Asymmetrie der Information
Der Staat weiss zunehmend alles über seine Bürger, der Bürger dagegen immer weniger über den Staat. In einer liberalen Demokratie sollte es genau umgekehrt sein.
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In George Orwells Roman «1984» ist die Sache klar: Der Staat weiss über seine Bürger alles. Wie sie leben, wie sie arbeiten, wen sie lieben, was sie denken und fühlen. Umgekehrt weiss der Bürger über den Staat nichts. Wer die politische Führung der Partei «Ingsoc» ist, ob es den grossen Bruder überhaupt gibt, ob tatsächlich ein Krieg geführt wird oder doch alles Inszenierung ist – das alles bleibt schleierhaft. Orwell hat hier etwas Grundlegendes erfasst: In totalitären Systemen ist das Verhältnis zwischen Staat und Bürger hochgradig asymmetrisch. Der Staat weiss über seine Bürger alles, umgekehrt weiss der Bürger nicht das Geringste über den Staat. Alles ist Fassade, Propaganda, Schein.
In einer Demokratie sollte es dementsprechend andersherum sein, zumal in einer liberalen. Hier wäre der Idealzustand der absolut transparente Staat, für den seine Bürger Black Boxes sind, in die er nicht hineinschauen kann. Der gläserne Staat und der undurchschaubare Bürger – das sollte das Ideal jedes liberalen Gemeinwesens sein.
Staatsfeind Bargeld
Doch der Trend geht eindeutig in eine andere Richtung. Die Verwaltungen moderner Staaten werden immer komplexer und immer aufgeblähter. Ministerien wachsen, Ämter vergrössern sich, Behörden aller Art dehnen sich aus. In Deutschland etwa stieg die Anzahl der Bediensteten im öffentlichen Dienst seit 2008 von 4,5 auf über 5 Millionen. Hinzu kommt die Digitalisierung, die eine ungleich effizientere Datenverarbeitung erlaubt als analoge Verwaltung.
Vor allem erlaubt die Digitalisierung aller Lebensbereiche einen nahezu vollständigen Zugriff des Staates auf das Leben des einzelnen Bürgers. Unter dem Vorwand angeblicher Modernität, Kundenfreundlichkeit, Bürgernähe oder vergleichbarer Propagandaschlagworte frisst sich der Staat immer weiter in das Privatleben des einzelnen hinein. Steuern, Gesundheit, Bildung, Konsumgewohnheiten, Meinungsäusserungen in sozialen Netzwerken – dem Staat bleibt nichts verborgen. Der gläserne Bürger, er wird langsam, aber sicher Wirklichkeit.
«Unter dem Vorwand angeblicher Modernität, Kundenfreundlichkeit, Bürgernähe oder vergleichbarer Propagandaschlagworte frisst sich der Staat immer weiter in das Privatleben des einzelnen hinein.»
Dabei sollte es natürlich andersherum sein. Was ich mit meinem Geld mache, ob ich bar zahle oder nicht, wann ich weshalb zum Arzt gehe, welche Vorsorgeuntersuchungen ich mache, ob ich mich impfen lasse und wenn ja wogegen, wohin ich reise, was ich denke und äussere – all das hat den Staat im Grunde nichts anzugehen.
Am markantesten zeigt sich die übergriffige Informationsgier des Staates beim Geld. Und das nicht nur in Gestalt des Finanzamtes, vor dem es aus etatistischer Perspektive keine Geheimnisse mehr geben darf und Bankgeheimnisse schon gar nicht. Um die ökonomischen Verhältnisse seiner Bürger noch effizienter zu erfassen, setzt der moderne Kontrollstaat vor allem auf die Abschaffung des Bargeldes und die Digitalisierung des Zahlungsverkehrs. Als Vorwand dient entweder die organisierte Kriminalität oder Schwarzarbeit.
Anfang dieses Jahres trat beispielsweise in Deutschland das sogenannte Sanktionsdurchsetzungsgesetz in Kraft. Damit werden unter anderem Barzahlungen beim Immobilienerwerb verboten. Der deutschen Bundesinnenministerin Faeser geht das aber nicht weit genug. Sie fordert zudem Bargeldobergrenzen für den Erwerb von Schmuck und Uhren. Dadurch sollen «Eigentumsstrukturen transparenter» werden. Auch Barzahlungen beim Autokauf wären dann Geschichte.
Das Ziel ist klar: die bargeldlose und damit vom Finanzamt und den Sicherheitsbehörden vollständig kontrollierte Gesellschaft. Wer jetzt denkt: «Bargeldloser Zahlungsverkehr ist doch praktisch und ausserdem habe ich nichts zu verbergen», macht einen katastrophalen Fehler. Denn erstens geht es ums Prinzip: Den Staat geht es nichts an, wie ich meine Uhren bezahle – auch wenn es ein Dutzend Luxusuhren im Jahr wären. Vor allem aber, zweitens, eröffnet die vollständige Digitalisierung des Zahlungsverkehrs der Manipulation des Bürgers ungeahnte Dimensionen.
Eine staatliche digitale Währung etwa, die sich jederzeit an Wohlverhalten koppeln lässt, ermöglicht die vollständige Konditionierung des Menschen. Man könnte zum Beispiel Sozial- und Krankenkassenleistungen an den Erwerb von gesundheitsverträglichen Lebensmitteln koppeln. Das allgegenwertige Framing und Nudging, die Sprachmanipulationen und paternalistischen Warnhinweise auf Lebensmitteln, über die sich viele Bürger zu Recht beschweren, wären dagegen eine Lappalie.
Eine faktische Mitherrschaft von NGOs
Wer eine solche Entwicklung in Europa für unmöglich hält, der kennt noch nicht den Entwurf des Global Digital Compact (GDC), der im kommenden Jahr von den Vereinten Nationen beschlossen werden soll. Ziel ist es etwa, digitale Identitäten mit Bank- und Mobilfunkdaten zu verknüpfen, «um die Bereitstellung von Sozialschutzleistungen zu verbessern» und Berechtigte leichter zu erreichen.
Im Klartext bedeutet das: Sozialleistungen gegen digital überprüfbares Verhalten. Wie alle UNO-Pakte und -Vereinbarungen ist die Funktion des GDC eine innenpolitische. Er ermöglicht es Regierungen, unpopuläre Massnahmen zu installieren – schliesslich hat man es ja auf UNO-Ebene beschlossen. Dass die Entstehung des GDC in schönstem Marketingjargon zudem als «Multi-Stakeholder-Prozess» präsentiert wird, lässt Schlimmes erahnen.
Im modernen Jargon der politischen Technokraten bedeutet Offenheit fast immer, dass man ideologisch konforme NGOs in Entscheidungsprozesse einbindet. Damit wird die Asymmetrie zwischen Bürger und Staat noch verschärft: Der Staat schafft sich eine Corona von «zivilgesellschaftlichen Organisationen», die Teilhabe des Bürgers simulieren und den Entscheidungsprozessen einen demokratischen Anstrich geben soll. Faktisch geschieht aber das Gegenteil. Der Bürger wird entmachtet, Widerspruch delegitimiert und politische Prozesse der demokratischen Kontrolle gewählter Institutionen entzogen. Es herrschen die Netzwerke von Stiftungen, Think-Tanks und Politikberatern.
Angesichts dieser Asymmetrien verwundert es nicht, dass immer mehr Bürger sich von der etablierten Politik abwenden. Ohnmächtig stehen sie einem undurchschaubaren Apparat gegenüber, der jeden Millimeter ihres Lebens zu erfassen sucht, sich selbst als bürgernah inszeniert, tatsächlich aber als geschlossenes System agiert, das sich demokratischer Kontrolle faktisch entzieht.
«Der Staat ist nur deshalb so mächtig, weil wir alle so bequem sind.»
Es ist Zeit, das Verhältnis von Bürger und Staat neu zu justieren. Und das Gute ist: Jeder kann diesen Prozess unterstützen. Etwa indem man seine alltäglichen Einkäufe mit Bargeld begleicht und nicht mit Karten oder Smartphone. Denn zur Wahrheit der Geschichte gehört auch: Der Staat ist nur deshalb so mächtig, weil wir alle so bequem sind.