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Transhumanismus und die Zukunft des Kapitalismus

Die hochtechnisierte Welt lässt von paradiesischen Zeiten träumen, die den Menschen von lästiger Arbeit befreien. Was aber, wenn die Technik auf den Menschen übergreift?

Noch existiert keine eindeutige Definition des Begriffs «Transhumanismus». Weit gefasst versteht man darunter die Idee, die menschliche Spezies einer radikalen technischen Umgestaltung zu unterziehen – so wie unsere physische Umwelt bereits zu einer hochtechnisierten geworden ist. Es soll hier das Verhältnis von Transhumanismus und Kapitalismus untersucht und ein Ausblick gewagt werden, was es bedeuten würde, eine Person in einer solchen Welt zu sein.

Menschen und Objekte

Der Kapitalismus steht nicht gerade im Ruf, eine besonders «humanistische» Ideenlehre zu sein. Doch die rechtlichen Innovationen, die im sogenannten Westen den Aufstieg des Kapitalismus in der frühen Neuzeit vorbereitet haben, gehen von der «Person» als zentralem Grundgedanken aus: eine Person nämlich als ein Wesen, das frei darin ist, Güter und Dienstleistungen zu tauschen. Im 18. Jahrhundert wurde diese Freiheit als ein «unveräusserliches Recht» bezeichnet, was heisst: sie lässt sich nicht an jemand anderen übertragen, weder aus freien Stücken noch unter Zwang.

So institutionalisierte sich eine strenge, normative Unterscheidung zwischen Menschen und Objekten, die in den Sklaven- oder Feudalgesellschaften zuvor nicht existiert hatte. Die marxistische Kritik am Kapitalismus stellt diesen Fortschritt in Frage und argumentiert, in der Praxis finde diese Unterscheidung keine Anwendung. Stattdessen werde das angeblich unveräusserliche Recht zu einem Schauplatz der Ausbeutung, weil asymmetrische Machtverhältnisse im Markt menschliche Arbeit auf unmenschlichen Kapital-Input reduzierten.

Grenzen der Arbeit

Der Transhumanismus fordert nun die ontologische Stabilität der Menschheit an sich heraus. Jenes Selbstverständnis als seiende Einheiten, das kapitalistische wie sozialistische Weltanschauungen teilen und das Ausbeutung in der modernen Zeit überhaupt erst zu einer derart umstrittenen Frage werden liess. Um dies klarzustellen: in den letzten 150 Jahren wurden die Möglichkeiten zur Ausbeutung kontinuierlich eingedämmt, indem Gesetze geschaffen wurden, die die Bedeutung der Arbeit für das Leben begrenzt und reguliert haben. Ist man heute zwar darauf angewiesen, seine Arbeitskraft zu verkaufen, um sein Leben zu bestreiten, so gewährt man dem Käufer damit nicht das Recht auf bedingungslose Kontrolle über das eigene Leben. Die Rechtsprechung des Wohlfahrtsstaats diente als Schutz gegen Marx’ schlimmste Befürchtungen.

Und dennoch: von welchem Menschheitsverständnis die verschiedenen politischen Richtungen auch ausgehen, jedes wird sukzessive untergraben von der informationsbasierten Produktionsweise, die charakteristisch für das ist, was Jean-François Lyotard ursprünglich das «postmoderne Wissen» nannte. Besonders seit Computer alle Lebensbereiche, Arbeits- wie Freizeit, moderieren, verschwinden viele phänomenologische Kennzeichen rasant, die einst die Distanz zwischen den «Welten» der Arbeit und der Nichtarbeit markiert hatten.

Dazu gehört sicherlich das fast schon offensichtliche Beispiel der Idee des «Home Office». Die so tätigen Personen springen nicht selten zwischen offiziellen und privaten Aktivitäten am Bildschirm hin und her, oft in unstrukturiertem Tagesablauf ohne erkennbaren Feierabend. Derweil sammeln die Informationsanbieter (z.B. Google, Facebook, Amazon) Daten all dieser Aktivitäten, analysieren und führen diese zusammen, um sie anschliessend an Kunden aus dem privaten und öffentlichen Sektor wiederzuverkaufen.

Der neue Sinn des Lebens

Ist das Ausbeutung? Die Antwort darauf ist gar nicht so klar. Die Informationsanbieter stellen eine Plattform bereit, die zum Zeitpunkt der Benutzung frei zur Verfügung steht und Benutzern ermöglicht, unendlich viele Daten zu produzieren und zu konsumieren. Solche Plattformen sind für Nutzer zugleich Anlass zu heftiger Frustration als auch zu unendlichem Entzücken, aber die Phänomenologie dieser Erfahrungen ist nicht zwingend dieselbe, wie man sie von Menschen im Zustand der «Ausbeutung» erwarten würde. Ganz im Gegenteil gibt es gute Gründe anzunehmen, dass Personen «Sinn» im Leben immer mehr in einer Cyberprojektion («Avatar») ihrer selbst verorten, ungeachtet der Besitzverhältnisse Dritter – nämlich der Plattformen, die diese Cyberprojektionen zur Verfügung stellen.

Der Transhumanismus klingt bereits an in dieser Bedeutungsverschiebung der eigenen «Persönlichkeit». Mein eigenes Verständnis von Identität mag an die Vorstellung gebunden sein, das Leben als Teil der Gattung Homo sapiens, zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, begonnen zu haben. Doch das ist weitgehend eine moderne narrative Konvention, die an das von John Locke formulierte Verständnis einer Person im «forensischen» Sinne anschliesst. Dieses findet sich in der neuzeitlichen Gesetzgebung eingeschrieben, namentlich: der physische Urheber einer Handlung, für deren Konsequenzen dieser Urheber zur Rechenschaft gezogen wird. Diesem Individuum wird selbstverständlich Handlungsspielraum im Erweitern und Übertragen seiner Potenziale zugestanden. Entsprechend hat die Neuzeit auch einen Ausbau des Gesellschaftsrechts wie des Erbrechts erlebt. Doch der Transhumanismus hebt diesen Prozess des «Erweiterns» und «Übertragens» der Potenziale einer Person auf eine ganz neue Stufe.

Einerseits, im Falle einer Erweiterung, kann eine Person genetisch oder prothetisch in der Absicht modifiziert werden, dem ursprünglichen physischen Individuum neue Potenziale zu verleihen – anstatt nur die Interessen des Individuums mit den Interessen anderer Individuen zusammenzuführen, so wie es in Geschäftsübereinkünften die Regel ist, die wir «Gesellschaften» nennen. Auf der anderen Seite, im Falle der Übertragung, könnte eine Person ihre Potenziale nicht nur an existierende Individuen und Institutionen vermachen – zum Beispiel per Testament, das im Todesfall in Kraft tritt. Vielmehr könnte sie während ihrer Lebenszeit ihre Energie und ihr Einkommen in virtuell handelnde Agenten, sogenannte «Zweitleben» investieren. Das eigene physische Selbst würde so nur noch zu einer Plattform, um die verschiedenen, viel bedeutenderen Online-Selbste loszuschicken.

Potenzierte Probleme

Der Zustand der Menschheit im transhumanisierten Kapitalismus – «Kapitalismus 2.0», wenn Sie so wollen – ist der einer morphologischen Freiheit, wie Transhumanisten sie nennen: Es ist die Freiheit, nicht nur zu tun, was man will, sondern auch zu sein, was man will.

Bedeutend ist die Feststellung, dass eine solche Freiheit mit einer metaphysischen Grundannahme bricht, von der viele Progressive wie Sozialisten ausgehen: namentlich, dass Menschen annäherungsweise natürlich Gleiche sind. Das bedeutet nicht, dass sie alle Menschen als von Natur aus genau gleich sehen, sondern nur, dass sie davon ausgehen, dass jeder und jede eine ähnliche Mischung an Stärken und Schwächen mit sich bringt, was eine einigermassen ausgeglichene Arbeitsteilung in der Gesellschaft rechtfertigt. Die Aussicht auf morphologische Freiheit sprengt diese Grundannahme einer «natürlichen Gleichheit» des Menschen. Es ist davon auszugehen, dass dies die Fragen sozialer Gerechtigkeit angesichts materieller Ungleichheit noch potenzieren wird, die die Geschichte des Kapitalismus begleitet haben.


 

Der vorliegende Essay erschien erstmals auf dem Blog Europp – European Politics and Policy der London School of Economics and Political Science. Der Autor empfiehlt zur weiteren Lektüre die Werke von Robert Nozick und Derek Parfit. Aus dem Englischen übersetzt von Serena Jung.

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