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(6) Attraktivität nicht ohne Anstrengungen

Unter dem Druck der Globalisierung wird Europa gezwungen sein, sich von überholten etatistischen, interventionistischen und zentralistischen Modellen zu lösen. Die Politik wird jenen Prozess nachvollziehen müssen, den erfolgreiche Unternehmen bereits vorgezeichnet haben.

Wer sich über die Gegenwart und Zukunft Europas Gedanken macht, muss die Geschichte ernst nehmen. Die überragenden kulturellen Leistungen und der während langer Zeit von Europa getragene technische Fortschritt im Rahmen der Industrialisierung wurden fast ohne Unterbruch von einer ausserordentlichen Gewalttätigkeit begleitet. Die zwei letzten grossen, blutigen Auseinandersetzungen auf dem alten Kontinent, der Erste und der Zweite Weltkrieg, konnten nur durch die Intervention der Amerikaner beendet werden, und ohne die USA wäre wohl auch die letzte grosse Diktatur auf dem alten Kontinent, die Sowjetunion und der von ihr beherrschte Warschauer Pakt, nicht vor der Jahrtausendwende zusammengebrochen.

Drei Erfahrungen haben die Europäer nachhaltig geprägt: erstens die inhärente Tendenz zur Gewalttätigkeit, zweitens die Gefahr des Abgleitens in autoritäre Regierungsformen und drittens die Unfähigkeit, die Wende zum Besseren aus eigener Kraft zu schaffen. Diese Erfahrungen sind der Ursprung des Wunsches nach einer übergeordneten Organisation, die Macht und Mittel besitzt, zu verhindern, dass es zu Rückfällen kommt. Das gegenseitige Misstrauen unter den einzelnen Nationen sitzt verständlicherweise tief, ja, die konkurrierenden Nationalstaaten werden sogar immer wieder als das (zu eliminierende) europäische Hauptproblem angesehen.

Ebenfalls in den geschichtlichen Kontext Europas gehört die Abwendung des alten Kontinents vom Religiösen – dies im klaren Gegensatz etwa zu den USA. Die Beliebtheit der marxistischen und sozialistischen Ideologie, ihre praktischen Anwendungen im Sowjetkommunismus und im Nationalsozialismus, vor allem dann aber deren doch erstaunlich hohe Akzeptanz in breiten Bevölkerungsschichten und besonders auch bei den Intellektuellen Europas lassen sich kaum anders erklären als durch das Bestreben, ein diesseitiges Paradies zu schaffen. An die Stelle der göttlichen Autorität trat eine weltliche, staatliche Ersatzreligion.

Das Quasiparadies des Wohlfahrtsstaats hatte und hat durchaus seine Attraktivität und davon lebt auch seine «Priesterschaft» und das «gläubige Kirchenvolk». Nur zeichnet sich eben schon seit länger Zeit ab, dass es sich nicht selbst tragen kann, sondern aufgrund seiner Tautologien und Reibungsverluste in sich zusammenfallen muss. So lange den wichtigsten europäischen Volkswirtschaften von aussen her kein ernstzunehmender Konkurrenzdruck erwuchs, und das war bis zum Fall der Berliner Mauer mehr oder weniger der Fall, so lange konnte der Wohlfahrtsstaat durch Exporterfolge noch schlecht und recht alimentiert werden. Die Zeiten sind nun aber seit etwa zehn Jahren vorbei, und die Anzeichen für einen kritischen Zustand der Selbstzerstörung mehren sich.

Der Glaube an den Wohlfahrtsstaat und die immer heftiger spürbare Hinwendung der Politik und der Intelligenz zum europäischen Einheitsstaat müssen in einer Linie gesehen werden. Je wackliger das Fundament wird und je mehr sich vieles als Irrglaube erweist, desto mehr wird das Heil im «Zusammenschluss», im «Binnenmarkt», in der «Einheitswährung», im «Europäischen Sozialmodell» und in allen möglichen und unmöglichen Harmonisierungsbemühungen gesehen. Der Glaube an «Brüssel» rückt in den letzten Jahren an die Stelle des Machbarkeitsglaubens auf nationaler Ebene vor.

Die blutigen Erfahrungen aus Europas Geschichte verbieten es selbstverständlich, den Prozess der europäischen Vereinigung lächerlich zu machen. Aber die unselige Verquickung der Idee eines friedlichen europäischen Zusammenlebens mit dem Glauben an den Vorsorgestaat und die Erhebung dieser Verquickung zu einem höheren Prinzip verlangt doch dringend nach einer adäquaten Analyse und Demaskierung. So war Churchills Aufruf «Let Europe arise!» von 1946 mit Sicherheit nicht gemeint gewesen. Dass das so konstruierte Europa nun in einer Sackgasse steckt, haben die Franzosen und Holländer im Sommer 2005 mit ihrem Nein zur Verfassung auch für die Weltöffentlichkeit manifest werden lassen.

Wenn man sich die sozialpolitisch/fiskalische Disharmonie zwischen den einzelnen EU-Ländern vor Augen führt und gleichzeitig bedenkt, zu welchen Schwierigkeiten nur schon der sogenannte «Briten-Rabatt» (die Nichtteilnahme Grossbritanniens an den Agrartransfers innerhalb der EU) geführt hat, dann lässt sich schwerlich vorstellen, dass sich die EU und ihre Mitgliedsländer noch lange auf dem bisherigen Pfad fortbewegen können. Weshalb? Weil es sich bei Sanierungen oder Teilsanierungen der Vorsorgewerke um ganz andere Beträge handelt als bei den Agrarsubventionen. Falls sie sozusagen «komptant» geleistet werden sollten, würde die Steuerlast zusätzlich in die Höhe schnellen. Damit würde die Konkurrenzfähigkeit Europas gegenüber den weitgehend unbelasteten Mitbewerbern aus Asien noch mehr eingeschränkt.

Falls aber – und dies ist zugegebenermassen die bislang bevorzugte, weil politisch attraktivere Variante – die Finanzierungslücke durch weitere Wechsel auf die Zukunft «geschlossen» werden sollte, wird dies weiterhin und in verstärktem Masse auf die Befindlichkeit der Bürger drücken. Das anämische Wirtschaftswachstum kommt ja nicht von ungefähr. Wer ahnt, dass irgendwann einmal, aber unausweichlich, schwere Lasten finanziert werden müssen, der verspürt vergleichsweise wenig Lust zu einer Sonderanstrengung. Wer denn sonst als jene, die verdienen oder die verdient haben (also «die Reichen»), käme für eine solche Finanzierung in Frage? Von gewerkschaftlicher Seite wird immer wieder vorgebracht, es brauche «nur» zwei, drei Prozente mehr Wachstum und ein um noch ein paar Prozentpunkte höheres Produktivitätswachstum, dann sei die Sache wieder im Lot. Als könnte das Wachstum und als könnten Produktivitätssteigerungen einfach so mir nichts, dir nichts herbeigezaubert werden. So lange die Wahrscheinlichkeit überwiegt, dereinst einmal um die Früchte seiner Anstrengungen gebracht zu werden, werden sich nur Hyperaktive und Dumme anstrengen.

Ehrlicherweise bleibt eigentlich nur eine Lösung: ein Schnitt, bei dem man zugibt, dass das System pleite ist (was eigentlich alle schon ahnen), die Beendigung der Unsicherheit, wer diese Pleite zu bezahlen hat und das Schaffen einer Gewissheit, dass die Lasten in Zukunft nicht wieder grösser werden, sondern kleiner. Das wäre das Programm, das Europa zu neuem Wachstum verhelfen würde. Durch die Krise innerhalb der EU und die absehbaren politischen Umwälzungen in Deutschland kommen wir dem Punkt näher, an dem sich die Dinge entscheiden. Ob die Sanierung auf der Ebene der EU oder doch eher wieder im nationalstaatlichen Bereich stattfinden wird, ist noch völlig offen.

Drei kritische Bereiche sind zu überwinden, wenn es zu einer Gesundung Europas kommen soll. Erstens gilt es die Pleite des Wohlfahrtsstaats zur Kenntnis zu nehmen und konstruktiv drauf zu reagieren. Es gilt Abschied zu nehmen von jenem Anspruchsdenken an das Kollektiv, das zur vertrauten Gewohnheit geworden ist. Im Arsenal der Politikwissenschaft und der Sozialökonomie gäbe es an sich genügend Konzepte, die auch und gerade die sozial Schwächsten besser berücksichtigen als der allgemeine Vorsorgestaat. Reformen haben zu Recht nur eine Chance, wenn sie auch sozialethisch fundiert sind.

Die zweite grosse Herausforderung wird darin bestehen, das Verhältnis des Bürgers zu seinem Gemeinwesen – sei es nun der Nationalstaat als Mitglied einer EU-Freihandelsorganisation, sei es eine bedeutend weiter integrierte Union – besser zu regeln. Die Begrenzung der staatlichen Macht muss verbindlich und abschliessend in einem Dokument verankert sein. Nicht umsonst war die Verfassung der Vereinigten Staaten ein bis heute beeindruckender Erfolg. Sie schützte und schützt immer noch in erster Linie die Bürger vor dem Kollektiv. In Europa fehlt ein solches Dokument, zumal die Verfassungen der einzelnen EU-Mitgliedsländer, in denen die Grundrechtskataloge figurieren, durch Erlasse der EU immer mehr relativiert worden sind.

Der dritte Knackpunkt wird der Umgang mit den realen Unterschiedlichkeiten sein, die diesen Kontinent seit je prägen. «Friedliches Zusammenleben» von Völkern darf und kann vermutlich nie das Resultat einer «Gleichschaltung» sein. Obschon in der EU nominell das Prinzip der Subsidiarität gilt, gingen allzu viele Entwicklungen in Richtung einer Vereinheitlichung – bis hin zur inzwischen berühmt gewordenen Krümmung der Feldfrucht, die nur dann Essiggurke heissen darf, wenn sie den von Brüssel erlassenen Normen entspricht. Europa ist von seiner Geographie, seiner Geschichte, von der herkunftsmässigen Zusammensetzung seiner Bevölkerung, und aufgrund der Verschiedenheit in mentaler, religiöser und sprachlicher Hinsicht bei weitem zu divergent, als dass es eine künstlich aufgesetzte Vereinheitlichung verkraften könnte. Der europäische Flächenstaat ist ein Konzept, das im krassen Widerspruch zur europäischen Geschichte steht. Die weitere Zentralisierung sollte daher durch eine Föderalisierung abgelöst werden, bei der die Zentrale Macht an die Glieder zurückgibt. Mit anderen Worten: es gibt nicht nur im individuellen, sondern auch im Bereich der Beziehungen des Ganzen zu den Teilen einen dringenden Bedarf zur verfassungsrechtlichen Klärung und Verankerung. Inwieweit die Einheitswährung Euro mit einer solchen (aus meiner Sicht unausweichlichen) Dezentralisierung kompatibel sein wird, ist schwer zu beurteilen. Die diesbezüglichen Meinungen gehen denn auch stark auseinander.

Die Sanierung in den drei erwähnten kritischen Bereichen kann nicht von heute auf morgen erfolgen. Der Gesundungsprozess ist kein Sonntagsspaziergang. Trotzdem stehen die Chancen für kleinere, bescheidenere, finanziell günstigere dezentralere Lösungen nicht so schlecht. Der Druck von aussen, die rasant fortschreitende Globalisierung, lassen es nicht zu, weiterhin auf ineffiziente, teure, megalomane Konstrukte zu setzen. Insofern ist ein gewisses Mass an Zuversicht für den Alten Kontinent nicht abwegig. Möglicherweise wird man das mehr oder weniger Richtige tun, nicht weil man will, sondern weil man muss.

Zwar leidet die Binnenwirtschaft von Kerneuropa unter der beschriebenen Hoffnungslosigkeit und der vom Vorsorgestaat begünstigten Apathie. Die hohe Sparquote, (die noch deutlich höher ausfallen würde, wenn man den in der Grauwirtschaft erzielten Verdienst dazuzählen würde…) erklärt sich aus den immanenten Befürchtungen über die Zukunft. Entsprechend verhalten ist schon seit Jahren die Konsumfreude der Europäer. Sinkende Immobilienpreise weisen in einzelnen Grossstädten Europas auf eine gefährlich deflationäre Entwicklung hin. Verwahrlosungserscheinungen in vordem noch intakten Quartieren sind wegen der zum Teil miserablen Finanzlage der Kommunen keine Seltenheit. Höchst unklug wäre es auch, die Augen vor den Ängsten vieler Kerneuropäer um ihren Arbeitsplatz und um die Höhe ihres Lohnes zu verschliessen. Soweit sie nicht ohnehin schon arbeitslos sind, stehen die Lohnbezüger unter einem hohen psychischen und vermutlich auch faktischen Druck. Ähnliches dürfte auch für die gewerblichen Betriebe zutreffen.

Aber es gibt auch Anzeichen, die nicht in dieses düstere Bild passen. Corporate Europe macht auf den Weltmärkten durchaus stattliche Gewinne. Die Logik der Märkte folgt anderen Gesetzen als denjenigen der Politik. Wenn es politisch am dunkelsten zu sein scheint, beginnen die Erwartungen der Märkte schon, die möglicherweise bessere Zukunft vorwegzunehmen. Typischerweise sind politisch bedingte Strukturkrisen von tiefen Bewertungen der ansässigen Unternehmungen begleitet. So betrug das durchschnittliche Kurs-/Gewinnverhältnis in den USA zu Beginn der Reagan-Ära ganze 9, um dann relativ kontinuierlich auf über 31 (im Jahr 2000) zu steigen. Ein steigendes Kurs-/Gewinnverhältnis bedeutet, dass sich mehr und mehr Marktteilnehmer sozusagen in den betreffenden Teil der Welt «verlieben». Der Prozess kann ziemlich lange dauern. In den USA folgte erst nach rund 10 Jahren deutlicher Kursanstiege ausländisches Kapital den zuvor durch Amerikaner getätigten Aktienkäufen nach, um im Jahr 2001 zu kulminieren.

In Europa beträgt das durchschnittliche Kurs-/Gewinnverhältnis zurzeit 15 (USA: 20). Europa ist billig zu haben, die Mehrheit der Unternehmungen arbeitet dank konsequenten Auslagerungsstrategien recht profitabel. Wenn nicht eine ideologisch induzierte Katastrophe passiert wie Verstaatlichungen oder Konfiszierungen gegen die «Heuschrecken», dann dürfte die Rechnung für den Anleger aufgehen. Und Europa wird ökonomisch wie auch politisch attraktiver werden – nicht weil eine Politikerin oder ein Politiker das ausdrücklich gewollt haben wird, sondern weil Europa schlicht und einfach muss.

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