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Vanishing Syria

Ein Photoessay von Rudolph Jula. Mit literarischen Betrachtungen von Sibylle Lewitscharoff, Ilma Rakusa und Adolf Muschg.

Vanishing Syria
Böllerschuss zum Ende des Ramadan, Aramani Garden, Zentrum von Damaskus, Oktober 2010.

Rudolph Jula fliegt nicht. Der Schriftsteller reist. Mit dem Schiff, mit dem Zug – oder mit dem Auto, wo nötig. Als Reiseschriftsteller mit Dependancen in Zürich und Berlin, unterwegs stets nur mit dem Nötigsten – zuvorderst: Stift, Zettel und eine Lumix TZ20 –, galt sein Interesse immer dem Nahen Osten und insbesondere: Syrien. über viele Jahre hat er das Land bereist, erfahren, beschrieben, photographiert. Er dokumentierte das Leben in den Zentren von Aleppo und Damaskus mit dem Blick eines teilnehmenden Beobachters, eines En-passant-Anthropologen.

Zu Beginn des Jahres 2011 erhielt Jula letztmals ein Visum, die Einreise nach Syrien wurde ihm aber verwehrt – der Bürgerkrieg hatte begonnen. Heute ist Syrien nach jahrelangen Gefechten zerrissen, um nicht zu sagen: zerfetzt. Oder: Vergangenheit. 

Mindestens vier Millionen Syrer flohen seither aus ihrem Land, 7,6 Millionen, so aktuelle Schätzungen, sind innerhalb der Grenzen auf der Flucht. Jula bemerkte die Bewegung aus nächster Nähe: Zwischen 2011 und 2015 reiste er der syrischen Grenze entlang, vom Mittelmeer bis zum Tigris, rund 800 Kilometer, auf dem Landweg, hin und zurück. Immer öfter kreuzten dabei Flüchtlinge seinen Weg. Zuerst in kleinen, dann in grösseren Gruppen, irgendwann in Konvois. Als Jula am 4. September 2015 wieder eine syrische Grenze erreichte, er war Wochen zuvor aus Zürich aufgebrochen, kamen ihm Abertausende entgegen. Jula wurde Augenzeuge einer Epochenwende. 

Der folgende Photoessay zeigt das Leben in Syrien vor der Katastrophe. Oder wie es heute scheint: das Leben (in) einer verschwundenen Welt. Die älteren Aufnahmen werden kontrastiert mit aktuelleren Bildern jener, denen es gelang, dem Verschwinden zu entkommen.

Michael Wiederstein
Chefredaktor

Blick von der Zitadelle über die Innenstadt von Aleppo, 2008 (heute zerstört).

Ausfallstrasse in Aleppo, Stadtteil Al Masharika, 2009.

Kebab-Stände im Zentrum von Aleppo, nach dem Fastenbrechen, 2007.

Einkaufs- und Ausgehstrasse beim Bab al-Faradsch, Aleppo, 2010 (heute zerstört).

Langsamer Express-Zug von Aleppo nach Damaskus, nahe Hama, 2008.

Bild: Zug von Istanbul nach Aleppo, Blick aus dem Zugfenster, kurz nach der türkisch-syrischen Grenze bei Gaziantep, 2008.

 

Der Schein trügt

Was sehen wir? Eine friedlich hingebreitete Landschaft unter blauem Himmel, über die zarte Wolken hinwegziehen, von denen nur eine einzige ein klein wenig den Finger zu recken scheint. Kultiviert ist diese Landschaft, fleissige Menschen haben sie geformt, um aus ihr Nutzen zu ziehen. Man sieht keine Maschinen, keine Fahrzeuge, erst recht kein Kriegsgerät, nichts scheint den Frieden zu stören. In ordentlich angelegten Reihen stehen die grünenden Pflanzen auf den Feldern. Eine Anmutung von Paradies liegt über der Szene. Nur die drei quer den Horizont durchteilenden Oberleitungsdrähte signalisieren, dass es sich um ein Gebiet handelt, in das die moderne Welt bereits Einzug erhalten hat. Sässen obendrein Vögel auf diesen Drähten, könnte man von einem quicklebendigen Zwitscherparadies sprechen. Im Hintergrund erheben sich sanftmütig hingelagerte Berge, denen nichts Schroffes anhaftet. Nichts weist auf den nahenden Krieg, auf  Geschrei, auf verstümmelte Körper, zerstörte Häuser, abgeschlagene Köpfe und verhungerte Kinder. Die radikale Katastrophe, die alsbald über das ganze Land hereinbrechen wird, noch ist sie fern.


Sibylle Lewitscharoff
ist vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin. Zuletzt von ihr erschienen: «Das Pfingstwunder» (Suhrkamp, 2016). Lewitscharoff lebt in Berlin.

 

Konditorei am Al-Marjeh Square im Zentrum von Damaskus, 2010.

 

Dolce vita

Als enthielte dieses Foto mindestens drei Bilder: eine Studie zwischenmenschlicher Kommunikation, die Ansicht betörender orientalischer Süssigkeiten und – gespiegelt in der Vitrine der Konditorei – ein ausschnitthaftes Stadtpanorama mit Moschee, mehrstöckigen Häusern, Autos und sanften Hügelzügen im Hintergrund. Wir ahnen: die hier eingefangene Wirklichkeit ist komplex und vielschichtig.

Ach, diese kunstvollen Türme von Blätterteigpasteten mit Mandeln, Nüssen, Pistazien und Honig. Andere Köstlichkeiten liegen sorgfältig ausgestellt und beschriftet in Kartonschachteln: Schau, greif zu! Diese Konditorei scheint Menschen anzuziehen, hier trifft man sich zum Plausch, gern nach erfolgreicher Einkaufstour. Auffallend die jungen Frauen, elegant, mit schön frisiertem Haar, das nicht verhüllt, sondern offen zur Schau gestellt wird. Mit einer kühnen Spange als Blickfang. Dunkles Haar, dunkle mandelförmige Augen, olivfarbener Teint – keine Frage, wo wir uns befinden. Auch die Sehnsucht sieht hier anders aus. Sie trägt Rot, richtet sich aber leicht melancholisch nach innen. Plakativ wirkt nur die Einkaufstüte «Versai for Men». Wie kommt die mittlere Schöne dazu, in einem Herrenladen einzukaufen, dazu in einem, der fremdländische Labels führt? Völlig ungeniert hält sie die Plastiktüte am Rücken, soll jeder, der die Konditorei betritt, sie sehen. Und erleben, wie ungezwungen sich die Frauen unterhalten. Keine achtet auf den neugierig-begehrlichen Blick des Mannes. Mag dieser aus den Augenwinkeln herüberschielen, seis drum. Man ist sich seiner Sache und Schönheit sicher, definiert seine eigenen Regeln. Mit selbstbewusstem Ernst.

Ein Naher Osten, wie es ihn kaum noch gibt. Am allerwenigsten im kriegszerstörten Syrien, wo ein lässiger Frauenplausch in einer feinen Konditorei als anachronistischer Luxus gelten müsste. Doch das Bild lügt nicht: So war es einmal, seht her. Che bellezza! In dieser Schönheit liegt die Mahnung, sie nicht zu vergessen. Niemals.


Ilma Rakusa
ist vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin und literarische Übersetzerin. Von ihr zuletzt erschienen: «Impressum: Langsames Licht» (Droschl, 2016). Ilma Rakusa lebt in Zürich. 

 

Fussgängerbrücke Shoukry al-Qouwatly (Strasse der Revolution), Damaskus, 2010.

Syrer im Durchgangslager auf dem Glaubenberg-Pass (OW), zuvor Truppenunterkunft, Dezember 2015.

Syrer aus Aleppo, Damaskus und Qamishli auf dem Vierwaldstättersee, unterwegs zum Rütli, Dezember 2015.

Eingang zum Truppenlager Glaubenberg (OW), heute Durchgangslager für Asylbewerber, Dezember 2015.

Palästinensischer Junge aus Syrien mit Tell-Büchlein in Arabisch, Altdorf, 2015.

 

Ein Augen-Blick unserer Geschichte

Ein illustriertes Kinderbuch mit der «Tell»-Geschichte, ins Bild gehalten von weissen Händen mit winterlich verkleideten Ärmeln. Dahinter zwei angeschnittene Körper: eines zugewendeten Zuschauers, mit Händen in den Taschen seiner grauen gepolsterten Windjacke, und einer abgewendeten Passantin mit rotem Mantel, blauen Strümpfen und roten Schuhstulpen. Auf der rechten Seite ist die Strasse gepflästert, die grössere linke Seite mit Steinplatten belegt, vermutlich Granit, deren gestufte Anordnung auf den Fuss eines Denkmals deutet, dasjenige Tells (mit Sohn) in Altdorf.

Die Apfelschussszene ist auf der Doppelseite des Bilderbuchs abgebildet. Links sieht man Tell mit Schlapphut und rotem Umhang, der neben einem offensichtlich bestürzten blau kostümierten Landsmann, die Armbrust auf dem gewinkelten Arm, zum Schuss anlegt. Auf der rechten Bilderbuchseite fliegt der Pfeil schon mitten durch den grünen Apfel, der vom Kopf des Tellenknaben Walther abgehoben hat, ohne ihn zu verletzen. Der Junge steht bildfüllend kerzengerade, mit Elvis-Presley-Haartracht und grünem Mäntelchen über rotem Oberkleid, während sein Gesicht mit niedergeschlagenen Augen ein selbstgefälliges, schon fast mokantes Lächeln zur Schau trägt. Das war Tells Geschoss! Der Vater hat es allen gezeigt!

Die Bildlegende ist arabisch. Auf dem Foto ist nur ein einziges reales Gesicht zu sehen, gross, auf der linken Bildseite. Es gehört einem Jungen mit nicht ganz fremden, aber auch nicht recht vertrauten Zügen, ein kleiner Flüchtling, ebenfalls winterlich verpackt, mit dunkelroter Halsbinde. Was oder wer immer auf dem Granitsockel verewigt sein mag: er steht mit dem Rücken dazu, dem Menschen mit dem Bilderbuch zugewandt, dessen Gesicht wir nicht sehen. Wir wissen auch nicht, ob er oder sie dem Jungen die Tell-Sage arabisch vorlesen kann oder sich mit einer Art Deutsch oder Englisch behelfen muss; sie ist ja allbekannt. Das Gesicht des Jungen gibt kein Verständnis zu erkennen, noch weniger fesselt ihn die Geschichte. Er hat die Lippen leicht offen und strähnig verwirrtes dunkles Haar.

Aber es ist sein Blick, der das Bild bemerkenswert macht.

Seine dunklen Augen hat er zu denjenigen des Vorlesers gehoben; prüfend? Forschend? Jedenfalls fragend, eher unsicher als misstrauisch. Sie fragen: Wer bist du? Was willst du mir wirklich sagen? Was soll ich mir merken? Die Sage vom Tell ist es nicht. Dieser Blick des Kindes hat sich auf der Flucht daran gewöhnt, dass andere Menschen nicht sagen, was sie meinen, und nicht meinen, was sie sagen. Nur ihre Befehle sind unmissverständlich – aber auch da sind sie sich nicht immer so sicher, wie sie klingen.

Der Blick des Jungen weiss schon, dass sogar Menschen, die offensichtlich hilfsbereit und wohlwollend auftreten, so ratlos sind wie er selbst. Sie kennen die Geschichte nicht, in die sie geraten sind, darum können ihre Erzählungen nur Vermutungen sein, Behauptungen, Abfindungen, die für einen Tag gelten, und am nächsten schon nicht mehr.

In diesen Augen zeigt sich, was wir «Geschichte» nennen, oder «Flüchtlingswelle» oder «Migration», so bodenlos, wie es ist, und ihre Lösungsversuche so hilflos wie wir. Der Mensch, das unbekannte Geschöpf. Darum kommt uns der Blick des Jungen so bekannt vor, dass wir augenblicklich den Reflex spüren, ihn abzuwehren, wenn wir nur wüssten wie. Hilfeleistung, was sonst, besser als nichts. Aber das grosse Nichts dahinter steht unvermindert.

Übrigens hat Schiller, als Künstler, auch seinen Tell als Unwissenden angelegt. Der ratlose Monolog vor dem zweiten, dem tödlichen Schuss hat nichts Befreiendes. Als Kunstgeschöpf hat Schillers «Tell» mit der Freiheitsgeschichte, die wir uns von ihm erzählen, so wenig zu tun wie diese mit unserer Wirklichkeit.

Es ist diese unerzählte Geschichte des Menschen, auf welcher der Blick des Jungen auf dem Bild haftet. Darum lässt es uns, seine Betrachter, nicht los.


Adolf Muschg
ist Schriftsteller. Von ihm zuletzt erschienen: «Die japanische Tasche» (C. H. Beck, 2015). Muschg lebt in Männedorf.

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