Auch Ingenieure sollten sich mit Geschichte und Ethik beschäftigen
Die universitäre Bildung wird dem Prinzip der Schweizer Demokratie nicht mehr gerecht. Denn Studierende verfügen oft nicht über die Kompetenzen, die von einem Stimmbürger erwartet werden.
Im Sommer 2023 führte ich ein Gespräch mit einem Doktoranden der Volkswirtschaftslehre von einer ausländischen Universität. Er erzählte mir, seine Arbeit bestehe darin, eine künstliche Intelligenz mit personenbezogenen Geolokalisationsdaten zu trainieren, um für seine Regierung einen Nachverfolgbarkeitsplan zu entwickeln – für den Fall, dass ein Ausnahmezustand ausgerufen würde. Ich fragte ihn, wie er an diese Daten gelangt sei. Er antwortete: «Wir konnten mit einer Telefongesellschaft verhandeln und haben ihre Kundendaten abgekauft. Es war nicht billig, aber da es für eine gute Sache ist, hat es sich gelohnt.»
Neugierig fragte ich nach, ob er mit seinem Doktorvater über die ethische Dimension des Kaufs persönlicher Daten gesprochen habe. Er verneinte. Ich fragte weiter, welche Konsequenzen es hätte, wenn die Ergebnisse seiner Arbeit missbraucht würden. Er machte eine kurze Pause, dachte nach und sagte dann: «Warum sollte die Regierung ihre Macht missbrauchen?» In diesem Moment wurde mir klar, dass er darüber noch nie nachgedacht hatte. Er war zweifellos brillant in seinem Fach und von bemerkenswerter Kreativität – doch es fehlten ihm historische Kenntnisse. Auch eine ethische Analyse wurde keine durchgeführt.
«Sie sind hier, um zu lernen, nicht um zu verstehen»
Einen fehlenden Bezug zu historischem Kontext und Ethik in der Technologieentwicklung habe ich an technischen Hochschulen in der Schweiz mehrfach beobachtet – ich selbst bin EPFL-Absolventin und Doktorandin an der ETH Zürich. Und doch bemühen sich unsere Hochschulen nach Kräften, genau dieses weit verbreitete Problem zu entschärfen. Kurse in Geistes- und Sozialwissenschaften sind obligatorisch geworden, neue Forschungszentren, die sich der Zusammenarbeit zwischen technischen Wissenschaften und öffentlicher Verwaltung widmen, werden aufgebaut. Auch der Arbeitsrahmen der Ethikkommissionen wird zunehmend geschärft, um den wachsenden Herausforderungen im Zusammenhang mit künstlicher Intelligenz gerecht zu werden.
Doch von all dem spüren die Studierenden nur wenig. Mit zwei Stunden Ethik pro Woche, unterrichtet in einem Hörsaal mit mehreren Hundert Personen, oder einer einwöchigen Workshop-Veranstaltung, die junge Wissenschafter mit politischen Entscheidungsträgern zusammenbringt, bleibt die Zeit, in der Studierende tatsächlich über den sozialen und moralischen Kontext der Wissenschaft nachdenken, weit hinter derjenigen zurück, die sie in technische Fächer investieren.
Ich sehe zwei grundlegende Probleme in unserer aktuellen Lehrmethode. Das erste Problem: Die Studierenden sind zu zahlreich – und sie fügen sich dem Gruppendruck. Das Individuum verzichtet leicht auf eigene Prinzipien, wenn die Gruppe oder eine Autorität etwas anderes nahelegt. Man passt sich dem Verhalten der Menge an – aus Bequemlichkeit oder instinktiv, denn diese archaische Anpassung erhöhte einst die Überlebenschancen.
Das Problem der Anpassung in der Anonymität der Masse ist, dass sie individuelle Verantwortung untergräbt – ja sie ist das Gegenteil davon. Ein Mensch, der sich in der Masse verstecken kann, kümmert sich weniger darum, wie sich sein Verhalten auf andere auswirkt. Ein junger Buspassagier etwa steht nicht unbedingt für eine ältere Person auf – aber sehr wahrscheinlich würde er es tun, wenn Bekannte seiner Eltern in der Nähe sässen.
Ähnlich verhält es sich in der Beziehung zwischen Studierenden und Dozierenden. Wer von Professoren und der Mehrheit der Kommilitonen nicht wahrgenommen wird, sieht kaum Motivation, sich im Unterricht zu beteiligen. Er oder sie wird kaum Fragen stellen und sich darauf beschränken, das Nötigste zu lernen, um Prüfungen zu bestehen. Auf diese Weise werden weder der kritische Geist noch der Mut, Autoritäten zu hinterfragen, trainiert.
«Ein Mensch, der sich in der Masse verstecken kann, kümmert sich weniger darum, wie sich sein Verhalten auf andere auswirkt.»
Ich befürchte, unser Bildungssystem legt zu viel Wert auf das Auswendiglernen – und zu wenig auf intuitives Verstehen und selbstständiges Denken. Das wurde mir im zweiten Jahr meines Bachelorstudiums klar, als ich eine Frage über den Ursprung eines mathematischen Beweises stellte. Der Professor antwortete vor 300 Studierenden: «Mademoiselle, Sie sind nicht hier, um zu verstehen, Sie sind hier, um zu lernen!» – ohne die Frage zu beantworten. Das trug gewiss nicht zur zukünftigen Beteiligung meiner Kommilitonen bei.
Raketen über dem Nordpol
Wie könnte man die Situation verbessern? Die naive Lösung wäre: kleinere Klassen und mehr Dozierende. Doch damit würden die Kosten explodieren. Stattdessen sollte die mündliche Teilnahme der Studierenden stärker bewertet werden – von Mensch zu Mensch, nicht über Online-Systeme. Manche Universitäten vergeben sogar Bonus-Beteiligungspunkte.Professoren sollten an den Übungsstunden teilnehmen und bewusst den persönlichen Kontakt suchen. Manche Studierende sind schüchtern, öffnen sich aber in kleiner Runde. Dozierende sollten mit Charisma und Menschlichkeit auftreten, als echte Mentoren in einer Welt, in der Technologie zunehmend unsere zwischenmenschlichen Beziehungen verdrängt. Kurz gesagt: In der Bildung sollten wir menschlich bleiben. Qualität vor Quantität.
Das zweite Problem betrifft die Häufigkeit des Unterrichts. Es ist bekannt, dass unser Langzeitgedächtnis Wiederholung braucht. Heute sind die geisteswissenschaftlichen Kurse, in denen historisch-ethischer Kontext vermittelt werden könnte, auf zwei Stunden pro Woche komprimiert. Das steht in keinem Verhältnis zu den 28 Wochenstunden in naturwissenschaftlichen Fächern. Was wir brauchen, sind Dozenten in technischen Fächern, die ihre Expertise historisch und ethisch kontextualisieren können.
Ich erinnere mich an ein Beispiel aus einem Kurs über piezoelektrische Materialien und Sensoren. Der Professor erklärte uns, dass während des Kalten Krieges die Forschung besonderes Augenmerk auf Materialien bei tiefen Temperaturen legte – weil Raketen, die mit dieser Technologie gesteuert wurden, den Nordpol überqueren mussten, um zwischen den USA und der Sowjetunion zu funktionieren. Diese Information hat mich tief beeindruckt: Wissenschaft ist konkret – untrennbar mit ihrem gesellschaftlichen Einfluss verbunden.
«Professoren sollten an den Übungsstunden teilnehmen und bewusst den persönlichen Kontakt suchen.»
Seither frage ich mich regelmässig, aus welcher historischen Epoche die Technologien stammen, denen ich in meiner Arbeit begegne, oder ob sie in einem anderen Kontext denselben Aufschwung erlebt hätten. Dieses Gedankenexperiment hilft mir enorm, den Forschungsalltag mit der Aussenwelt zu verbinden. Es gibt mir eine Vision für die Zukunft, eine Richtung – und einer Wissenschafterin muss diese Vision offenbleiben; sie muss bereit, sich zu verändern, wenn Fakten es verlangen.
Das universitäre Bildungssystem und das Prinzip der Schweizer Demokratie stimmen nicht mehr überein. Studierende verfügen vielfach nicht über die Kompetenzen, die von einem Schweizer Bürger erwartet werden. Die nächste Generation von Studierenden braucht daher mehr zwischenmenschliche Diskussionen, die ihnen helfen, kritisches Denken zu entwickeln und sich als freie, verantwortliche Individuen zu entfalten. Dazu gehören Mentoren, die das Zuhören und den Austausch von Ideen fördern. Und eine Vision, die Technik und historischen Kontext mit konkreten Beispielen verbindet.