… auch Liebende des frühen 20. Jahrhunderts schreiben sich noch
Was soll einer denken über diesen Briefwechsel? Nicht zu viel, wäre ein guter Ratschlag. Es führt zu nichts, wie meistens, wenn man versucht zu verstehen, was sich zwischen zwei Menschen zuträgt … «Werfen Sie Ihre Bücher & alles, was um Sie her liegt über den Haufen & kommen Sie!! Es wird nämlich entsetzlich schön werden!» […]
Was soll einer denken über diesen Briefwechsel? Nicht zu viel, wäre ein guter Ratschlag. Es führt zu nichts, wie meistens, wenn man versucht zu verstehen, was sich zwischen zwei Menschen zuträgt …
«Werfen Sie Ihre Bücher & alles, was um Sie her liegt über den Haufen & kommen Sie!! Es wird nämlich entsetzlich schön werden!» Schon einer der ersten Briefe, die Bettina Zweifel (1896–1969), die junge Geigerin von Zürich, nach Schwyz schickt, an die Adresse Meinrad Inglins, seines Zeichens Schriftsteller, zeigt, wo sie die Schwerpunkte setzt: sie will Nähe. Sie will ihn bei sich haben. Und ohne seine Bücher, die sie von allem Anfang an als das Hindernis erkennt, das zwischen ihnen steht – und zwanzig Jahre lang stehen bleiben wird. Auch neun Jahre später, am 25. Juni 1931, schreibt sie: «Du siehst nur Deine Arbeit & mir ist, Deine Bücher werden auf Kosten meines Herzwehs geschrieben.» Meinrad Inglin (1893– 1971), der das Gymnasium abgebrochen hatte, die Lehre als Uhrmacher, die Ausbildung zum Hotelier und ein Studium – Meinrad Inglin will schreiben, nichts als schreiben. Und die Liebe zu Bettina, die in der ersten Zeit liebevoll und leicht zwischen Schwyz und Zürich brieflich hin- und herversichert wird, knüpft er in der Folge mehr und mehr an Bedingungen – seine Bedingungen: die für sein Schreiben notwendige Distanz, keine Heirat (aus finanziellen Gründen) und – zum überaus grossem Schmerz und Leid für Bettina – kein Kind. Die junge, mädchenhafte und naturverbundene Geigerin wünscht sich nichts sehnlicher. «Ich bin jetzt halt einmal so!», gibt er zur Antwort, wenn sie mit ihren Gefühlen gegen seinen Verstand ankämpft. Trotzdem widerspricht sie tapfer noch und noch seinen Überzeugungen. «So? Das finde ich nicht», kontert sie dezidiert, als er meint: «Nachgeben ist das Schicksal der Frau.» Auch versucht sie ihn mehrmals und recht anschaulich auf den Unterschied zwischen Eros und Sinnlichkeit hinzuweisen und beklagt seine «Hitze». Die vielen Ungereimtheiten und Hindernisse gipfeln schliesslich in einem Brief Inglins vom Juli 1924 mit dem Satz: «Ich gebe Dich frei.»
Meinrad Inglin hat seine Briefe später zum grossen Teil vernichtet. Immerhin ist ein Gesamtkonvolut vorhanden, das 1’153 Schreiben zählt: 109 Briefe von Meinrad und 1’044 von Bettina Inglin-Zweifel. 263 Briefe sind nun zur Veröffentlichung freigegeben. Und wie immer, wenn im Persönlich-Allzupersönlichen herumgewühlt werden darf, bleibt ein Missbehagen zurück. Und wenn man Bettina Zweifels Antwortbrief auf Meinrad Inglins «Rückzug» liest – kein Brief, sondern eine Kapitulation, voll des Selbstvorwurfs und mit dem Eingeständnis der «Sünde an der Liebe», dann melden sich zum Missbehagen dazu noch andere Gefühle…
Nach 20jähriger Bekanntschaft – Meinrad Inglin hatte eben sein Opus magnum, den «Schweizerspiegel», veröffentlicht – haben die beiden 1939 geheiratet. Bettina Inglin zog nach Schwyz, unterrichtete aber weiterhin in Zürich. Im letzten im Buch enthaltenen Brief schreibt sie am 2. Januar 1945: «Hat je eine Frau ihren Mann so liebgehabt, wie ich Dich?» Was soll einer denken? Nicht zu viel, wäre ein guter Ratschlag …
vorgestellt von Silvia Hess, Ennetbaden
Marzena Gorecka (Hrsg.): «Alles in mir heisst: Du!». Zürich: Ammann, 2009