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Auf dem Boden der Tatsachen

Ein Treffen mit einem Aussenminister, den kein Kollege empfängt, auf einem Flughafen, von dem kein Flugzeug startet. Die Aussenbeziehungen Arzachs sind schwierig.

Auf dem Boden der Tatsachen
Aussenminister Masis Majiljan vor dem Flughafen von Stepanakert, fotografiert von Lukas Rühli.

Die Stadt Stepanakert hat rund 55 000 Einwohner und dazu passend einen kleinen Flughafen mit einer Start- und Landebahn, 2009 bis 2011 komplett erneuert. Drei Flugzeuge können hier parallel abgefertigt werden. Es gibt nur ein winziges Problem: Hier fliegt kein Flugzeug, noch immer wartet der Flughafen Stepanakert mit dem ICAO-Code UB13 auf seinen ersten Linienflug. Was ist da los?

«Wir könnten den Flughafen in fünf Minuten in Betrieb nehmen, seid ihr bereit?», witzelt Flughafenchef Erik Ohanjan, das polternde Lachen in einen Hustenanfall übergehend. Ohanjan stammt aus Russland, ein Funktionär alter Ostschule, seit den 1970er Jahren in Stepanakert stationiert. Wir durchqueren lichtdurchflutete, aber gähnend leere Gänge und Räume des Flughafengebäudes. Zwei Passschalter, acht Trolleys, zwei Sicherheitsschleusen, eine Kabine für die Intimkontrolle. Und ein Gate mit den gleichen hässlichen Bänken wie anderswo auf der Welt. «Das ist hier alles topmodern, mit französischer Technologie. Moderner als in Jerewan!», ruft Ohanjan stolz. Er kann sich noch gut erinnern, wie hier in den 1980er Jahren täglich 10 bis 15 Flugzeuge starteten und landeten. Bis in den Frühling 1992, als der Konflikt um Bergkarabach zum offenen Krieg wurde.

So soll es wieder sein. Der Flughafen wäre tatsächlich bereit für eine sofortige Inbetriebnahme: Mit Hilfe der armenischen Diaspora wurden die Kriegsschäden beseitigt und ein neues Glasbauterminal gebaut. Die nötigen Zertifizierungen sind vorhanden, und von der Luftraumsicherung bis zur Feuerwehr sorgen hier täglich rund 50 Personen, dass alles in Schuss bleibt. Selbst als Chef Ohanjan die Tür zu einem kleinen Sanitätsräumchen öffnet, finden wir dort eine picobello adrett uniformierte Fachkraft. Es existiert auch eine staatliche Fluggesellschaft, die «Artsakh Air». Ein Passagierflugzeug besitzt diese aber nicht – «das wäre ja auch blöd, wir können doch gar nicht fliegen», kommentiert ein Ingenieur.

«Für den Tourismus, für die Businessleute, für unsere im Ausland arbeitenden Arzachis brauchen wir dringend reguläre Flüge von und nach Stepanakert.»

Wir treten kurz auf die verwaiste Asphaltpiste. Als ich wieder den gleichen Weg zurück ins Gebäude nehmen will, pfeift mich Ohanjan zurück: «Das ist doch das Abfluggate! Siehst du die Beschilderung nicht?» Wo er recht hat, hat er recht, und wir nehmen den korrekten Weg. In der Ankunftshalle verrät der Bildschirm über dem einzigen Gepäckband, woher die Flugzeuge Arzach anfliegen sollen: «Yerevan: 14:30» steht auf der elektronischen Anzeige. «Jerewan, zwei- bis dreimal täglich ­– das wäre sicherlich die Hauptdestination», bestätigt der Flughafenchef. «Dann Moskau, Kasan und andere russische Städte. Viele Karabachzis arbeiten dort.»

Meet the Foreign Minister

Während Ohanjan uns den Flughafen zeigt, geht im ersten Stock ein grossgewachsener, graumelierter Herr im Anzug, die Hände auf dem Rücken, auf und ab und schaut mit melancholischem Blick durch die Glasfront. Wir haben uns an diesem Ort zum Gespräch mit Masis Majiljan, Aussenminister der Republik Arzach, verabredet. Seine Situation als Aussenminister ähnelt der des Flughafens: Offizielle Verbindungen sind nicht möglich, und doch müssen die Kommunikations- wie die Verkehrsströme nach aussen funktionieren. Wie pflegt man Aussenbeziehungen, wenn es offiziell keine Aussenbeziehungen gibt? Darüber wollen wir heute mit dem Minister sprechen.

Der 1967 geborene Majiljan ist eine der interessantesten und am besten vernetzten politischen Figuren Arzachs. Als sich 1988 die Karabacher Unabhängigkeitsbewegung formierte, engagierte sich der damals 21jährige Student in der Jugendorganisation und wurde zu einem ihrer Anführer. Während der gewalttätigsten Zeit des Konflikts stieg er auf zum Sprecher des Informationsministeriums und 2001, mit gerade mal 34 Jahren, zum stellvertretenden Aussenminister Bergkarabachs. Als er 2007 fürs Präsidentenamt kandidierte, unterlag er jedoch dem heutigen Amtsinhaber Bako Sahakjan – und wurde anschliessend politisch kaltgestellt. Majiljan liess sich nicht beirren, begleitete das Geschehen fortan als Wissenschafter und Leiter des Think Tank «Public Council for Foreign and Security Policy» und gab mit «The Karabakh Peace Process. A View from Artsakh» ein Standardwerk zum Konflikt und seiner Lösung heraus.

Schliesslich holte Präsident Bako Sahakjan selbst Majiljan wieder aufs politisch-diplomatische Parkett zurück und machte ihn 2017 zum Aussenminister. Einige Beobachter sehen den besonnenen, konzilianten und beliebten Majiljan als aussichtsreichen Kandidaten für die 2020 anstehenden Präsidentschaftswahlen – Amtsinhaber Sahakjan darf nach zwei Legislaturen nicht mehr antreten. Majiljan hat sowohl in der Regierungsarbeit und auch in der Oppositionsrolle Erfahrungen sammeln können und geniesst Sympathien bei Arzachis aus verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Kandidiert er? Bisher hat Majiljan dazu eisern geschwiegen, und auch für den «Monat» macht er keine Ausnahme.

Also denn: Wie pflegt man Aussenbeziehungen informell, wenn es formell keine Aussenbeziehungen geben kann? Majiljan will dieses Bild nicht ganz gelten lassen: «Im Friedensprozess über die Minsk-Gruppe sind wir als Konfliktpartei anerkannt, ich selbst sass zwischen 1993 und 1997 mit am Tisch. Erst später war Aserbaidschan nicht mehr bereit, direkt mit uns zu verhandeln. Und selbst wenn sich über Minsk nicht immer viel bewegt, was unseren Anerkennungsstatus betrifft, so haben wir dadurch doch regelmässigen – und offiziellen! – Kontakt mit hochrangigen Diplomaten aus Russland, Frankreich, den USA und weiteren Staaten, was uns für andere Zwecke nützlich sein kann.»

Verlässlichster Partner ist – auch ohne offizielle Anerkennung – der Bruderstaat Armenien, der Arzach finanziell, wirtschaftlich und militärisch auf zahllose Weise unterstützt. Darüber hinaus pflege man Aussenbeziehungen mit Gebieten, in denen viele Armenier und Karabachzis lebten und die Arzach anerkennten: insgesamt neun US-Bundesstaaten, darunter Kalifornien, und der australische Bundesstaat New South Wales haben das bisher getan. Die 2000 gegründete «Gemeinschaft nichtanerkannter Staaten», in der sich exsowjetische Gebiete mit Autonomiebestrebungen austauschen, spiele dagegen keine Rolle. Da Arzach kein Interesse an einem multilateralen Format gehabt habe, sei man aus dieser Gemeinschaft bereits 2004 wieder ausgetreten, so Majiljan. Man unterhalte aber informelle Beziehungen.

Ein Recht auf Bewegungsfreiheit

Die Situation des Flughafens findet der Minister bedauerlich. «Für den Tourismus, für die Businessleute, für unsere im Ausland arbeitenden Arzachis brauchen wir dringend reguläre Flüge von und nach Stepanakert. Alle Bereiche leiden unter der unbefriedigenden Situation, auch wenn sie durch den neuen Highway nach Jerewan besser geworden ist.» Und auch wenn ein angedeutetes Grinsen immer wieder verrät, dass er sich des absurden Status des Airports mehr als bewusst ist, begrüsst er die Aufmerksamkeit, die er durch unseren Bericht erhält. «Das Recht auf Bewegungsfreiheit gehört zu den universellen Menschenrechten. Die Gewährung dieses Rechts sollte nichts damit zu tun haben, ob wir uns in einem unabhängigen, einem nichtanerkannten Staat oder sonst wo befinden.» Nicht einfacher macht die Umsetzung dieses Anliegens, dass ziviler Luftverkehr von und nach Stepanakert nach dem Waffenstillstandsabkommen von 1994 sogar erlaubt wäre. Als jedoch die Wiedereröffnung des Flughafens nahte, drohte Aserbaidschan, Flugzeuge zu «vernichten», die den aus Sicht Bakus geschlossenen Luftraum über Bergkarabach anflögen. Majiljan glaubt nicht, dass das auch tatsächlich geschehen würde. Aber Arzach habe gelernt, solche Drohungen im Zweifel lieber ernst zu nehmen. Und weil Aserbai­dschan Mitglied der Internationalen Zivilluftfahrtsorganisation ICAO ist, Arzach aber nicht, habe sich hier bisher wenig bewegt.

Für die Zukunft gibt sich Majiljan dennoch optimistisch, an Hindernisse sei man gewöhnt: «Aserbaidschan versucht seit vielen Jahren, Arzach zu isolieren. Heute haben wir ein funktionierendes, international angebundenes Bankensystem, und wir haben heute ein 3G-Mobilnetz. Wir werden auch das mit diesem Flughafen hinbekommen.» Bevor der Minister weitermuss, frage ich ihn, was er gern über Arzach lesen würde. «Da gibt es nichts, schreibt einfach, was ihr seht», ist Majiljans Botschaft an unsere Delegation. «Dass hier nicht alles perfekt ist und es über einige Dinge nichts Aussergewöhnliches zu berichten gibt, wissen wir. Vielleicht ist das meine Botschaft: Wir sind nichts Besonderes und wollen es auch nicht sein. Das hier ist nicht nur eine Geschichte über Krieg und Konflikt. Es geht um 150 000 Männer und Frauen, die sich und ihr Land unter sicheren Rahmenbedingungen entwickeln wollen. Wir leben in aussergewöhnlichen Umständen, aber unsere Ziele und Träume sind die der Menschen überall auf der Welt.»

Und der Propeller dreht sich doch!

Zwei Tage später kommen wir noch einmal an den Flughafen Stepanakert zurück. Das Seitentor zum Gelände steht offen, wir müssen ans Wachhäuschen klopfen, damit der Wachmann uns bemerkt. Vor dem Hangar stehen zwei Ultraleichtflugzeuge, an denen zwei Männer herumschrauben, einer davon ist Samwel Tawadjan. Der pensionierte Pilot der armenischen Armee startet mit seinen Propellermaschinen durchschnittlich 15- bis 20mal wöchentlich vom Flughafen Stepanakert, meist mit Werbebannern am Heck oder mit Touristen an Bord. Zwei Dollar pro Minute kostet ein Flug, neben dem Piloten hat nur eine Person Platz. Tawadjan wünscht sich einen Viersitzer, so könnte er ein besseres Geschäft machen. Im Moment hat er alle Hände voll zu tun. Zum 25-Jahr-Jubiläum des Minsker Waffenstillstandes im April gab es zahlreiche Repräsentationsflüge, in der Ecke liegt ein Transparent vom grossen Dschingalow-Hats-Festival am vergangenen Wochenende, und die ersten Gäste, die zur Fussball-Europameisterschaft der nichtanerkannten Staaten nach Arzach kommen, sind auch schon da.

Und so hebt also doch ein Flugzeug in Stepanakert ab. Ich lasse Kollege Rühli den Vortritt. Er freut sich über die offenen Flügeltüren des Flugzeugs – perfekt für die Videodokumentation –, äussert sich nach der Rückkehr allerdings leise enttäuscht über das Fehlen jeglicher Kunstflugmanöver. «Die gibt es nur bei geschlossenen Türen», erklärt Pilot Tawadjan. Für mich lautet das Motto daher: Türen zu! Tawadjan fliegt mal hoch, mal streift er fast den Boden und grinst – es hat auch Vorteile, wenn man weiss, dass man die einzige Maschine im Luftraum steuert. Eine Showrunde ums Nationalmonument Papik Tatik, dann nach Schuschi und mit einem kleinen «Taucher» in den Hunot Canyon; nach einer halben Stunde landet das Flugzeug wieder, sanft und sicher. Noch kommt es nicht aus Jerewan angeflogen und hat nur einen Passagier an Bord – aber man braucht eben etwas Geduld in Arzach.

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