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Atlas der politischen Landschaften

Ein weltanschauliches Porträt der Schweiz

Angesichts des gegenwärtigen Parteiengezänks ist es besonders angebracht, etwas fundierter über aktuelle soziale Konflikte und die ihnen zugrundeliegenden Weltanschauungen nachzudenken. Zwei junge Geographen an der Universität Zürich, Michael Hermann und Heinrich Leuthold, haben sich dieser Aufgabe gestellt. Mit einer induktiv-hermeneutischen Methode versuchen sie aus dem Abstimmungsverhalten der letzten zwanzig Jahre soziale Spannungen, Konflikte und gegensätzliche Werteorientierungen aufzuspüren und Erkenntnisse über den politisch-sozialen Wandel in der Schweiz zu gewinnen. Im Unterschied zu Wahlanalysen und Meinungsumfragen, wie sie in parlamentarisch-demokratisch verfassten Staaten geläufig sind, ermöglicht die Auswertung von Volksabstimmungen vielfach präzisere Aussagen über soziale Befindlichkeiten und Spannungen. Allerdings werden dabei lediglich die politisch Aktiven berücksichtigt, deren Zahl sich in der Schweiz durchschnittlich um die 40 Prozent bewegt. Gemäss einer quantitativ-qualitativen Analyse der Volksabstimmungen in den 2900 Schweizer Gemeinden setzen sich die Weltanschauungskonflikte im wesentlichen aus drei Komponenten zusammen: «links» gegen «rechts», «liberal» gegen «konservativ» und «ökologisch» gegen «technokratisch». So gesehen können soziale Konflikte in einem dreidimensionalen Raum festgelegt und in ihren Entwicklungen gezeigt werden.

Ein solches weltanschauliches Porträt der Schweiz präsentieren die beiden Geographen in ihrem jüngst erschienenen «Atlas der politischen Landschaften». Geboten wird ein sprachlich und graphisch sorgfältig konzipiertes Buch, ein eigentliches Bilderbuch mit erläuternden Texten, das zugleich Intellekt und Sinne anspricht. In kartographischer Darstellung werden die politischen Mentalitäten nach Kantonen und Gemeinden aufgeschlüsselt, wobei die Verteilung der Bevölkerung im Raum der Weltanschauungen gebirgsartig dargestellt wird. Dadurch entsteht eine Modellierung der politischen Landschaft der Schweiz, die das Ganze (für Kartenkundige) besonders lesbar macht. Mit diesem Atlas eröffnen die beiden Autoren ein neues, originelles Kapitel in der schweizerischen Kartographie.

Inhaltlich erfährt man allerdings wenig Neues. Man sieht bestätigt, dass die grossen Schweizer Städte mehrheitlich «linksliberal» stimmen, dass die Deutschschweizer Kantone eher im rechten Spektrum angesiedelt sind, dass die Romands und die Tessiner eher links stimmen, dass beispielsweise die Gemeinde Unteriberg im Kanton Schwyz den äussersten rechts-konservativen Pol bildet bzw. Zumikon im Kanton Zürich den äussersten rechts-liberalen. Aufschlussreicher ist die Feststellung, dass die Deutschschweizer Kantone unter Führung der Städte Zürich, Basel, Bern gegenüber ökologischen Themen offener sind als beispielsweise der Kanton Jura oder das ausgesprochen «technokratisch» gesinnte Unterwallis.

Viele dieser Feststellungen scheinen vertraut und gerade deswegen regen sich Zweifel. Die Auswertung der Abstimmungen und deren Interpretation sind zwei verschiedene Vorgänge, und bei dieser treten die politisch-ideologischen Präferenzen der beiden Autoren teilweise deutlich zutage. Besonders bedenklich ist die Definition von «links» als «sozial», der folgerichtig eine «asoziale» «rechte» Haltung gegenübergestellt wird. Ebenso fragwürdig ist die Gegenüberstellung von «liberal» und «konservativ». Liberal wird als weltoffen-modernistisch bezeichnet, wozu die Vorlagen zur Aussenpolitik, zu Ausländerfragen, zur neuen Bundesverfassung, zur Einführung der Mehrwertsteuer oder zur Parlaments- und Regierungsreform gezählt werden. Als «konservativ» gelten diejenigen, die sich aus Motiven der Abgrenzung und Bewahrung für ein «Nein» ausgesprochen haben. Bei solchen Typisierungen ist viel Ideologie im Spiel. Es stellt sich die Frage, ob sich der Atlas nicht auf ein überholtes Begriffsvokabular der Alt-68er-Generation stützt. Aus liberaler und auch aus konservativer Perspektive wäre es weitaus ergiebiger, mit den Gegensatzpaaren von links/rechts und etatistisch/antietatistisch zu arbeiten. Abstimmungsvorlagen, die zu mehr Staat, zu mehr Regulierung, Zentralisierung und Umverteilung führen würden, liessen sich damit zeitgemässer erfassen und den jeweiligen Flügeln auf linker und auf rechter Seite zuordnen. Auf diese Weise würde auch die Bewältigung ökologischer Probleme besser fassbar, nämlich entweder als staatlich verordnet oder als auf Selbstverantwortung und -initiative beruhend.

Mit einer revidierten Begrifflichkeit würde sich der vorliegende Atlas der politischen Landschaften allerdings grundlegend anders präsentieren und dem bisherigen medial-gouvernementalen und teilweise auch universitären Mainstream entgegenlaufen. Ein spannendes Unterfangen wäre es auf jeden Fall.

Der promovierte Historiker Bernhard Ruetz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Liberalen Institut in Zürich.

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