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Atomwaffen zwingen zu Besonnenheit

Im Ukrainekrieg setzt der Westen Wirtschaftssanktionen durch und ignoriert Einflusssphären. Das Eskalationspotenzial dieser Politik wird unterschätzt: Es reicht bis hin zu einem Atomkrieg.

Atomwaffen zwingen zu Besonnenheit
Eine amerikanische Pershing-Rakete I wird im November 1964 bei Heilbronn gefechtsbereit gemacht. In den Achtzigerjahren folgt in Deutschland die Stationierung der Raketen vom Typ Pershing II. Bild: Keystone/DPA/Egon Steiger.

Mehr als 30 Jahre lang – nach dem Untergang der Sowjetunion und des Warschauer Paktes – glaubten wir Europäer vergessen zu dürfen, dass wir im Atomzeitalter leben. Seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine sollten wir wieder daran denken. Denn der Krieg zwischen nuklear hochgerüsteten Grossmächten unterscheidet sich grundsätzlich von Kriegen vor Erfindung von Nuklearwaffen und Interkontinentalraketen. Früher konnte man sich vorstellen, dass eine Seite den Krieg ­gewinnt und nach dem Sieg Kriegsziele durchsetzen kann. Allzu oft hatten sogar beide Seiten diese Hoffnung. Im Atomzeitalter ist beim nuklearen Schlagabtausch zwischen den beiden führenden Nuklearmächten – das sind immer noch die USA und Russland – das plausibelste ­Resultat die gegenseitige Vernichtung beider Mächte und darüber hinaus grosser Teile der Menschheit, bestimmt einschliesslich Europas.

Eskalationsleitern und Einflusssphären

Zwar ist in amerikanischen Fachzeitschriften vor fast 20 Jahren mal die Frage gestellt worden, ob die Russen wirklich noch über eine Zweitschlagskapazität verfügten, die als Voraussetzung für eine stabile Abschreckung gilt. Aber schon der Versuch, das herauszufinden, könnte zur Vernichtung eines grossen Teils der Menschheit führen. Also kann kein vernünftiger Mensch den nuklearen Schlagabtausch zwischen den beiden grossen Atommächten wollen. Daraus folgt, dass bei allen Unterschieden in der Beurteilung des Geschehens in der Ukraine das gemeinsame Interesse an der Vermeidung der Eskalation im Vordergrund stehen sollte.

Dabei ist es nützlich, sich eine Eskalationsleiter vorzustellen, die von blossen Meinungsverschiedenheiten etwa über die Souveränität der Ukraine bis hin zum nuklearen Schlagabtausch reicht. Herman Kahn hatte vor über 50 Jahren eine Leiter mit mehr als 40 Stufen dargestellt. ­Allerdings kann man nicht wissen, ob in den Köpfen der Gegenseite dieselbe Leitervorstellung herrscht wie im ­eigenen Kopf, wie weit die Abstände zwischen welchen Stufen sind beziehungsweise wo das Eskalationsrisiko wie stark steigt. Es ist zu befürchten, dass in verschiedenen Köpfen unterschiedliche Eskalationsvorstellungen bedacht werden und es deshalb zu Missverständnissen und beiderseitig unerwünschter Eskalation kommen kann.

Aus der Erfahrung des Kalten Krieges, den wir ja überlebt haben, kann man Hinweise entnehmen, welche Schwellen beide Seiten im gemeinsamen Interesse nicht überschreiten wollten und auch nicht überschritten haben. Beide Seiten, damals Amerikaner und Sowjets, wussten, dass jenseits des Einsatzes auch nur einer einzigen Atomwaffe die Eskalationsgefahr sehr hoch ist. Sie wussten auch, dass bei einer direkten Konfrontation amerikanischer und sowjetischer Truppen die Eskalationsgefahr stark steigt. Und jetzt kommt der kontroverse Punkt: Beide Seiten respektierten die Einflusssphäre der anderen Seite. Die Einflusssphären wurden durch Bündnisse markiert und durch Truppenstationierungen auch in der Nähe des Eisernen Vorhangs untermauert. Dass die so­wjetische ­Dominanz im Warschauer Pakt einen anderen Charakter hatte als die amerikanische in der Nato, dass deshalb der amerikanisch geführte Block auch mal als «Empire by Invitation» bezeichnet worden ist, kann unter dem Gesichtspunkt der Eskalationsvermeidung vernachlässigt werden. Dafür ist allein die gegenseitige Respektierung von Einflusssphären entscheidend. 1956 wurde das in Ungarn, 1968 in der Tschechoslowakei bestätigt.

Eskalationstheoretisch betrachtet besteht der Kern des Ukraineproblems genau darin, dass der Westen Russland keine Einflusssphäre zugesteht. Diese Position passt gut zum Völkerrecht, das den Begriff der Einflusssphäre und damit verbundener massiver Souveränitätsbeschränkungen nicht kennt. Aus russischer Sicht – ich befürchte, damit steht Putin in Moskau bei weitem nicht allein – läuft diese Position darauf hinaus, die ganze Welt als westliche oder amerikanische Einflusssphäre zu beanspruchen. Der russische Anspruch auf eine eigene Einflusssphäre wurde 2008 in Georgien, 2014 auf der Krim und im Donbass schon mal erhoben und jetzt in der Ukraine mit militärischem Nachdruck.

Im Kalten Krieg gab es nur eine Situation, die ähnlich gefährlich war wie die heutige, nämlich die Kubakrise 1962. Für die Amerikaner war die Zugehörigkeit Kubas zu ihrer eigenen Einflusssphäre eine Selbstverständlichkeit. Mit der Monroe-Doktrin wurde dieser Anspruch schon im 19. Jahrhundert erhoben, bevor die USA eine Grossmacht waren. Mit der dauerhaften Stationierung sowjetischer, atomar bestückter Mittelstreckenraketen auf Kuba hätte sich ausserdem die Warnzeit im Falle eines Angriffs für die USA wesentlich verkürzt. Fachleute halten diese Krise für den Zeitpunkt, an dem die Menschheit dem nuklearen Inferno am nächsten war. Den entscheidenden Politikern in Moskau und Washington war die Gefahr bewusst, und sie fanden einen Kompromiss.

Die USA haben den Einsatz von amerikanischen oder Nato-Truppen auf dem Gebiet der Ukraine oder eine Flugverbotszone ausgeschlossen und zeigen damit ansatzweise etwas Respekt vor dem russischen Anspruch auf eine eigene Einflusssphäre. Weil der Westen allerdings Waffen in die Ukraine liefert, die russische Panzer und Militärflugzeuge abschiessen können, ist unklar, in welchem Ausmass der Westen den russischen Anspruch respektiert. Das kann keine zuverlässige Eskalationsschranke sein. Weil man in Washington das nuklearstrategische Denken im Gegensatz zu Europa und vor allem Deutschland nie aufgegeben hat, besteht immerhin die Hoffnung, dass das mit Waffenlieferungen verbundene Risiko dort zumindest unter kritischer Dauerbeobachtung steht.

Nicht durchdachter Wirtschaftskrieg

Während das mit Waffen und Militäreinsätzen verbundene Eskalationsrisiko einigermassen durchdacht worden ist, wie eine umfangreiche Literatur ­dokumentiert, scheint das beim Eskalationspotenzial von Wirtschaftssanktionen nicht der Fall zu sein – obwohl amerikanische Sanktionen doch unbedingt zur Vorgeschichte des japanischen Überfalls auf Pearl Harbor und damit des asiatischen Teils des Zweiten Weltkriegs gehören. In Studien zu Wirtschaftssanktionen geht es entweder um deren meist bescheidene politische Erfolge oder um ihre Auswirkungen auf Volkswirtschaften.

Die Sanktionen gegen Russland sind in Absicht und Ausmass sehr einschneidend. Der russischen Zentralbank ist die Verfügung über grosse Teile der eigenen Devisenreserven genommen worden. Wichtige russische Banken sind vom Zahlungsmeldesystem Swift und damit vom globalen Zahlungsverkehr ausgeschlossen worden. Ein Verzicht auf Importe von Öl und Gas aus Russland ist im Westen sukzessiv durchgesetzt worden. Das sollte dazu Anlass geben, darüber nachzudenken, was passiert, wenn die russische Wirtschaft sich dem Zusammenbruch nähern sollte.

Was vor dem Atomzeitalter vielleicht ein Traumergebnis von Sanktionen gewesen wäre, könnte im Atomzeitalter ein Albtraum werden. Wer einen nuklear hochgerüsteten Gegner zur Verzweiflung bringt, sollte das Risiko von Verzweiflungstaten, wie dem Einsatz vielleicht zunächst taktischer Atomwaffen, zumindest bedenken. Es ist schon merkwürdig, Putin gleichzeitig zu verteufeln, ihm aber die Teufelei eines nuklearen Ersteinsatzes nicht zuzutrauen. Wegen der schwachen Wirksamkeit der Wirtschafts­sanktionen muss sich der Westen darum jedoch kaum ­Sorgen machen. Aus eskalationstheoretischer Perspektive ist es deshalb schon fast beruhigend, dass die russische Volkswirtschaft dank hoher Ölpreise, asiatischer Handelspartner und einer gesunden Leistungsbilanz dem Zusammenbruch fern ist und damit keinen Anlass zu nuklearen Verzweiflungstaten bietet.

«Aus eskalationstheoretischer ­Perspektive ist es schon fast beruhigend, dass die russische Volkswirtschaft dem Zusammenbruch fern ist.»

Weil es im Krieg in der Ukraine letztlich um die Existenz einer russischen Einflusssphäre geht, sind die eigentlichen Kontrahenten Russland einerseits und die USA beziehungsweise der Westen andererseits. Weil die Ukraine aus der russischen Einflusssphäre in die westliche Welt wechseln will, ist sie der Kriegsschauplatz geworden. Für den Westen ist es naheliegend zu versuchen, den Konflikt vom militärischen auf das ökonomische Gleis auszuweiten. Vergleicht man Russland und die USA, kommt Russland noch nicht mal auf ein Zehntel der Wirtschaftskraft. Vergleicht man Russland mit der Nato, ist es knapp ein Zwanzigstel. Obwohl auch manche westliche Länder wie Deutschland darunter leiden, hat Russland schon aufgrund der wirtschaftlichen Machtverhältnisse keine Chance, den Wirtschaftskrieg zu gewinnen.

Bricht weder die russische Front noch die russische Wirtschaft zusammen, könnte der Wirtschaftskrieg zwischen Russland und dem Westen lange dauern. Je länger sich der ukrainische Widerstand hält, je schärfer die westlichen Sanktionen Russlands ökonomische Basis bedrohen, desto näher liegt es für Russland, seine Rohstoff­exporte immer mehr nach Asien und vor allem nach China auszurichten. Bei einem wirtschaftlichen und demografischen Kräfteverhältnis in der Nähe von 10 zu 1 zugunsten Chinas droht Russland auf lange Sicht zum Juniorpartner Chinas zu werden. Noch garantiert die nukleare Stärke Russlands, das Erbe der Sowjetunion und des Kalten Krieges, dass Russland ein gleichberechtigter Partner Chinas ist. Wenn aber China seine nukleare Rüstung auf amerikanisches und russisches Niveau angehoben hat, wird sich die zunehmende Abhängigkeit der russischen von der chinesischen Wirtschaft auswirken.

Kampf gegen die «Expansion des Westens»

Der heldenhafte Widerstand der Ukrainer gegen die russischen Invasoren lässt keinen Zweifel, dass die Ukrainer nicht von Moskau regiert werden wollen. Das Ausmass der westlichen Unterstützung für die Ukrainer durch immer hochwertigere Waffensysteme und immer mehr finanzielle Hilfe läuft auf ein De-facto-Bündnis zwischen dem Westen und der Ukraine hinaus. Russland muss damit rechnen, dass die Ukraine – unabhängig vom Grenzverlauf zwischen der Ukraine und Russland – nach Kriegsende Mitglied der EU und der Nato wird. Daher glauben, so ­unglaublich es sich für uns Menschen im Westen anhört, Putin und viele Russen vermutlich tatsächlich, in der ­Ukraine einen Verteidigungskrieg gegen die Expansion des Westens zu führen.

Mit der Annexion von vier Bezirken in der Ostukraine, die bisher noch nicht mal vollständig besetzt sind, hat Russland so etwas wie Voraussetzungen für einen ­Waffenstillstand oder ein Kriegsende markiert. Für die ­Ukraine sind diese russischen Bedingungen völlig inakzeptabel, solange sie nicht den Zusammenbruch der ­eigenen Front befürchten muss. Falls ihr irgendwann die Rückeroberung des Zugangs zum Asowschen Meer und damit die Unterbrechung der gegenwärtig russisch kontrollierten Landbrücke zur Krim gelingt, hiesse dies, dass sich eine russische Niederlage im konventionellen Krieg abzeichnet. Dann würde sich in Moskau die Frage des Einsatzes von Nuklearwaffen stellen, um zu retten, was noch zu retten ist.

Der Westen hat in einem solchen Fall die Wahl, ent­weder die Unterstützung der Ukraine zu reduzieren und damit die Ukraine zu einem verlustreichen Waffenstillstand oder einem in Kapitulation übergehenden Frieden zu bewegen oder ein wesentlich gesteigertes Risiko eines Atomkrieges zumindest in Europa zu akzeptieren. Je länger der Krieg dauert, je mehr der Westen in die Unterstützung der Ukraine investiert hat, desto grösser wird die Gefahr, dass der Eskalationsprozess im Atomkrieg endet. Jeder ­ukrainische Sieg im konventionellen Krieg erhöht die ­Gefahr, dass Moskau Nuklearwaffen einsetzt, und jeder russische Sieg verringert sie.

Der lachende Dritte ist China

Falls diese Analyse richtig ist, dann ist das Ausmass der ­gegenwärtigen westlichen Unterstützung für die Ukraine unklug und gefährlich, weil es Putins Option des Einsatzes von Atomwaffen verdrängt und von einem Sieg der ­Ukraine träumt. Ausserdem kann man bezweifeln, ob es im westlichen oder auch nur im amerikanischen Interesse ­gewesen ist, durch Unterstützung der Ukraine und den Wirtschaftskrieg Russland in ein Bündnis mit China und auf Dauer in eine chinesische Einflusssphäre zu zwingen. Allgemein gilt die geopolitische Regel, dass man Bündnisse rivalisierender Grossmächte und potentieller Gegner verhindern sollte. Unabhängig vom Schicksal und den Grenzen der Ukraine ist nicht klar, welche Vorteile die USA oder der Westen davon haben werden, dass sich die chinesische Einflusszone künftig bis an die Ostsee, bis Königsberg und Petersburg, erstrecken wird.

Zweifel am Sinn der westlichen Ukrainepolitik implizieren jedoch nicht, dass Putin mit der Invasion der ­Ukraine russische Sicherheitsinteressen klug vertreten hat. Das gilt unabhängig vom weiteren Verlauf des Krieges. Russland wird die Annexion ukrainischer Gebiete – egal, ob der Versuch gelingt oder misslingt – mit dem schleichenden Verlust seiner Unabhängigkeit bezahlen. Je ­ferner die Option einer künftigen Annäherung Russlands an den Westen, desto abhängiger wird Russland vom grossen ­Bruder China werden. Es kann nicht das Ziel Putins oder russischer Patrioten gewesen sein, das unbeteiligte China zum lachenden Dritten des Krieges in der Ukraine zu ­machen. Für China reicht es, den rivalisierenden Grossmächten die Initiative und die Fehler zu überlassen.

Erich Weede, zvg.

«Für China reicht es, im Ukrainekrieg den rivalisierenden Gross­mächten die Initiative und die Fehler zu überlassen.»

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