Zur Verbesserung der direkten Demokratie
Die Digitalisierung hält auch für die Demokratie Erneuerungspotenzial bereit. Fünf aktuelle Entwicklungen.
Bis die von Ray Kurzweil vorausgesagte Singularität, also der Zeitpunkt, an dem die künstliche Intelligenz die menschliche überholt, eintritt, sollen noch rund dreissig Jahre vergehen. Falls es so weit kommt, wäre die bisher praktizierte Demokratie so oder so ganz generell zu überdenken, nicht nur in der Schweiz. Bis dahin haben wir aber noch etwas Zeit. Wir können uns überlegen, welchen Chancen und Risiken eine halbdirekte Demokratie wie die schweizerische ausgesetzt ist, wenn sie mit elektronischen Elementen ergänzt wird.
Sowohl im beruflichen als auch im privaten Leben sind Internetanwendungen omnipräsent. Das führt mittelfristig dazu, dass auch die Nachfrage nach einer elektronisch erleichterten Teilhabe am politischen Leben steigt. Es gilt sich aber gleichzeitig zu vergegenwärtigen, dass die meisten Menschen nicht ständig partizipieren können und das auch nicht wollen. Gerade in der schweizerischen Abstimmungsdemokratie entspricht die selektive Partizipation inzwischen der politischen Kultur.
1. E-Demokratie: Leitplanken setzen genügt
Die Ideen, weshalb und wie (direkte) Demokratien mit Hilfe von elektronischen Mitteln verbessert und umgestaltet werden können, sind ganz unterschiedlich. Die einen sehen darin ein Mittel, auch für weniger mächtige oder finanziell potente Akteure gleichlange Spiesse in der politischen Auseinandersetzung zu schaffen. Die anderen sehen die Möglichkeit, den Staat oder eine als «schmutzig» empfundene Parteienpolitik teilweise oder gänzlich zu umgehen. Eine konkrete von der Piratenpartei propagierte Ausprägung ist die sogenannte Liquid Democracy. Politische Debatten und Entscheide sind darin online dezentral organisiert. Man versucht also, ohne den intermediären Sektor der organisierten Interessenvermittlung auszukommen. Das Ziel: eine noch direktere direkte Demokratie.
Wie stark der Staat involviert sein soll und darf, ist generell eine der wichtigsten Fragen, die man sich in einer E-Demokratie stellen sollte. In vielen Ländern, in denen man dem Staat – wohl auch zu Recht – misstraut, ist eine staatlich organisierte E-Demokratie für die meisten Bürgerinnen und Bürger keine Option. Je mehr sich der Staat vom elektronischen Dienstleister zum Organisator digitaler Teilhabe hinbewegt, desto mehr kommt er in schwieriges Fahrwasser. Da der Staat politisch neutral bleiben muss, sollte er im Bereich Online-Partizipation deshalb nur die Leitplanken setzen.
2. E-Voting: kein systemrelevantes Risiko bei operativ sicherem Betrieb
E-Voting, wie das Abstimmen und Wählen übers Internet in der Schweiz genannt wird, wirkt sich als Kanal nicht direkt auf die politische Willensbildung aus. In Umfragen und Abstimmungen (so in Genf) spricht sich die Schweizer Bevölkerung trotz Sicherheitsbedenken durch alle Altersklassen, Landesteile und weitgehend unabhängig von der politischen Couleur für E-Voting aus.1 Manche wollen E-Voting erst dann befürworten, wenn es medienbruchfrei zur Verfügung stünde, also nicht noch zusätzlich Papier mit Identifikationscodes verschickt wird. Jemand, der per E-Voting abstimmt, hat sich bedingt durch den gewählten Stimmkanal nicht weniger Gedanken über eine Abstimmungsvorlage gemacht als andere.
E-Voting stellt kein systemrelevantes Risiko für die Schweizer Demokratie dar. Dies gilt jedoch nur, solange es operativ sicher betrieben und in der Folge das Vertrauen in diesen Kanal aufrechterhalten werden kann. Entscheidend sind die ganz neuen Qualitäten, die bezüglich Transparenz von Abstimmungsresultaten durch individuelle und universelle Verifizierung entstehen. Vereinfacht gesagt erhalten die Stimmenden eine Quittung ihrer Stimmabgabe und können im Endausbau eines solchen Systems nicht nur die eigene, sondern auch alle anderen elektronischen Stimmen überprüfen.2
3. Online-Wahlhilfen: beliebt bei den Wählern
Online-Wahlhilfen werden in der Schweiz von einem guten Teil des Elektorats genutzt, um sich ein besseres Bild über Kandidierende und Parteien zu machen, bevor sie den Wahlzettel ausfüllen. Der Nutzen für die Stimmbürger ist evident, denn die eigenen politischen Einstellungen lassen sich auf effiziente Art und Weise spiegeln und vergleichen. Im Gegensatz zu E-Voting scheinen Online-Wahlhilfen sogar einen positiven Effekt auf die Wahlbeteiligung zu haben, besonders bei jüngeren Generationen.
Dass bei der Konzeption von Online-Wahlhilfen – angefangen von den befragten Themen, Frageformulierungen, Antwortmöglichkeiten bis hin zu den verwendeten Algorithmen – mehrere Entscheide getroffen werden müssen, die das Resultat beeinflussen, wird nur selten diskutiert. Sobald jedoch eine Verbindung zu einem Wahlzettel in einer E-Voting-Anwendung möglich würde, sähe die Sache problematischer aus. Die Versuchung wäre für manche Nutzer gross, den Vorschlag aus der Online-Wahlhilfe zu übernehmen, obwohl der durch die Verwendung eines anderen Algorithmus anders ausfallen kann. Je nach Einstellungen der Online-Wahlhilfe sind nämlich Kandidierende gerade noch auf der Liste oder wegen Bruchteilen von Prozentpunkten eben nicht mehr. An diesem Beispiel zeigt sich, dass der Einsatz von digitaler Demokratie sorgfältig angegangen werden sollte. Allein betrachtet sind die besprochenen Anwendungen zu handhaben, in Kombination potenziert sich jedoch das Risiko.
4. E-Petitionen: Erzeugung von öffentlichem Druck
Ähnlich verhält es sich mit E-Petitionen, die bisher harmlos erschienen. Webseiten, die es erlauben, Unterstützungsbekundungen zu sammeln, gibt es inzwischen in grosser Vielfalt. Manche versuchen, durch möglichst viele, sehr einfach abzugebende «Unterschriften» öffentlichen Druck zu erzeugen. Andere sind von den Formvorschriften her anspruchsvoller und richten sich an eine Exekutive oder Legislative. Sie alle zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie dem Rechtsmittel der Petition entsprechend weitgehend auf den Goodwill der Adressaten angewiesen sind.
5. E-Collecting: rechtsgültiges Sammeln von Unterschriften
Was sich mit gesammelten Unterstützungen auf Petitionswebseiten in einer direkten Demokratie in Kombination mit E-Collecting, also dem rechtsgültigen elektronischen Sammeln von Unterschriften für eine Initiative oder ein Referendum, anstellen lässt, hat sich nicht in der Schweiz, sondern in den Niederlanden anlässlich der rechtlich konsultativen Abstimmung über das Assoziierungsabkommen zwischen der EU und der Ukraine vom 6. April 2016 erstmals gezeigt. Entscheidend beigetragen zu den insgesamt rund 450000 gesammelten elektronischen Unterschriften hat die Mobilisierung via E-Mail durch Personen, die bereits unterschrieben hatten. Ermöglicht wurde diese Mobilisierung durch eine der zehn meistbesuchten Newswebseiten in den Niederlanden.
Übersetzt auf die Schweiz würde das bedeuten, dass man beispielsweise für ein verkehrspolitisches Anliegen elektronische Unterschriften am ehesten auf einer gut besuchten Webseite für den Autohandel sammelt. Verkürzt gesagt, sind in einer direkten Demokratie mit E-Collecting E-Mail-Adressen die neue Kampagnenwährung und die Besitzer von hochfrequentierten (kommerziellen) Webseiten sind die wichtigsten Akteure, nicht mehr Parteien oder Interessenorganisationen.
Fazit
Die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien bieten vielfältige Möglichkeiten, das Bestehende nicht nur eins zu eins in eine digitale Version zu transformieren, sondern auch Neues zu kreieren. Dazu braucht es nicht nur den Mut, technologisch voranzugehen, sondern auch den Mut, die eigene Ideologie zu überdenken. Es kann gut sein, dass wir in einer digitalen Demokratie den Wert unserer Parlamente wieder stärker schätzen werden, weil sie stabilisierend wirken. In Finnland etwa wurde eine neue, auf E-Collecting basierte Bürgerinitiative eingeführt, die auf eigens dafür geschaffenen Plattformen – auch unter Beizug von Experten – diskutiert werden kann. Wenn solche Initiativen das nötige Unterschriftenquorum erfüllen, müssen sie wie ein gewöhnlicher parlamentarischer Vorstoss im Rat behandelt werden.
Von den jüngsten technologischen Entwicklungen hat die Blockchain-Technologie am meisten Potenzial. Sie wird viele Veränderungen der demokratischen Praxis bringen. Angezeigt wäre es zum Beispiel, die oft kritisierte intransparente Wahl- und Abstimmungsfinanzierung neu zu denken. Mit der Blockchain-Technologie lässt sich eine Währung schaffen, bei der sowohl die zur Verfügung stehende Geldmenge begrenzt ist sowie sämtliche Transaktionen zwar anonym, aber nachvollziehbar sind. Es ist sogar vorstellbar, eine derartig geschaffene Kampagnenwährung zu handeln, so dass sich der Wert bei den umstrittensten Abstimmungen erhöht. Das mag futuristisch klingen, wäre jedoch technologisch gesehen schon heute machbar und zukunftsträchtiger als konventionelle, zum Scheitern verurteilte Versuche, die Kampagnenfinanzierung zu regulieren.
Wie die einzelnen Elemente einer E-Demokratie ineinandergreifen, will wohlüberlegt sein. Lernen, damit umzugehen, lässt sich am besten, indem man auf lokaler und kantonaler Ebene Erfahrungen sammelt. Dabei ist der föderalistische Staatsaufbau der Schweiz von Vorteil und kann auch entsprechend genutzt werden. Wichtig ist, wie im (von der UZH-Digital-Society-Initiative lancierten) Manifest für digitale Demokratie3 dargelegt, dass eine öffentliche Diskussion entsteht und man sich im Verlauf der Debatte bewusst für oder gegen eine Entwicklung entscheiden kann.
1 Thomas Milic, Michele McArdle und Uwe Serdült: Haltungen und Bedürfnisse der Schweizer Bevölkerung zu E-Voting. In: Studienberichte des Zentrums für Demokratie Aarau, Nr. 9, Aarau: ZDA, 2016. Web: www.zora.uzh.ch/id/eprint/127938/
2 Für eine detaillierte Auslegeordnung verweisen wir aus Platzgründen auf: Uwe Serdült, Eric Dubuis und Andreas Glaser: Elektronischer versus brieflicher Stimmkanal im Vergleich. In: Jusletter IT, 21. September 2017.
3 digital-manifest.ch/