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Von Emile bis Peergroup

Unsere Vorstellung vom Lernen hat sich über die Jahrhunderte stark gewandelt. Schwächen hat auch das derzeit vorherrschende Modell des Selbstlernens.

Pädagogik ist immer auch anfällig für den Zeitgeist. Über die Jahrhunderte hat sich unsere Vorstellung darüber, wie der Mensch lernt, immer wieder verändert – und damit auch die Überzeugung, wie gute Schulen auszusehen hätten. Die Schwächen des jeweils gerade aktuellen Modells werden dabei jeweils gerne verschwiegen. Das gilt auch für das heute insbesondere im deutschsprachigen Raum vorherrschende und vom Idealismus geprägte Modell des «selbständigen Lernens». Doch dazu später mehr. Es bietet sich an, an dem Punkt zu beginnen, an dem «Erziehung» in Europa überhaupt zu einem zentralen Thema wurde: in der Aufklärung.

Der menschliche Geist ist, was er gelernt hat, schrieb John Locke 1690 in seinem «Essay Concerning Human Understanding». «Geist» wird damit zu einer Grösse der Erfahrung und ist gekoppelt an die Person, die von Geburt an lernt. Vorausgesetzt ist nur die Empfänglichkeit für Sinneseindrücke und deren Reflexion. Was gelernt wurde, wird zur Gewohnheit, ist also nicht flüchtig und kann beeinflusst werden.

Dieser sogenannte Sensualismus ist die prägende Psychologie im Zeitalter der Aufklärung und ohne ihn hätte es keine Hochwertung der Erziehung gegeben. Er war ausserdem der Beginn eines Machtanspruchs von Schule und Erziehern: Wenn nichts in der Seele sein kann, was nicht zuvor durch die Sinne gegangen ist, dann liegt es nahe, genau diesen Zugang pädagogisch zu kontrollieren und so aus dem Kind zu machen, was die Erziehung für richtig hält.

Rousseaus Phantasie des kontrollierten Lernraums

Das Paradigma für diesen Machtanspruch ist «Emile» (1762) des Genfer Philosophen Jean-Jacques Rousseau, ein Erziehungsroman, in dem der Erzieher die gesamte Umwelt zum didaktischen Raum macht und das Kind nur lernt, was es lernen soll. Der Erzieher kann zu seiner Legitimation behaupten, nur dieses Lernen sei gemäss der Natur des Kindes, die sich aber gar nicht unkontrolliert zeigen kann. Es handelt sich also nicht um reale, sondern um didaktische Kinder.

Diese Phantasie des kontrollierten Lernraumes steht hinter vielen Konzepten der Pädagogik, die vom Kinde ausgehen will, stets das Beste für das Kind anstrebt und die Kinder aber nie fragen muss, ob sie das Beste auch wirklich wollen. Das Konzept des Lernens ist «kindgemäss», also eine Erwachsenenkonstruktion. Rousseaus Kind ist im übrigen ein Junge und nur er wird gemäss seiner Natur erzogen.

Auf der anderen Seite bot die Psychologie des Sensualismus erhebliche Vorteile. Lernen wurde unabhängig von platonischen Seelenlehren und auch von den marodierenden Lehren der Seelenwanderung. Von nun an galt, dass jeder lernen konnte, unabhängig von Herkunft, Geschlecht und Begabung. Behinderungen waren keine Strafe Gottes mehr, wie Denis Diderot in «Les aveugles» (1749) glanzvoll dargelegt hat.

Aber die sensualistische Theorie des Lernens mit der Voraussetzung der Tabula rasa des Geistes war auch verführerisch einfach. Sie liess einige Fragen offen. Insbesondere war unklar, was Lernen auslösen konnte oder sollte. Ob sich Gewohnheiten einfach akkumulieren würden und wenn ja, zu was. Schliesslich auch, wie Denken zustande kommen kann, wenn es mehr sein muss als sensuelle Reflexion.

Kurz: der Sensualismus hatte keinen Sinn für die Entwicklung der Kognitionen. Er wusste nichts zu sagen über das Übersehen und Nichtbeachten von Lernanlässen oder auch über das Vergessen von Gelerntem, das überflüssig geworden ist. Er liess auch wenig Raum für den Lauf des Lebens: Es macht Gewohnheiten aus, dass sie sich ändern können und keine dauerhaften Erscheinungen sind. Menschen sind, anders gesagt, nie «fertig erzogen».

Lernen als Problemlösen

Rund zweihundert Jahre nach Rousseau hat sich die Vorstellung vom Lernen gewandelt. Im Anschluss an das Werk «How We Think» (1910) des US-amerikanischen Philosophen und Pädagogen John Dewey wird «Lernen» seit dem 20. Jahrhundert zumeist als Problemlösen verstanden. Es wird also nicht mehr einfach als Verhaltensänderung durch Reaktionen auf Reize gesehen – wenngleich solch Behaviorismus in der Ökonomie oder der Verkaufspsychologie noch sehr lebendig ist.

Ein Problem ist mehr als ein Reiz. Es stellt eine kognitive Lernaufforderung dar. Nicht zufällig hat das Konzept der Problemlösung mathematische Wurzeln und verlangt die Akzeptanz von Schwierigkeiten: also gerade nicht die Fortsetzung des Gewohnten. Letztlich ist gerade die Irritation des Gewohnten der Anreiz, sich auf ein Problem einzulassen. Anders könnte man nur so weitermachen wie bisher.

Dieses Modell vom Lernen als Problemlösen verändert auch die Ansprüche an Schulen. Lernen in didaktischen Kontexten, wie sie Schulen darstellen, bezieht sich weder nur auf Reize noch nur auf Probleme, die einem Lernenden irgendwo begegnen können. Gelernt wird überall, weil es unproblematische Lebenswelten nicht gibt. Mit einem Bonmot von Donald Davidson liesse sich sagen, dass alles problematisch werden könne, nur nicht zur gleichen Zeit. Lernen in der Schule soll vielmehr die Folge von Lehren sein, also von Aufgaben, die sich mit Leistungen verbinden; eine These, die auf Gilbert Ryle (1949/1970) zurückgeht.

Sie lenkt den Blick hin auf die Struktur des Unterrichts und wie man sie beschreiben kann. Gleichzeitig lenkt sie ihn weg von der Person des Lehrers: man verzichtet damit auf überflüssige Diskussionen über Notwendigkeit oder Schädlichkeit seiner Autorität. Ausgangspunkt ist nicht eine irgendwie geartete Natur des Kindes. Unterricht besteht entsprechend aus einer Serie von Aufgaben und dazu passenden Leistungen, wobei ein Zeitmass mitgedacht wird, etwa eine Schulwoche oder ein Semester. Der Einsatz von Lernzeit wird gesteuert durch Aufgaben, die den Lernenden gestellt werden, wobei auch Lehrende Aufgaben zu bewältigen haben, solche nämlich, die der Vorbereitung und Durchführung des Unterrichts dienen – Hausaufgaben für Lehrer also.

«Selbstlehren» im deutschen Idealismus

Insbesondere im deutschsprachigen Raum sieht sich diese inzwischen etablierte Didaktik des Unterrichts allerdings durch den deutschen Idealismus herausgefordert. Dieser geht davon aus, dass «Lehren», in den Worten des Philosophen und Erziehers Johann Gottlieb Fichte (1762–1814), auch «Selbstlehren» voraussetzt – also eigenes Erwerben auf Seiten der Lernenden verlangt. Die Aneignung von Wissen ist nur möglich durch die «bewusste Selbständigkeit unseres Geistes», wie es in «Philosophische Ideen des Lehrens und Lernens» von 1798 heisst. Eine auf diesen Überzeugungen basierende Didaktik setzt auf die sogenannte «intrinsische Motivation» des Lernenden, vertraut also auf die Wissbegierde der Schülerinnen und Schüler und auf den Reiz von Aufgaben. In ihrer radikalen Form lehnt und wertet diese Psychologie der intrinsischen Motivation alles ab, was «extrinsisch» sein könnte. Leistungsanforderungen, Prüfungen und Noten beispielsweise erhalten den Makel des «Nichtintrinsischen» und scheinen irgendwie falsch zu sein.

Das Modell des Selbstlernens hat in den letzten Jahrzehnten sowohl die Bewegung der Reformschulen als auch zunehmend die Erwartungen an die öffentlichen Standardschulen geprägt. Doch es ist in unterschiedlicher Hinsicht beschränkt. Insbesondere hat es keinen Sinn für den spezifischen sozialen Kontext des Unterrichts. Darum versteht es den ganzen Wert klarer Rückmeldungen im didaktischen Kontext nicht.

Einer der ersten, der «Lernen» von der sozialen Interaktion aus denkt, war George Herbert Mead und seine Unterscheidung zwischen dem «I» und dem «me», die das Selbst ausmachen. Damit lässt sich zwischen dem inneren und dem äusseren Lernraum unterscheiden. Man lernt nicht einfach für sich oder mit sich, sondern im Austausch mit anderen. Jeder Lernende reagiert auf die Reaktionen seiner Umwelt und nicht nur der je gegebenen sozialen, sondern im weiteren auch der kulturellen, politischen oder ökologischen Umwelt. Das bedeutet mit anderen Worten: Kinder lernen nicht einfach in der Schule, sondern sie müssen auch die Schule lernen.

Dort sind die Ziele vorgegeben und werden nicht frei gewählt, die jeweilige Lernsituation ist nicht je neu und einmalig, sondern geprägt von Vorerfahrungen und gekennzeichnet von Routinen, die Anpassungsleistungen an die Institution Schule darstellen. Die Lernenden befinden sich in der Rolle von Schülerinnen und Schülern, sie sind abhängig und sollen lernen, was der staatliche Lehrplan vorgibt. Feedbacks können darum im didaktischen Kontext nie nur darin bestehen, die individuelle intrinsische Motivation zu belohnen. Sie sollen die Leistung immer auch im Blick auf die Ziele des Unterrichts bewerten – also auf einen gegebenen Kontext. Darum werden eben auch Anstrengungsbereitschaft und Durchhaltewillen bewertet.

Der Wert von Rückmeldungen

Didaktische Settings sind nicht überwachte Räume wie bei Rousseau, sondern poröse Lernlandschaften mit unterschiedlichen Formen des Lehrens und Lernens, die vor allem eine Möglichkeit der Lernkontrolle haben, nämlich das Feedback. Der Ertrag des Lernens wird nicht einfach verinnerlicht, sondern verlangt Bestätigung. Der Wert der Leistung hängt ab vom beglaubigten Urteil der Lehrerinnen und Lehrer. Schulen haben immer so operiert, auch wenn Psychologen etwas ganz anderes nahegelegt haben.

Selbst wenn die Macht äusserlich gegebener Bedingungen in der didaktischen Literatur gemieden oder normativ bestritten wird – ihre Wirkung entfalten sie trotzdem. Schülerinnen und Schüler lernen subversiv, nämlich wie die Anforderungen des Unterrichts umgangen werden können, oder strategisch, nämlich wie sich mit einem Minimum an Aufwand ein Maximum an Ertrag erreichen lässt. Schülerinnen und Schüler bilden sich ausserdem über Schule und Unterricht informelle Meinungen, die das tatsächliche Lernen oft mehr beeinflussen als das offizielle Lernsetting der Schule. In diesem Sinne lernen sie unvermeidlich die Schule.

Die Schülerinnen und Schüler können auch nur so tun, als ob sie «selbstreguliert» arbeiteten. Andererseits werden sie im Blick auf die Ziele den notwendigen Ressourceneinsatz kalkulieren und keineswegs immer «intrinsisch motiviert» vorgehen, schon weil kaum eine Schülerin und kaum ein Schüler sich für das gesamte Angebot der Schule gleich interessiert. Die Anstrengungsbereitschaft verteilt sich nicht einfach mit dem Interesse, so wichtig dieses auch sein mag, sondern reagiert auch auf Notlagen, etwa auf die Folgen der Nichterreichung von Lernzielen oder die drohenden Selektionen an den Schnittstellen und Übergängen der Schule.

Und jetzt? Folgen für die Lehrerbildung

Die «Psychologie der intrinsischen Motivation» ist etwa in der heutigen Lehrerbildung verbreitet. Im späteren Berufsalltag jedoch sind extrinsische Motivationen zum Lernen wenn nicht die Regel, so bestimmt nicht die Ausnahme. Das führt die Junglehrenden in ein Dilemma: Was das Lernen, auch das selbsttätige, stark herausfordert, nämlich Leistungsanforderungen, Prüfungen und Noten, erhält den Makel des «nichtintrinsischen» und scheint irgendwie falsch zu sein. Deshalb wird alles versucht, Lernangebote intrinsisch aussehen zu lassen, also weder mit Langeweile noch mit Routinen des Lernens zu rechnen.

Aber Kinder und Jugendliche gehen elf Pflichtjahre in die Schule und faktisch noch viel länger. Es wäre eine seltsame Überforderung, wenn die Motivation bei jedem Thema über die Jahre frisch und authentisch sein soll. Der Wunsch der Lehrerbildung wäre der Vater des Gedankens. Aber es ist schon schwierig, intrinsische Motivationen überhaupt auszumachen, wenn grössere Gruppen unterrichtet werden, die Zeit knapp ist und immer etwas vordringlich erscheint.

Für den Erfolg des Lernens ist auch nicht die Erfüllung einer Motivation entscheidend, sondern der Aufbau stabiler Interessen. Darauf hat als erster der deutsche Pädagoge Johann Friedrich Herbart hingewiesen, der in Bern Hauslehrer war und erleben konnte, wie flatterhaft und flüchtig blosse Neigungen sein können. Motivationen erwachsen aus Interessen, die nicht immer gegeben sind, und die Schwierigkeit des Lernens in ungeliebten Fächern ist die Überwindung der anfänglichen Barrieren. Erst dann wächst die Lernsicherheit in einem Fach, die in anderen Fächern fehlt, wenn ein Zugang nicht gefunden wird. Auch dann aber kann man Leistungen zeigen. Modelle sind wichtig, man darf sie nur nicht mit der Wirklichkeit gleichsetzen.


Literatur
John Dewey: The Middle Works 1899–1924, Vol. 6: How We Think, and Selected Essays 1910–1911. Herausgegeben von J.A. Boydston; Carbondale/Edwardsville: Southern Illinois University Press, 1985. Gilbert Ryle: The Concept of Mind. Harmondsworth/Middlesex: Penguin Books, 1970. Philosophische Ideen des Lehrens und Lernens (1798): Philosophische Ideen zu einer allgemeinen Theorie des Lehrens und Lernens als Einleitung in die allgemeine Erziehungswissenschaft. In: Philosophisches Journal, Band 8, 4. Heft, S. 303–357.

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