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Was is(s)t Europa?

Eine kulinarische Tour d’Horizon über den «alten» Kontinent

Man kann über die unglaubliche Vielfalt Europas viel debattieren, reden und schreiben – um sie aber wirklich zu erfahren, sollte man sie nicht zuletzt auch schmecken. Reisen wir also für einmal mit dem Gaumen, schauen in die Töpfe, lupfen manchen Korken – von Helsinki bis Palermo, von Lissabon bis Berlin, von Brüssel bis zum Peloponnes.

Hyvää ruokahalua!

Ein Zeitreisender würde sich die Augen reiben. Was, das soll Helsinki sein? War das nicht damals, in den Siebzigern, eine provinziell gemütliche, langsame Stadt, mit einem Hauch von sozialistischer Kargheit? Und heute: überall Boom, Mode, Elektronik, Kunst, Grossbanken, Beschleunigung… Alles trendig und teuer… Das ganze Land auf dem Spitzenplatz der internationalen Statistiken!

Aber das täuscht. Nur Geduld! Im August liegt die Hauptstadt so verlassen da, dass die Touristen beinahe unter sich sind. Wer von ihnen an Herzbeschwerden leidet, tut gut daran, Helsinki im Sommer zu meiden; denn der tüchtige Kardiologe hat sich, wie seine Kollegen, zurückgezogen, dorthin, wo ihn keine E-Mail erreicht und wo kein Handy piepst – aufs Land. Der Patient, der ihn dort finden wollte, in Karelien oder auf einer der tausend Inseln im Schärengarten, müsste sich auf eine lange Reise mit dem Fahrrad oder mit dem Boot gefasst machen. Der Arzt aber wird nach der Sauna seelenruhig in den See vor dem Haus springen oder ein bisschen fischen gehen. Danach erst, gegen fünf Uhr – so will es die Landessitte – gibt es ein ausgiebiges Mittagessen. An Hering oder Rentierfleisch, Preiselbeeren und Pilzen wird es nicht fehlen, und wenn keine frischen Semmeln da sind, greift der Arzt zu dem hartgebackenen Roggenbrot, das an einem Nagel an der Wand hängt; denn das hält ewig.

Spät am Abend treffen sich die stummen einsamen Trinker aus dem Kaurismäki-Film vor der Dorfscheune. Dort schallt ein finnischer Tango durch die weisse Nacht, und den Doktor ergreift eine Wehmut, klar wie Wodka. Kippis!

Es werden wohl nicht die Glaspaläste und die schrägen Bars von Helsinki sein, denen Europas erfolgreichste Nation ihr sisu verdankt, diese eigentümlich zähe Energie, mit der sie die Schweden und die Russen, Armut und Krieg überstanden hat, sondern schon eher jene träumerischen, hinterwäldlerischen Tage und Nächte auf dem weiten Land.

Buon appetito!

«Italien ist eine Grossmacht», sagt er, legt den Kopf schief und prüft, wie wir auf seine dreiste Behauptung reagieren. Giacomo führt ein Restaurant in Bologna, dessen Namen wir nicht verraten. Bologna la grassa, la dotta: die Gelehrte, weil hier die erste europäische Universität gegründet wurde, und die Üppige, weil ein leerer Bauch nicht gerne lernt. Daher die phantastischen Auslagen der Delikatessenläden und der Marktstände und die vorzüglichen Restaurants, von denen eines unser Freund Giacomo führt. Es ist schwer zu finden; denn eine Lichtreklame gibt es nicht, und die diskrete Pforte liegt in einem Hinterhof.

«Du lachst», sagt Giacomo. Er ist enttäuscht, weil wir ihm nicht widersprechen. «Du hast recht», sagen wir. «Ihr seid eine Grossmacht, aber nur in der Küche.»

«Eben! Niemand kann mit uns konkurrieren, auch kein McDonald’s. Wir sind allgegenwärtig, von Buenos Aires bis Tokio. Pasta, Pizza, Balsamico und Tiramisù – und das ist nur der Anfang. Ich rede gar nicht von Pesto und Parmesan, Grappa und Barolo. Eine kulinarische Weltsprache. Da können die Amerikaner, die den Espresso in Plastikbechern servieren, nicht mithalten. Und was heisst bei euch in Deutschland ‹zum Italiener gehen›? Das heisst einfach so viel wie essen. Allerdings, was sie euch dort vorsetzen, ist meistens nicht der wahre Giacomo – zu Deutsch der wahre Jakob! Da müsst ihr schon nach Italien kommen.»

«Nach Bologna?»

«Ach was! Wohin ihr wollt. Ins Piemont, nach Sizilien, in die Lombardei, nach Ligurien, in die Campania. Denn mit unserer Einheit ist es gottlob nicht weit her.»

«Genau wie bei uns in Deutschland.»

«Auf die lokale Tradition kommt es an. Gut essen ist eine Frage der Moral. Ich pfeife auf die Originalität. Mit der Desi-gnerküche könnt ihr mich jagen! Ja, meine Lieben, Italien besteht aus lauter unvergleichlichen Herzogtümern, und um die zu erobern, braucht ihr Zeit, eine empfindsame Zunge und einen guten Magen.»

Bon appétit!

Gibt es Belgien? Das ist eine oft gestellte Frage; es soll sogar Belgier geben, die’s bezweifeln. Der böse Baudelaire nannte dieses schöne Land, das erst im Jahre 1830 erfunden worden ist, einen diplomatischen Homunculus. Seitdem wohnen dort Flamen mit Wallonen, ja sogar mit Deutschen, wenn auch in getrennten Apartments, unter einem Dach. Zu welchem dieser Stämme Brüssel mit seinen europäischen Glasbunkern gehört, weiss niemand.

Alle diese Landstriche können auf eine scheckige Geschichte zurückblicken. Niemand wollte ihre Bewohner in Ruhe lassen, die Burgunder, die Österreicher und die Spanier nicht, weder die Franzosen noch die Niederländer, ganz zu schweigen von den Deutschen. Wo also wächst hier das Rettende? Die grossen Zeiten der Malerei liegen schon vierhundert Jahre zurück; damals gab es noch keine Belgier, und es ist auch schon ein Weilchen her, dass der Jugendstil Furore machte. (Vom Kongo zu sprechen, wäre wohl nicht sehr höflich.)

Was also ist es, das Belgien zusammenhält? Schwer zu sagen. Yves Leterme, ein flämischer Ministerpräsident, sagt: «Der König, die Fussballmannschaft und ein paar Biere.» Aber ist es nicht eher eine weit mächtigere Instanz – nämlich der Bauch und sein unerschütterliches Wissen davon, was gut ist? Alle Küchen der Nachbarn, der Okkupanten, der Einwanderer, der Juden, der Afrikaner hat der belgische Magen verdaut und ist sich selber dabei doch treu geblieben.

Das wissen auch die zahllosen Gäste, die jahraus, jahrein quasi steuerfrei in Brüssel speisen, sehr zu schätzen: Kommissare, Generalsekretäre, Präsidenten, Vizepräsidenten, Generaldirektoren, Direktoren, Referenten, Lobbyisten, Waffenhändler, Einflussmakler und Agenten. Es wäre ein Fehler, wenn wir ihnen den Platz an der europäischen Tafel überliessen. Also: bon appétit und smakelijk eten!

Jó étvágyat!

«Rätselhafte Leute», sagt einer, der es wissen muss, denn er lebt seit vielen Jahren in Budapest. «Aber sie lassen sich’s nicht anmerken. Wer auf ihre wunderbaren Operetten und auf ihre k.u.k. Gemütlichkeit hereinfällt, ist selber schuld. Die Türken, die Österreicher und die Russen haben zu spät bemerkt, dass mit den Ungarn nicht so gut Kirschen essen ist. Nur in ihrer Sprache kommt die Wahrheit zum Vorschein. Man sagt ihnen nämlich nach, und sie sind die letzten, die es bestreiten würden, dass sie ursprünglich hinter dem Ural zu Hause sind und dass sie nach wie vor ihren Hunnenkönig Attila verehren. Das ist natürlich sehr lange her. In Europa sind sie wahrscheinlich die gescheitesten Einwanderer. Ihre Sprache ist wunderbar, und in ihren Cafés wimmelt es von Dichtern. Nur versteht man leider kein Wort davon.»

Nicht einmal auf der Speisekarte! Vielleicht bilden Sie sich ein, ein Restaurant hiesse auch in Ungarn Restaurant, und ein kräftiges Gulasch hiesse Gulasch. Weit gefehlt, im étterem müssen Sie schon ein pörkölt bestellen, und was die Paprika angeht, so ist das ein Fremdwort aus dem Serbischen, während der berühmte Palatschinken sich aus dem Rumänischen herleitet. Es gab nämlich Zeiten, zu denen Ungarn viel grösser als heute war, und das merkt man seiner Küche an. Einst gehörten ganz Siebenbürgen, die Slowakei, Slawonien, Kroatien, die Batschka und das Banat dazu, und gelegentlich gibt es heute noch Ärger mit den Nachbarn, der Ungarn wegen, die jenseits der Grenzen leben. Der ungarische Reichstag, in dem die Herren Abgeordneten Lateinisch sprachen, sass bis 1917 in Pressburg, auch Pozsony, Prešpurk, Bratislawa oder Posonium genannt.

Das ist alles interessant und gut zu wissen, nur sollte es niemandem auf der Seele liegen, der auf einem Weingut in Abaújszántó oder Sátoraljaújhely einen gebratenen Wels oder Karpfen bestellt und sich dazu ein Fläschchen Tokaji Aszú genehmigt. Zugegeben, die Ortsnamen sind Zungenbrecher – aber keine Sorge, die Reise lohnt sich, und einmal ans Ziel gekommen, heisst es: English spoken, Si parla italiano und Man spricht Deutsch. Also: Jó étvágyat!

Have a nice meal!

Sie war immer gefürchtet, die englische Küche. Niemand hat ihre grossen Erfindungen so recht gewürdigt, die, wie das Sandwich, in der ganzen Welt verzehrt werden. Kein Mensch braucht ein Wörterbuch, um zu wissen, was ein Steak ist, besser noch: ein Roastbeef – oder ein Keks (das ist eigentlich ein kleiner cake).

Trotzdem, es lag unleugbar ein Hauch von Tristesse über der herkömmlichen englischen Kochkunst. Wer erinnert sich nicht an die schwerverdaulichen pies, ganz gleich, ob die Füllmasse aus Hammelfleisch, Fisch oder Nieren bestand; die giftgrünen Erbsen aus der Dose; die fish and chips aus der Strassenküche? Und auch den eleganteren Restaurants fehlte die Ambition, dem Puritanismus den Vogel zu zeigen.

Damals, in der guten alten Zeit, gab es eine einfache Methode, in England ausgezeichnet zu essen. Man vermied Lunch und Dinner und konzentrierte sich auf die Randzonen: Frühstück und low tea; damit war der ganze Tag aufs angenehmste zu bestreiten.

Ein ordentliches breakfast bestand aus einer Kanne Tee (vom Kaffee sah man besser ab), einem Obstsaft, Butter und Toast in einem silbernen Ständer; aber das war nur der Anfang. Es standen ferner auf dem Tisch: Bücklinge, gegrillte Tomaten, Würstchen, Bacon und Rührei, Porridge, Black Pudding, und wem das noch nicht genug war, Lammnierchen in Sherry. Damit kam man bis zum Nachmittagstee ohne weiteres über die Runden. Und dort boten sich auf dem silbernen Tablett und auf der Etagere aus Wedgwood-Porzellan erstens die berühmten Gurkenschnitten, Sandwiches mit Lachs, Cheddar, Ei und Kresse, zweitens scones und clotted cream mit allen möglichen Konfitüren und drittens shortbread, muffins, fruit cake und Victoria sponge als Nachspeise.

Diese Zeiten sind vorbei. Heute ist London sinnlos teuer und äusserst kosmopolitisch geworden. Niemand hat mehr Zeit für ein ausgiebiges Frühstück. Pasta, Tandoori und Wok haben gesiegt, und sogar der Kaffee ist keine dünne Brühe mehr.

Oh, wir haben Schottland vergessen! Der heilige Andrew möge uns verzeihen! Ja, die Ausländer wissen nie so recht zu unterscheiden zwischen England, Britannien und dem Vereinigten Königreich. So entgeht ihnen manches, zum Beispiel das schottische Nationalgericht. Die amerikanische Aufsichtsbehörde hat verkündet, es sei ungeeignet für den menschlichen Genuss, und seine Einfuhr untersagt. Dabei hört sich das Rezept sehr interessant an: es handelt sich um einen Schafmagen, gefüllt mit einem Hack aus Lunge, Herz und Leber, mit Brühe, Talg und Hafermehl gekocht und mit Rübenbrei serviert. Wer tapfer ist, sollte im Norden der Insel nicht versäumen, eine Portion haggis zu bestellen.

Kalh‘or´jh!

Als Henry Miller, ein Amerikaner auf der Flucht vor Amerika, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg nach Griechenland fuhr, geriet er hemmungslos ins Schwärmen. Ein Arkadien! Ein intaktes Land, ungetrübt von der modernen Zivilisation! Ländlich, arm, patriarchalisch, bevölkert von gastfreundlichen, herzensoffenen Menschen! So kann man’s im Koloss von Maroussi lesen.

Eine schöne Projektion. Aber er hat’s dort nur fünf Monate lang ausgehalten. Vielleicht ging es ihm auf die Dauer doch ein wenig zu verschlafen und eintönig zu in diesem Paradies? Vielleicht hat er deshalb dem Ouzo so eifrig zugesprochen und dabei gegen den Landesbrauch verstossen, der da heisst: Man isst nicht, ohne zu trinken, und trinkt nicht, ohne zu essen.

Aber was stand damals auf dem Tisch? Die Speisekarte war nicht gerade üppig: Hammel, Calamari und das ewige mousaka. Lange Fastentage ohne Fleisch und die beklemmend süssen chalvas und baklavas. Nur die Zutaten waren immer frisch: das Obst und das Gemüse aus dem eigenen Garten, das Olivenöl und der berühmte Honig. So hatte die Selbstversorgung doch ihr Gutes.

Das ist lange her, und der Tourismus hat solchen bukolischen Zuständen schon vor Jahrzehnten den Garaus gemacht. Kein Land kann, ohne seine Tugenden einzubüssen, dauernd Millionen von Gästen ertragen, die lauthals nach dem verlangen, was es überall gibt: nach der sogenannten «internationalen Küche». Die unvermeidliche Folge waren lieb- und geschmacklose, im Pauschalpreis inbegriffene Menüs.

Dagegen helfen nur die besseren Traditionen des Landes. Zu denen gehört es, dass man, anders als im Norden, spät und stundenlang zu Abend isst und dabei sich ereifert, streitet und wieder versöhnt; schliesslich ist auch die Rhetorik eine griechische Erfindung.

Guten Appetit!

Darf ich ausnahmsweise wir sagen? Ich gehöre nämlich dem Stamm an, von dem hier die Rede ist. Was mir an uns, den Deutschen, auffällt, ist, dass wir uns, nach einem beispiellosen Anfall von Aggressivität, eine sonderbar defensive Haltung angewöhnt haben. Dafür gibt es viele Indizien. Unsere Bosse und unsere Werbefritzen sprechen am liebsten ein schauderhaftes Englisch, so als wäre ihnen das Deutsche, das sie oft nur annähernd beherrschen, nicht gut genug. Die Bundeswehr ist eine absolut harmlose Vereinigung. Wer sich immer noch vor uns fürchtet, wie zum Beispiel unsere polnischen Nachbarn, hat nicht begriffen, wie hasenherzig wir sind. Das macht sich auch bemerkbar, wenn es ums Essen geht.

Denn da drohen tausend Gefahren. Wer einfach isst, was er will, wann er will, so viel er will, der hat hierzulande einen schweren Stand. Warum achtet er nicht auf sein Gewicht? Warum widersetzt er sich den Empfehlungen der Diätberater? Und ist das, was er zu sich nimmt, auch ökologisch einwandfrei, fördert es seine Fitness? Oder steht gar etwas potentiell Krebserregendes auf dem Beipackzettel? So viel zur latenten Panik, die einem leicht den Appetit verderben kann.

Auf der anderen Seite schüchtern uns die Kenner ein, die uns predigen, dass, wie bei einer Olympiade, nur die Spitzenleistungen zählen. Dies oder jenes, belehren uns die Fernsehköche, sei nun einmal der aktuelle Trend, um nicht zu sagen, der neue Kult. Denn mit dem, was wir bisher gegessen haben, könnten wir, international gesehen, nicht mithalten und schon gar nicht punkten.

Aber warum eigentlich nicht? Man wirft uns vor, dass wir nicht genügend Geld ausgeben für das, was wir uns einverleiben; wir seien, wie es vornehm heisst, allzu preissensibel. Wenn das so ist, handelt es sich tatsächlich um ein besonders unappetitliches Laster, nämlich um Geiz.

Nur – der Kritiker, der daraus den Schluss zieht, mit der deutschen Küche sei es nicht weit her, der irrt sich sehr. Ein bisschen mehr Selbstvertrauen, wenn ich bitten darf! Es muss wahrhaftig nicht immer der Inder, der Italiener, der Thai oder der Japaner mit seinem Sushi sein. Denn manchmal liegt das Gute nah. Wer einen proletarischen Touch bevorzugt, kann in Berlin fündig werden, mit Eisbein, Erbsensuppe und Bulette. Die Aalsuppe schmeckt am besten in Hamburg. Der Süden kann mit Schweinshaxen und Leberknödeln aufwarten. Wem der Sinn nach Feinerem steht, bitte! In Baden wird er auf seine Kosten kommen. Und wo gäbe es besseres Brot, bessere Würste, bessere Mehlspeisen als in Deutschland?

Na also. Lassen wir uns nicht einschüchtern! Sagen wir es grad heraus: Niemand braucht sich vor uns zu fürchten, und schon ganz und gar nicht vor dem, was wir essen.

Nu maa I spise!

Zu den erfreulichsten Eigenschaften der Dänen gehört, dass sie verfressen sind. Man kann es beim besten Willen nicht anders ausdrücken, höchstens auf Dänisch, in der nuancenreichen und geheimnisvoll artikulierten Sprache der Einheimischen, die nicht ganz zu Unrecht auf ihren subtilen Humor Wert legen.

Als es auf dem Kontinent noch karger zuging, nahm manch einer die Fähre von Grossenbrode nach Gedser, einzig und allein des märchenhaften Buffets wegen, das dort den Passagier erwartete. Liebevoll angerichtet die Hummermayonnaise, die Hering-, Curry-, Waldorf- und wer weiss was für unbekannte Salate, mit äusserst nahrhaften Saucen und Remouladen, die nach Meerrettich, Senf oder Kräutern schmeckten. Wer sich nun bei der Ankunft in einem Schlaraffenland wähnt, ist natürlich leicht zu enttäuschen. So weit ist es auf dem Lande mit der Phantasie nicht her, nur mangeln darf es an gar nichts. Man greift grosszügig hin und spült das Ganze mit ein paar Gläsern Aquavit und einem grossen Tuborg hinunter. Auch das Tivoli ist nicht mehr, was es einmal war: eine Zauberinsel mitten in der Grossstadt Kopenhagen.

Übrigens stellen sich dem Neuankömmling so manche Rätselfragen. Warum heisst ein schlichter Kartoffelbrei mit Speck und Zwiebeln «Brennende Liebe»? Wie kommt es, dass sich eine süsse Gewohnheit aus Blätterteig wienerbrød nennt, obwohl es gar kein Brot ist und obwohl es in Wien kein Wienerbrot gibt? Ist es nicht schwer zu verwinden, dass man am Mittag sich zur frukost an den Tisch setzt, am Abend hingegen zu middag speist?

Ganz andere Fragen gilt es in den erfreulichsten Etablissements der Hauptstadt zu beantworten. Dort herrscht die Kalte Mamsell. Im berühmtesten dieser Lokale, bei Ida Davidsen an der Store Kongensgade, gibt es nichts anderes als smørrebrød, also Butterbrote. Aber davon rund zweihundert verschiedene Sorten! Und in welcher Fülle! Roastbeef, Aal, Garnelen, Leber-, Wild-, Geflügelpastete, Eier, Schinken, Gänsebrust, Dorschkaviar, alles üppig mit Mayonnaise garniert, und sogar ein kleines Steak à la minute… Und damit nicht genug, denn auch unter den dünngeschnittenen Scheiben, die all das zu tragen haben, kann der Gast zwischen Grau-, Schwarz-, Weiss- und Vollkornbrot wählen. Am besten nimmt man die ellenlange Karte zur Hand und kreuzt an, was einem gefällt. Wer da an Diät denkt, hat schon verloren.

Bom proveito!

Lügen haben kurze Beine. Daher bin ich lieber gleich geständig: Das Beste an Portugal ist nicht die Küche. Es sind die Portugiesen. Sie werden sie liebenswürdig, höflich, stolz und melancholisch finden. Hektik und Wichtigtuerei sind ihnen fremd, und wenn Sie die schlimmsten Hotelklötze an der Algarve meiden, finden Sie immer noch genug, was Sie entschädigen wird für manches, was Sie entbehren werden.

Nichts, natürlich, gegen das Wildkaninchen in Rotwein, mit Pilzen und Tomaten, oder ein caldo verde, die Gemüsesuppe, zu der, wenn es mit rechten Dingen zugeht, eine Art Grünkohl gehört. Fischsuppe, Schaf- und Ziegenkäse, allerhand Mandelgebäck – geschenkt! An die Schweinelendchen mit Muscheln werden Sie sich vielleicht gewöhnen, aber ob Ihnen das mit dem unvermeidlichen bacalhau gelingt? Da bin ich mir nicht sicher.

Diese Nationalspeise, der Stock- oder Klippfisch, ist nicht jedermanns Sache. Man sagt, es gebe dafür 365 Rezepte, eines für jeden Tag, und ich befürchte, dass das die reine Wahrheit ist. Sie können diesen Dörrfisch als Auflauf, als Frikadelle, als Salat, in jeder nur denkbaren Form geniessen. Dass es den Portugiesen nicht an Ironie fehlt, beweisen ein paar Redensarten, die immerhin eine gewisse Skepsis ausdrücken: «Einem den Klippfisch zu machen» heisst so viel wie ihn herabsetzen, und ficar em águas de bacalhau sagt man, wenn etwas schiefgeht.

Wenn Sie Trost brauchen sollten, halten Sie sich an die vorzüglichen portugiesischen Weine. Sie sind nicht so berühmt, wie sie verdienen, wahrscheinlich, weil sie nicht in grossen Mengen und zu löblich geringen Hektarerträgen erzeugt werden; aber ich versichere Ihnen, dass sie es in sich haben. Der Madeira ist ja ganz aus der Mode gekommen; eigentlich schade; auf der Insel können Sie noch uralte Jahrgänge trinken; denn das süsse Zeug hält sich fast ewig. Worauf es aber ankommt, das sind Dão, Bairrada, Alentejo und natürlich der Douro, wo nicht nur der legendäre Portwein wächst – da können Sie ein Dutzend Rebsorten probieren, von denen Sie noch nie gehört haben, und niemand zwingt Sie, wenn Sie sich an ihm, wie ich vermute, bald sattgegessen haben, eine Portion Stockfisch dazu zu essen.

Smacznego!

An der polnischen Landwirtschaft haben sich die Kommunisten die Zähne ausgebissen. Sie mussten ihre Kollektivierungspläne schleunigst an den Nagel hängen. Die Herrschaft über den Kochtopf liessen die Polen sich nicht nehmen. Ein hoher Grad von Selbstversorgung war die Regel, und auch heute noch wird eingemacht, was der Garten hergibt; da mögen die Sonderangebote im Supermarkt noch so billig sein. Überhaupt hört beim Essen der Spass auf. Jedesmal, wenn es mit der Fleischversorgung haperte, gingen die Arbeiter auf die Strasse, und die Miliz musste das Feld räumen.

Leider war ich noch nie am Heiligen Abend in Polen. Man sagt aber, es sei dort guter katholischer Brauch, zwölf Speisen auf den Tisch zu bringen, eine für jeden Apostel, alle fleischlos, also diesmal kein bigos, der sonst unvermeidlich ist: Kraut, Wurst, Fleisch, Pilze, ein einziger Mantsch – die Polen sind ein mykophiles Volk, will heissen, sie kennen sich mit Pilzen, aber auch mit anderen Waldfrüchten aus. Nur ein fetter Karpfen kann an Weihnachten nicht schaden. Ein Stuhl, sagt man, muss an diesem besonderen Abend immer frei bleiben, vermutlich für Jesus.

Sonst genügt auch eine Tasse barszcz (keine Angst vor dem szcz, «schtsch» tut es auch), dazu ein Pastetchen hier und ein Pfannkuchen dort. Oder eine Pilz-, Kuttel-, Sauerkraut-, Krebs-, Graupen- oder saure Mehlsuppe, und danach ein paar pierogi, Maultaschen, in denen sich alles Mögliche verbergen kann. Und zwischendrin immer mal ein Glas Tee.

Achtzig Liter Bier schafft jedes statistische Landeskind mühelos im Jahr, und auch sein Wodkakonsum kann sich sehen lassen: Zubrowka oder Wyborowa sind sehr zu empfehlen, aber auch Chopin war Pole und hat sich als Ruhmesblatt ein Schnapsetikett verdient. Mit Kleinigkeiten gibt man sich dabei nicht ab: die korrekte Bestellung lautet: sto gram, ein zehntel Liter; unter dem tut es der tapfere Pole nicht.

Hier nun endet unsere kleine kulinarische Reise. Aber seien Sie versichert: sie liesse sich ohne weiteres fortsetzen. Und wenn Sie Europas Vielfalt einmal durchprobiert haben, so bietet es sich an, direkt wieder von vorne zu beginnen. Daher zum zweiten Gang nochmals: guten Appetit!

 

Weitere kulinarische Länderportraits von Hans Magnus Enzensberger in: Roberto Schell: Was isst Europa? Wien: Christian-Brandstätter-Verlag, 2007.

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