Alkohol, vor zu fetten Speisen und zu süssen Getränken. Der umsorgende Nanny-Staat ist für nicht wenige Politiker eine verlockende Utopie. Eine liberale Alternative zur Bevormundung wäre es, die Eigenverantwortung zu stärken, etwa indem man für die Krankenversicherung risikoadäquate Beiträge zahlt, die die Gesundheitskosten des persönlichen Verhaltens reflektieren.

 

Aufklärung

Wenn wir von der europäischen Aufklärung sprechen, sollten wir zwei unterschiedliche Stränge unterscheiden, wie das Friedrich August von Hayek getan hat. Auf der einen Seite steht die französische Aufklärung mit der Gruppe der Enzyklopädisten und vor allem Rousseau, mit ihrem rationalistisch-kartesianischen Denken, das allzu leicht in eine Machbarkeits- und Planbarkeitshybris verfiel: man glaubte, Wissenschafter, Philosophen oder staatliche Planer könnten quasi auf dem Reissbrett eine neue, bessere Gesellschaft entwerfen. Auf der anderen Seite steht die englisch-schottische Aufklärung, die zwar den vernunftbegabten Menschen Freiräume geben will, aber auch die Grenzen der Vernunft und Planbarkeit anerkennt. Sie respektiert evolutionär gewachsene Traditionen und Institutionen. Diese Form des liberalen Denkens, das von Hume und Ferguson über Burke bis zu Hayek reicht, hat Anknüpfungspunkte an konservative Denker. Obwohl Hayek sich öffentlich strikt von kollektivistischen Konservativen distanzierte, hat er doch viele Berührungspunkte mit einem freiheitlichen Konservatismus. Noch mehr als Hayek hat Wilhelm Röpke erkannt, dass Liberale das Bedürfnis nach tragfähigen sozialen Bindungen und überschaubaren, subsidiären Netzwerken der Solidarität nicht als romantisches Klimbim abtun dürfen. Erst die entwurzelten, «vermassten» Menschen werden anfällig für die Verlockungen des zentralistischen Wohlfahrtsstaates, der Sicherheit verspricht, aber Freiheit nimmt.

 

Individuum und Staat

Das Verhältnis von Individuum und Staat ist ein zentraler Topos liberalen Denkens. Gesucht wird die richtige Balance zwischen der Freiheit des einzelnen und der Notwendigkeit sozialer Zusammenhänge. Manche Linksliberale und auch manche Radikalliberale machen den Fehler, ein völlig bindungsloses, pseudo-emanzipiertes Individuum als höchste Form der Freiheit zu imaginieren. Die paradoxe Folge, dass schrankenlose Freiheitsausübung nur zu leicht in neue Formen der Abhängigkeit kippt, haben sie übersehen. Hayek sprach von einem «falschen Individualismus», der die kleineren Gruppen wie die Familie oder die gewachsenen Gemeinschaften «in Atome auflösen möchte». Der «echte Individualismus» hingegen bejahe den Wert der Familie und der kleinen Gruppen, schrieb Hayek.

Die 68er-Bewegung, die bürgerliche Normen und Lebensformen ablehnte, haben einige als «Fundamentalliberalisierung» (Habermas) bezeichnet. Dabei ist im Gefolge der 68er in vielen Ländern Europas ein Wohlfahrtsstaat aufgebaut worden, der gerade der Mittelschicht finanziell die Luft zum Atmen nimmt und die Unterschichten in den Netzen einer staatlichen Sozialindus-trie gefangen hält. Die alleinerziehenden Mütter, die einem hohen Armutsrisiko ausgesetzt sind, belegen dies: An die Stelle der bürgerlichen Familie tritt Vater (Sozial-)Staat. Um diese und viele andere Sozialleistungen finanzieren zu können, erhebt der Staat so hohe Steuern und Abgaben, dass es für junge Familien zunehmend schwieriger wird, sich eine Existenz mit einem eigenen Haus und einer Absicherung fürs Alter aufzubauen. Darunter leiden nicht zuletzt die Geburtenraten.

 

Zuwanderung

Ein weiterer blinder Fleck des Linksliberalismus ist sein Demographie-Agnostizismus. Dass in den meisten westeuropäischen Staaten seit mehr als einer Generation die Geburtenraten um rund ein Drittel unter jenem Niveau liegen, das die Bevölkerung erhalten würde, interessiert die «falschen Individualisten» schlicht nicht. Darauf angesprochen, wird auf Migranten verwiesen, die die demographische Lücke doch schliessen könnten. Auch einige klassische Liberale plädieren für eine «freie Migration». Eine völlige Öffnung der Grenzen für alle Einwanderungswilligen würde aber eine Völkerwanderung bedeuten. Während Europa demographisch implodiert, explodieren die Bevölkerungszahlen Afrikas. Nach UN-Schätzung wird die Einwohnerzahl Afrikas von gut einer Milliarde bis Ende des 21. Jahrhunderts auf gut das Doppelte oder mehr steigen. Allein in Nigeria wird eine Zunahme um 740 Millionen Menschen erwartet. Etwa ein Viertel bis ein Drittel der Afrikaner in den armen Staaten würde laut Umfragen gerne nach Europa kommen. Und ein Grossteil davon wird angelockt von den staatlichen Sozialsystemen. Diese wirken wie Magnete auf mittellose Einwanderer.

Während eine nach Qualifikation gesteuerte Zuwanderung für Europa mit seinen alternden Bevölkerungen wünschenswert ist und die Wirtschaft stärkt, gibt es auch Schattenseiten, die weitgehend ausgeblendet werden. Der Entwicklungsökonom Paul Collier nennt die Einwanderung gar ein «liberales Tabuthema». Eine ungesteuerte Zuwanderung aus kulturfremden Kreisen könne den sozialen Zusammenhalt bedrohen, warnt Collier. Das wollen die tonangebenden linksliberalen Eliten nicht sehen. Das angebliche Recht auf freie Migration der jungen Afrikaner und Araber, assistiert von Schleusern, «findet seine Grenze in der beschränkten Aufnahmekapazität Europas und dem berechtigten Anliegen der Europäer, ihre Identität zu bewahren», wie es der neue NZZ-Chefredaktor Eric Gujer in seiner Antrittsrede treffend formuliert hat. Die Arroganz, mit der die linksliberalen Eliten solche Sorgen lange Zeit abgetan oder als xenophob denunziert haben, ist sagenhaft. In den französischen Banlieues oder englischen Städten mit hohem islamischem Bevölkerungsanteil sind Freiheit wie Sicherheit gleichermassen gefährdet. Ein Teil der muslimischen Jugend radikalisiert sich in bedrohlichem Tempo. Selbsternannte Scharia-Wächter übernehmen, der liberale Rechtsstaat zieht sich zurück. Emanzipierte, nichtverschleierte Frauen, Homosexuelle, als «Ungläubige» denunzierte Juden und Christen und Säkulare stehen unter Druck. Das sind die oft negierten Schattenseiten schlecht gemanagter Einwanderung, denen es sich offen zu stellen gilt.

 

Europa

Verbissen wird derweil auch die politische Einigung des Kontinents vorangetrieben. Die Eurokrise dient dabei als Katalysator einer weiteren Integration, die letztlich eine Verlagerung von Kompetenzen weg von den demokratisch konstituierten Nationalstaaten und hin zu den wenig demokratischen Brüsseler Institutionen bedeutet. Die politischen und intellektuellen Eliten Europas sind geradezu besessen von der Vision einer immer engeren Integration. Als «Finalität» (Joschka Fischer) spukt noch immer die Vision «Vereinigte Staaten von Europa» in den Köpfen vieler Linker, Christdemokraten und sogar des «liberalen» Spitzenmanns im EU-Parlament Guy Verhofstadt.

Echte Liberale sollten skeptisch bleiben, zumal ein Superstaat mit seinen Zentralisierungs-, Regulierungs- und Bürokratisierungstendenzen keineswegs mehr wirtschaftlichen Erfolg oder mehr Freiheit bedeutet. Das liberale Konzept der europäischen Einigung bestand darin, eine Integration «von unten» zu fördern. Freier Handel sowie die Freizügigkeit von Arbeitnehmern und Kapital ermöglichen immer mehr Kontakte, Verflechtung und gegenseitiges Verständnis, wobei die Vielfalt gewahrt bleibt. Die Integration «von oben» durch europäische superstaatliche Institutionen, politische Gremien, Verordnungen und Richtlinien funktioniert nach fundamental anderen Prinzipien. Wilhelm Röpke warnte vor mehr als fünfzig Jahren: «Wenn wir versuchen wollten, Europa zentralistisch zu organisieren, einer planwirtschaftlichen Bürokratie zu unterwerfen und gleichzeitig zu einem mehr oder weniger geschlossenen Block zu schmieden, so ist das nicht weniger als ein Verrat an Europa.»

 

Wie weiter?

Was ist der Kern der liberalen Philosophie? Die Verteidigung der Freiheit und Eigenverantwortung der einzelnen Bürger und des freien Unternehmertums in einer klaren Wettbewerbsordnung. Auch die sozialen und kulturellen Grundlagen einer freiheitlichen Gesellschaft zählen dazu. Die Umdeutung der liberalen Philosophie durch Linksliberale in eine staatliche Bevormundungsideologie hat viel Schaden angerichtet. «Wenn sich die Begriffe verwirren, ist die Welt in Unordnung», lautet eine alte konfuzianische Weisheit. Es wird eine intellektuelle Mammutaufgabe sein, die liberale Verwirrung zu überwinden und die Begriffe wieder zu klären.

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