Wir brauchen Ihre Unterstützung — Jetzt Mitglied werden! Weitere Infos

Tour d’Innovation

An den Fachhochschulen arbeiten Forscher, Unternehmer und Bürger zusammen an den Verfahren und Geräten, die unser Leben – oft auf einen Schlag – erleichtern. Die Pflege optimiert ihre Leistungen durch Technik, Schmerzen werden durch grafische Darstellungen kommunizierbar und Quartiere nicht mehr architektonisch geplant, sondern von ihrer räumlichen Bedeutung her gedacht. Kurz: hier entsteht Innovation. Ihre […]

Tour d’Innovation
Work in progress an der International Design Summer School 2016 der ZHdK, organisiert von Michael Krohn und Hansuli Matter. Studierende aus Indien, China und der Schweiz erarbeiteten zusammen neue Projekte zum Thema Frugal Design. Hier: Eine Gruppe gestaltet aus PET-Flaschen einen Prototypen. Bild: ZHdK.

An den Fachhochschulen arbeiten Forscher, Unternehmer und Bürger zusammen an den Verfahren und Geräten, die unser Leben – oft auf einen Schlag – erleichtern. Die Pflege optimiert ihre Leistungen durch Technik, Schmerzen werden durch grafische Darstellungen kommunizierbar und Quartiere nicht mehr architektonisch geplant, sondern von ihrer räumlichen Bedeutung her gedacht. Kurz: hier entsteht Innovation.

Ihre gängige Definition lautet: Wissenschaftliche Erkenntnisse nutzbar machen und durch Investitionen auf einen Markt bringen, der existiert. Wir haben Projektverantwortliche aus naturwissenschaftlich-technischen und sozial-künstlerischen Fächern und Projekten getroffen und sie gefragt: Was versteht ihr unter Innovation? Wie sieht sie bei euch konkret aus? Auf welchen Markt tragt ihr eure Erkenntnisse? Und in welcher Währung messt ihr die Wirkung?

Entstanden ist eine Tour d’Innovation, die dazu beiträgt, einen inflationär gebrauchten Begriff mit konkreten Inhalten zu füllen, um somit Anregungen für Problemlösungen bei Vergleich- und Messbarkeit zu liefern. 


 

1 Mut haben

Die technischen Bereiche kennen sich mit Innovationen aus – halten sie diese doch Tag für Tag in Händen, um neue Innovationen zu schaffen. Aber auch mit handfesten Argumenten braucht es die Überzeugungskraft der Forscher.
Ronnie Grob trifft Alex Simeon

Die Hochschule für Technik Rapperswil (HSR) ist nicht zu verfehlen, sie befindet sich gleich am Bahnhof. Junge Männer, wohin man blickt. Drei davon stehen an einem Stehtisch um einen Laptop und diskutieren über einen Riemen und einen Motor, andere arbeiten konzentriert am Laptop oder lesen. Dass Frauen hier ausschliesslich in der Cafeteria arbeiten, kann man nicht behaupten. Aber viele sind nicht zu sehen, auch wenn mich Alex Simeon nach einer Bemerkung meinerseits auf jede Frau hinweist, der wir bei einem kurzen Rundgang durch die Hochschule, die mehr wie ein Werkbetrieb wirkt, begegnen. Unter dem HSR-Dach sind neben den rund 1600 Studierenden in acht Studiengängen auch insgesamt 17 Forschungsinstitute mit insgesamt rund 200 wissenschaftlichen Mitarbeitern zu Hause: für Software, Kommunikationssysteme, Laborautomation und Mechatronik, Anlagen- und Sicherheitstechnik, Umwelt- und Verfahrenstechnik, um nur einige zu nennen. Die Institute forschen an neuen Stromnetzen, entwickeln Rollstuhlskis oder münzgrosse Implantate, die das Knochenwachstum überwachen. Rund vierhundert aF&E-Projekte sorgten 2014 für einen Gesamtumsatz von 29,2 Millionen Franken; das ist fast dreimal so viel wie 2004. «Als Fachhochschule machen wir ja keine Grundlagenforschung, sondern anwendungsorientierte Forschung», erzählt Simeon. «Das heisst: wir gehen von einer realen Problemstellung aus und versuchen, die Bedürfnisse der Industrie abzuholen.» Der Forschungsimpuls kommt meist von der Industrie aus, denn Budgets, um ins Blaue hinaus zu forschen, gibt es bei der HSR keine. Auch die Finanzierung kommt typischerweise aus der Privatindustrie, im Bereich Elektrotechnik etwa zu 95 Prozent. In anderen Bereichen wie der Raumplanung oder der Landschaftsarchitektur sind der Bund und die Kantone verständlicherweise stärker involviert. Weil viele Forscherinnen und Forscher an der HSR auch ein Lehrpensum haben, fliessen die Innovationen aus den Instituten direkt an die Studierenden weiter.

Innovation ist für Simeon vor allem Produktinnovation: «Man muss etwas in der Hand halten, das auch genutzt wird. Eine Innovation ist es ja nur, wenn sie im Markt besteht und funktioniert. Ist das nicht der Fall, sollte man von einer Idee, nicht von einer Innovation reden.» Ein solches Produkt ist beispielsweise Creamelt, ein seit 2015 von HSR-Ingenieuren entwickeltes und produziertes Kunststoff-Filament. Das ist das Material, das die Grundlage für Produkte aus dem 3-D-Drucker bildet. Die Creamelt-Produktlinie TPU-R etwa besteht zu 100 Prozent aus rezyklierten Skischuhen. «Bei der Erschaffung einer Innovation ist die Innovationsmethode nicht produktabhängig, die Prinzipien sind immer die gleichen», sagt Simeon weiter: «Wir verwenden Methodiken und können sie für verschiedene Anwendungen gebrauchen. So beruhen unterschiedliche Produkte wie Fruchtgummi und Fensterdichtungen beide auf dem Prinzip des Extrudierens.» Wir beenden den Rundgang auf dem Dach, wo die verschiedensten Varianten von Sonnenkollektoren zu sehen sind. Als weltweit akkreditiertes Prüflabor zertifiziert das Institut für Solarenergie SPF-Kollektoren und prüft sie beispielsweise auf die Beständigkeit gegenüber Naturgefahren.

Zwei Punkte sind Alex Simeon besonders wichtig: die Bereitschaft, Neues zu erschaffen, und die Kommunikation zwischen der Industrie und der Wissenschaft. Auch wenn die Schweiz in vielen Bereichen eine Vorreiterrolle spielen könnte, beklagt Simeon, stehe dem Angehen von neuen Dingen oft Sicherheitsdenken im Weg. «Es ist nicht mal die Angst vor einer neuen Technologie ausschlaggebend, sondern die Angst vor einer finanziellen Einbusse. Wir müssen jedoch den Mut haben, innovativ zu sein, und dürfen uns nicht auf unserem Wohlstand ausruhen.» Start-ups seien auch deshalb so wichtig, weil die meisten Innovationen von ihnen ausgingen. Potenzial gebe es im Bereich Kooperation. Wenn Start-ups völlig abgegrenzt vor sich hinwerkelten, sei das nicht ideal. Start-ups müssten vermehrt mit etablierten Firmen und mit der Wissenschaft verbunden werden. Das gelte auch für Kontakte zu ausländischen Firmen und Forschern. Die Kompetenzen dafür stellt das 2012 gegründete HSR-Institut für Kommunikation und Interkulturelle Kompetenz bereit.


 

Alex Simeon
ist Leiter des Zentrums für Produktentwicklung und Prorektor für anwendungsorientierte Forschung und Entwicklung an der Fachhochschule Ostschweiz – Hochschule für Technik in Rapperswil.


 

2 Nennen wir sie Frau Müller

Wenn Senioren und Wissenschafter gemeinsam das Pflegewesen revolutionieren.
Sarah Amstad trifft Sabine Hahn

Frau Müller, eine 86jährige Seniorin, stürzt in ihrem Badezimmer und liegt für mehrere Minuten reglos auf dem Boden. Als sie wieder zu sich kommt, ruft sie um Hilfe. Erst nach einer Stunde hören die Nachbarn ihre Schreie und alarmieren die Rettungskräfte.

Das Szenario greift ein Thema auf, das mit der demographischen Entwicklung der Schweiz an Wichtigkeit gewinnt: Wir werden immer älter, bleiben auch länger mobil – aber wenn es darauf ankommt, ist die nächste Verbindung zur Hilfe trotzdem nicht selten ausser Reichweite. Das soll sich ändern. Der Fachbereich Gesundheit der Berner Fachhochschule (BFH) hat in Zusammenarbeit mit dem Departement Technik & Informatik einen Sensor entwickelt, der bei einem Sturz einen Alarm auslöst. Lanciert wurde das Projekt mit dem Namen AIDE-MOI im Jahr 2014 in Zusammenarbeit von Prof. Dr. Sabine Hahn, Leiterin der Abteilung Angewandte Forschung & Entwicklung / Dienstleistung Pflege, mit Martin Kucera, Elektro- und Kommunikationstechnik der BFH. Entgegen der plausiblen Annahme, dass Innovation in den Sozialwissenschaften nur schwer messbar ist, wurde ein Produkt entwickelt, das durchaus ein gefragtes Novum ist. Die Innovation ist allerdings nicht der Sensor selbst, sondern die Entwicklung des Geräts gemeinsam mit den Seniorinnen und Senioren. Mittels Fokusgruppeninterviews und Diskussionen des noch nicht funktionsfähigen Prototypen (Mock-up) des Sturzsensors und des dazugehörigen Smartphones wurden Teilnehmende wie Frau Müller zu Vorlieben, Vorstellungen, Wünschen und Anregungen befragt – und so in die Entwicklung des Sensors miteinbezogen. Anschliessend trugen sie den funktionsfähigen Sensor während einer Woche auf sich und prüften ihn im Hinblick auf Tragekomfort, Bedienung und Nutzen. Auch die dazugehörige App im Smartphone wurde diesem Test unterzogen. Das Innovative an diesem Projekt ist gemäss Hahn die methodische Vorgehensweise: der Einbezug von betroffenen, älteren Menschen und der dadurch generierte Wissens- und Informationsaustausch zwischen Entwicklern, Forschern und Anwendern. Frau Müller und viele andere werden das nutzerzentrierte Produkt rasch und für sie unkompliziert verwenden können.

Ganz so konkret wie bei dem eben erwähnten Produkt zeige sich Innovation im Gesundheitswesen nicht immer, sagt Frau Hahn im persönlichen Gespräch. Es seien mehrheitlich Verfahren, die durch Kooperation von Forschenden mit Patienten und der Praxis entstünden, nicht Produkte. Ihr Erfolg könne nicht so klar gemessen werden wie derjenige einer funktionierenden Technologie, dennoch lasse sich untersuchen, welche Verfahren sich als nützlich erwiesen und welche nicht. Erstere werden durch regelmässige Anwendung in die Pflege integriert, und ihre Wirksamkeit kann aus Sicht der Pflegepraxis und der Patienten untersucht werden. Andere kommen mangels Umsetzbarkeit oder Wirksamkeit nicht mehr zum Einsatz.

Hahn arbeitete 15 Jahre als diplomierte Pflegefachfrau Psychiatrie, bevor sie im Jahr 2000 das Master-of-Nursing-Science-Studium an der Universität Maastricht (NL) aufnahm und später promovierte. Es seien vor allem die eigenen Praxiserfahrungen, bei denen erste Forschungsfragen entstanden seien und ihr Interesse an einer Forschungsstelle im Bereich Pflege ausgelöst hätten, sagt sie. Zusammen mit rund 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern forscht und wirkt sie nun eng mit Gesundheitsorganisationen zusammen, kennt deren Bedürfnisse und Vorgänge. Die Etablierung dieser Akademie-Praxis-Partnerschaften sei ein ebenso wichtiger wie nötiger Schritt für die Schweiz gewesen, so Hahn. «Die Praxisbetriebe und die Hochschulen sind auf eine enge Zusammenarbeit angewiesen, damit die Forschung nutzbringende Resultate erarbeiten kann.» Bereits die Tatsache, dass es nun seit 2006 überhaupt Forschung in der Pflege gebe, ist laut Hahn aber diejenige Innovation, die sich jeden Tag aufs neue für die Patienten auszahle und sich auch im hervorragenden Ruf des Schweizer Pflegewesens widerspiegle.


 

Prof. Dr. Sabine Hahn
ist Leiterin der Abteilung Angewandte Forschung & Entwicklung / Dienstleistung Pflege der Berner Fachhochschule.


 

3  Katalysator gesellschaftlicher Veränderungen

Design ist längst mehr als das Gestalten noch schönerer Gegenstände oder noch imposanterer Gebäude. In der Ausprägung des «Social Designs» ist es zur Disziplin geworden, die Fachgrenzen überwindet und zusammenbringt, was getrennt war. Zu Besuch in der Gegenwarts- und Zukunftswerkstatt der ZHdK.
Gregor Szyndler trifft Hansuli Matter & Michael Krohn

Bei «Design» denke ich an Stühle oder Sparschäler. Oder an so ikonische Gebäude wie die ehemalige Toni-Molkerei, in der heute die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) beheimatet ist. Bei «Social Design» allerdings weiss ich nicht, an was ich denken soll. Um das zu ändern, treffe ich mich mit Hansuli Matter, dem Direktor des Departements Design, und Michael Krohn, dem Leiter des Masterstudiengangs in Design der ZHdK.

«Social Design», erklären mir die beiden, «ist Design mit messbarer Wirkung in sozialen Kontexten. Beispielsweise eine Installation, mit der Flüchtlinge Deutsch im Alltag lernen. Oder die grafische Umsetzung von Schmerzen, die das Patienten-Arzt-Gespräch erleichtert», sagt Matter. Krohn ergänzt: «Viele gesellschaftliche Herausforderungen können heute nur noch durch bessere Systeme, Prozesse und neue Sichtweisen bewältigt werden.»

Ich frage nach konkreten Beispielen. Krohn beugt sich vor. «In einem Altersheim berichten die Bewohner aus ihrem Leben, eine ZHdK-Studentin schreibt mit und gestaltet gemeinsam mit den Bewohnern eine auf deren Lesebedürfnisse angepasste Zeitung. Die Bewohner blühen auf, und nach der Publikation hinterfragen die Leser die weitverbreitete Vorstellung, dass alte Menschen ins Altersheim gebracht werden und dort dann bitte tunlichst verschwinden sollen.»

«Klar, das könnten auch Sozialarbeiter tun», nimmt Hansuli Matter meinen Einwand vorweg. «Aber das Gestalten dieser Zeitung hilft den alten Menschen direkt beim Erzählen. Das Design dient als Katalysator gesellschaftlicher Veränderungen.»

Bei mir persönlich hilft das Gestalten journalistischer Texte allenfalls bei der Bewältigung von Deadlines. Schön, dass dieselbe Arbeit so unmittelbaren Einfluss auf gesellschaftliche Rollenverteilungen haben kann!

«Social Design richtet sich aber nicht nur an Leser oder einzelne Entscheidungsträger, sondern auch an Organisationen», sagt Hansuli Matter. «So buchten etwa die Zürcher VBZ einen Workshop zu Innovation und Kreativität. Man wollte wissen: wie kann über die bisherigen Dienstleistungen und Produkte hinausgedacht werden?»

«Für Unternehmen besteht eine aktuelle Herausforderung nicht mehr darin, wie man etwas in Zukunft machen soll, sondern was man machen soll», erklärt Michael Krohn. Innovation kann für die VBZ heissen, dass der Bus nicht mehr nur bis zur Haltestelle fährt, sondern vielleicht einmal bis vor die Haustür der Fahrgäste. Social Design schafft dahingehend Mehrwert, dass neu entstehende Bedürfnisse und bestehende Infrastrukturen erstmals zusammengedacht werden.

Dabei überwindet der Ansatz von Matter, Krohn und ihren Social-Design-Kollegen nicht nur Fachgrenzen, sondern auch Kontinente. So pflegt man Austauschprogramme mit Institutionen in China und Indien. Auf diese Weise durchbrechen die Studierenden, aber auch die Dozenten eingefahrene Sehens- und Schaffensgewohnheiten. Es entstehe eine, wie ich finde, reichlich abstrakte Art von Innovation.

«Wie misst nun aber die ZHdK ihre Innovationskraft ganz konkret?» – «Wir zählen, anders als die Universitäten, keine Zitationen und Nobelpreisträger», erwidert Michael Krohn. Auch Innovationsrankings sind für die beiden nicht so wichtig – denn, so betonen sie, ihre Studierenden entscheiden sich aufgrund anderer Kriterien für die ZHdK. Etwa, weil im Toni-Areal ganz verschiedene Disziplinen unter einem Dach versammelt sind, was Synergien freisetzt und Grenzgänge ermöglicht. «Wir wollen nicht noch bessere Malerinnen oder Möbeldesigner ausbilden. Wir wollen die Diffusion des Erarbeiteten in die Gesellschaft.»

Dabei helfen soll der Z-Kubator, ein Inkubator, der seinen Betrieb im Herbst 2016 aufgenommen hat. Es geht darum, an der ZHdK entwickelte Ideen auf den Markt zu bringen. Denn die ZHdK hat ein Problem erkannt, das Krohn wie folgt umreisst:

«Was geschieht zwischen dem Masterabschluss und der Marktreife einer Idee?» Seine Antwort folgt sogleich: «Zu oft geben Studierende ihre Projekte nach dem Abschluss einfach auf. Schade, denn ihre Projekte sind nicht selten komplex und qualitativ hochstehend.» Und Matter ergänzt: «Bei der Ausarbeitung ihrer Projekte sind die Studierenden mit ähnlichen Aufgaben konfrontiert wie die Forschungs-und-Entwicklungs-Abteilungen grosser Firmen. Sie sind vom Design übers Finden von Projektpartnern bis zu finanziellen Fragen für alle Aspekte verantwortlich – eigenverantwortlich und unternehmerisch. Bewähren ihre Ideen sich auf dem Markt, ist das ein greifbarer Indikator für die Innovationskraft der ZHdK.»


 

Hansuli Matter
ist Direktor des Departements Design an der ZHdK sowie Professor für Design. Er war als Architekt und IT-Verantwort-licher bei Herzog & de Meuron tätig. Einer seiner Schwerpunkte ist Computer Aided Architectural Design. Michael Krohn ist Leiter des Master-studiengangs Design und der Vertiefung Industrial Design an der ZHdK. Ausserdem ist er Gastdozent an der ETHZ und der ZHWIN und Mitinhaber der FORMPOL AG Zürich.


 

4  Die Stadt von morgen

 Ob Fahrrad, Tram oder Auto – jeder Bürger und jede Bürgerin entscheidet mit, wohin sich unsere Städte entwickeln.
Serena Jung trifft Matthias Drilling

«Ich stelle allen, die hier arbeiten wollen, auch Fragen, mit denen sie nicht gerechnet haben – um zu sehen, ob sie an Disziplingrenzen haltmachen oder darüber hinausdenken können», sagt Matthias Drilling, nachdem er sich für seine Verspätung entschuldigt hat, der Bewerberin im Nebenzimmer wegen. Um nahtlos anzuschliessen: genau darin bestehe die Arbeitsweise hier am Institut Sozialplanung, Organisationaler Wandel und Stadtplanung, das zur Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz gehört.

In seinem kleinen Büro hängen die Nutzungspläne der Gemeinde Suhr, im Bücherregal stehen Bücher über Gemeinschaftsgärten, demokratische Stadtentwicklung und Karl Poppers «Objektive Erkenntnis». Am Ende unseres Gesprächs werden wir genau darüber gesprochen haben: eine Gemeinde im Umbruch, Gärten als Kommunikationsorte, das Durchbrechen des etablierten politischen Diskurses und das Fehlen von Antworten – zumindest abschliessenden. Über die Hochschule sind Drilling und sein Team mit mehr als 800 Praxisorganisationen vernetzt und in den Forschungsprojekten beraten sie viele Gemeinden und Verwaltungen. «Wir schaffen es dort, in Prozesse einbezogen zu werden, von denen Personen aus der Sozialen Arbeit zwar immer betroffen sind, für sie aber überhaupt nie vorgesehen waren.» Innovation, das heisst für Drilling immer auch: Risiko. Dabei gelte es, dieses nicht mit Unsicherheit zu verwechseln, denn: Risiko, so Drilling, lässt sich kalkulieren. «Etwas unter den Innovationsaspekt zu stellen heisst: erst mal alle Gesetze ausser Kraft setzen. Nichts als selbstverständlich erachten», ergänzt er, «ausser der Art und Weise, wie wir über ein Thema denken wollen: regelgeleitet, reflektiert, theoriebasiert, praxisorientiert.»

Suhr also: die aargauische Gemeinde zählt 10 000 Einwohner, grenzt an die Stadt Aarau – deren Fussballstadion Brügglifeld noch auf Suhrer Grund liegt –, hat ein grosses Gewerbegebiet, in dem aber in den letzten Jahren viele Arbeitsplätze abgebaut wurden. Sie liegt autobahnnah und möchte ihre südlichste Parzelle so umbauen, dass die beiden angrenzenden Bezirke – jene mit den höchsten Sozialkosten – sich mitverändern. Bloss wie? Drillings Team wurde angefragt, ein Konzept für die Entwicklung dieser Quartiere zu erarbeiten. Seine Antwort: «Das können wir, aber wenn ihr wirklich etwas ändern wollt, gebt ihr uns den Auftrag, die ganze Gemeinde mitzuuntersuchen – das hängt nämlich alles zusammen.» Ein «Milieu des Nachdenkens» erzeugen sie hier am Institut, so Drilling, das Fragen aufwirft, die mit den oben genannten Fakten nicht unbedingt Hand in Hand gehen, aber gestellt werden müssen, will man eine Gemeinde von ihrer sozialräumlichen Bedeutung her betrachten: Ist Suhr eine Agglomerationsgemeinde? Und wenn nicht, was dann? Wie geht man in einer Gemeinde miteinander um, in der ein erheblicher Teil der Bevölkerung sich nicht über Arbeit definieren kann? Wie viele Bewohner fahren morgens weg und kommen erst abends wieder zurück? Welche Bedeutung kommt der grossen Strasse, die mitten durch das Dorf verläuft (und an der so viele Liegenschaften leerstehen), noch zu? Und: was kann man auf der genannten Parzelle baulich ändern, das einen Einfluss auf das soziale Gefüge und das Zusammenleben in der ganzen Gemeinde hat? Also hat das Team um Drilling im Gespräch mit Anwohnern, Unternehmen und Vertretern der Verwaltung über ein halbes Jahr hinweg das Fachkonzept «Soziale Quartierentwicklung» erarbeitet, das die Bevölkerung mit einem Zeithorizont von vier Jahren und einem Budget von 750 000 Franken angenommen hat. Kurz: es wird viel investiert für ein Projekt mit Aussicht auf einen Mehrwert, der sich nicht unbedingt in Geldeinheiten ausdrücken lässt, sondern eher auf der Ebene der Lebensqualität, der Wohnzufriedenheit und dem Image einer Gemeinde.

Der Begriff «Quartier» ist für Drilling in diesem Falle hochinnovativ: «Die Architektur versteht darunter oft eine bestimmte städtebauliche Zeit, in der mit grossen Entwürfen versucht wurde, über das Bauen Gesellschaft herzustellen.» Drilling zeigt auf seinen Zonenplan von Suhr: «Nehmen Sie die Parzellen hier, da stehen die gleichen Typologien von Häusern, lauter acht- bis zehnstöckige Blöcke. Dahinter stand damals die Idee: wer zur gleichen Zeit hier hinzieht, hat automatisch etwas gemeinsam. Das, so wissen wir heute, stimmt aber eben nicht.» Statt von den Verkehrswegen und der Bebauungsstruktur her wird der Kontext eines Quartiers heute von Fragen umrissen wie: Für wen soll das sein? Was machen eigentlich die Menschen in dem Umfeld? Und was braucht es, dass sich einzelne mit dem «Quartier» identifizieren? Drilling definiert Stadtentwicklung denn auch nicht aus der Vogelperspektive: «Sie ist die Entscheidung jedes einzelnen Bürgers und jeder einzelnen Bürgerin an jedem Tag. Sie entscheiden sich heute, aufs Velo zu steigen, ins Tram oder ins Auto – und damit beeinflussen Sie das Bild der Stadt von morgen schon entscheidend mit.»

Seit über 10 Jahren forscht Drilling an Projekten wie jenen in Suhr und ist dazu in der Schweiz und ganz Europa unterwegs. «Wir haben in Liestal, Aarburg, Pratteln, Biel, Zürich, Winterthur, St. Gallen und der Romandie Projekte untersucht, aufgebaut oder evaluiert. In EU-Projekten haben wir zusammen mit 30 anderen Ländern über vier Jahre hinweg die Bedeutung von Familien- und Freizeitgärten für das Wohlbefinden in der Stadt untersucht.» In Suhr sollen aus den beiden direkt an der Dorfstrasse gelegenen Familiengärten denn auch neu Gemeinschaftsgärten werden. Zudem ist das Team um Drilling die Immobilienbesitzer leerstehender Gebäude angegangen und konnte für diese ein Zwischennutzungsrecht bis zum Abbruch aushandeln. Junge Musiker sollen hier Übungsräume erhalten und Start-ups bezahlbare Büros. Die Auflagen? Eine öffentliche Bandprobe, ein Tag der offenen Tür oder ein Quartierfest veranstalten – um Menschen miteinander ins Gespräch zu bringen, die sonst nichts miteinander zu tun hätten. «Gemeinwohlorientierte Zwischennutzung» nennt Drilling das.

«Jemand von der Hochschule für Technik würde sagen: ‹Innovativ bin ich eigentlich erst, wenn der Markt mir abkauft, was ich entwickle› – und für die sozialen Fragen gilt das zum Teil eben auch.» Im Falle Suhrs fand Drillings Team in der Bevölkerung einen Abnehmer, der das Angebot der Veränderung nachgefragt hat: «Die grosse Herausforderung aber kommt erst noch: Die angestossenen Gärten, die probenden Bands, die angezogenen Start-ups – sie alle sollen sich künftig selbst tragen», meint Drilling. Dazu steht das Institut mit den zuständigen Verwaltungen in ständigem Kontakt. Jedes Projekt wird einzeln evaluiert – auch um es an die Studierenden und in -Weiterbildungen weiterzugeben und allenfalls zu perpetuieren: durch die Leute, die die Ideen in die Praxis tragen, aber auch mit ihren Projekten aus der Praxis auf die Fachhochschule zukommen. «Wir haben kein Produkt, von dem wir 15 000 Stück produzieren, und wenn die Auflage aus ist, die nächsten 15 000. Soziale Innovation heisst immer, etwas anzustossen, zu schauen, wohin es sich entwickelt, und dann zu überlegen, wo man das nächste anstösst, das vielleicht in die gleiche Richtung geht oder das vorige flankiert. Das würde hier in Suhr heissen: eine Betriebsgruppe unter den Leuten aufzubauen, die sich selbst ein Regelwerk gibt.» Erst dann könne man von Innovation sprechen – oder wenn wiederum etwas ganz Neues, im Moment noch gar nicht Denkbares daraus entstanden sei.


 

Prof. Dr. Matthias Drilling
ist Sozialgeograph, Raumplaner MAS ETH und Leiter des Instituts für Sozialplanung, Organisationalen Wandel und Stadtentwicklung an der Fachhochschule Nordwestschweiz – Hochschule für Soziale Arbeit in Basel.


 

 

5  Innovation irritiert

Neue Ideen finden nicht immer auf Anhieb Zuspruch – umso wichtiger ist das Interesse der Praxis an Zusammenarbeit.
Ronnie Grob trifft Anne Parpan-Blaser

«Innovationen in der Sozialen Arbeit sind auf neuem oder neu kombiniertem Wissen basierende, in intendierten und kooperativen Prozessen entwickelte neuartige Konzepte, Verfahren und Organisationsformen, die einen Mehrwert namentlich für Adressatinnen und Adressaten erzeugen.» So definierte Anne Parpan-Blaser den Innovationsbegriff in ihrem 2011 erschienenen Werk «Innovation in der Sozialen Arbeit». Damit Innovation in der Sozialen Arbeit nicht Rhetorik bleibt, sondern auch praktisch in Angriff genommen werden kann, hat sie zusammen mit ihrem Kollegen Matthias Hüttemann im Rahmen des BREF-Projekts INCUMENT («INCUbate social developMENT») ein Innovationsprogramm mitentwickelt. Modelle zur Initiierung, Steuerung und Ausgestaltung von Innovationsprozessen fehlten für diesen Bereich und Modelle aus dem ökonomischen Bereich konnten angesichts der Besonderheiten nichtgewinnorientierter Humandienstleistungen nur Anregungen liefern. Die Hochschule für Soziale Arbeit der Fachhochschule Nordwestschweiz (FHNW) schrieb die rund 800 Organisationen an, mit denen sie im Rahmen der Ausbildung bereits kooperiert, und schlug ihnen die Teilnahme an INCUMENT vor. Aus den zahlreichen Interessenbekundungen konnten zehn Projekte ausgewählt werden. So trafen Wissenschafterinnen in einem «temporären Entwicklungsraum» mit Praktikerinnen der Sozialen Arbeit zusammen, so zum Beispiel zu Themen der Suchtprävention, der Jugendarbeit oder einer Beratungsstelle für Sexarbeiterinnen. In einem acht bis zehn Monate dauernden Prozess wurden gemeinsame Entwicklungen auf Angebotsebene angestossen. «Innovation kann ein Ergebnis sein, aber auch ein Prozess. Damit Prozesse starten und Ideen brodeln können, ist es wichtig, dass sich Wissenträgerinnen treffen und in Austausch kommen», erzählt Parpan. «In einer Durchführung ging es um das Wohnen von Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung. In Zusammenarbeit wurden drei Angebote skizziert, die sich stark an der (2014 durch die Schweiz ratifizierten) UNO-Behindertenrechtskonvention und den von ihr postulierten Grundwerten der Partizipation und Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen ausrichteten: individualisierte Einzelangebote, betreute Tagesgestaltung für Bewohner im Pensionsalter, individuelle Lebensplanung inklusive Patientenverfügung in leichter Sprache.»

Auslöser für Innovationen sind also neue Forschungsergebnisse oder auch Erkenntnisse aus der Praxis: viele Organisationen evaluieren ihre eigenen Angebote und stossen so Neuerungen an. Meist gehen Innovationen mit einem Paradigmenwechsel einher, so etwa in der Schweizer Drogenpolitik in den 1990er Jahren, als auf die bis heute praktizierte Viersäulenpolitik mit Prävention, Therapie, Schadensminderung und Repression/Marktregulierung gesetzt wurde. Ein anderes Beispiel ist die sozialraumorientierte Jugend- und Familienhilfe. Für die offene Jugendarbeit bedeutet Sozialraumorientierung beispielsweise, Jugendarbeit nicht mehr ausschliesslich im Jugendtreff anzusiedeln, sondern sich als Jugendarbeiter dorthin zu begeben, wo Jugendliche sich aufhalten.

Ein Sozialamt oder eine Beratungsstelle hat keine Forschungsabteilung. Und Mitarbeitende der Hochschule haben über ihre Ausbildungsfunktion nur begrenzt Einblick in die Praxis. Also ist der gegenseitige Austausch erwünscht und sinnvoll. Neue Ideen finden nicht auf Anhieb Zuspruch. «Innovation ist etwas, das irritiert, das unbekannt ist», sagt Parpan dazu. «Und es gibt bei jeder Innovation ja auch Innovationsgewinner und Innovationsverlierer. Die Frage ist auch, wie risikobereit man in der Sozialen Arbeit überhaupt sein kann, schliesslich hat man es mit Menschen zu tun. Es gibt also berechtigterweise etwas Zurückhaltung.» Die Zusammenarbeit mit entwicklungsinteressierten Organisationen bleibt ein Fokus der Hochschule für Soziale Arbeit FHNW. So wurde beispielsweise das Programm INCUMENT so weiterentwickelt, dass angepasst an den Bedarf der jeweiligen Organisation vier Module («Analyse», «Werkstatt», «Entwicklung» und «Umsetzung») einzeln oder kombiniert gewählt werden können (www.soziale-arbeit-entwickeln.ch).


 

Prof. Dr. Anne Parpan-Blaser
ist Dozentin am Institut Integration und Partizipation der Fachhochschule Nordwestschweiz – Hochschule für Soziale Arbeit in Olten.


 

6  Alle(s) unter einem Dach

Das Profil von Musikerinnen und Musikern verändert sich – heute sind nicht «Meister», sondern Projektmanager gefragt. Und wo Performer auch Manager sind, müssen Dozierende zu Coaches werden, die Studierende früh in den Kulturbetrieb einführen.
Alicia Romero trifft Michael Kaufmann

Zwei Minuten vom Bahnhof Luzern entfernt, an der Zentralstrasse, arbeitet Michael Kaufmann, der Direktor des Departements Musik der Hochschule Luzern. Doch nicht mehr lange: schon Mitte 2019 soll die Hochschule Luzern – Musik aus ihren bisher vier Standorten unter ein gemeinsames Dach gebracht werden. Der neue Bau ist eines der wichtigsten Projekte, die zur Erneuerung des hiesigen Departements Musik momentan laufen – und Nukleus der gleichzeitigen Innovationsstrategie «Studienstruktur 2018» mit deutlich grösserer Tragweite.

«Die neuen Räumlichkeiten versuchen Antwort auf die Frage zu geben, wie in der nahen Zukunft Musik gelernt und gelehrt werden soll», erklärt Kaufmann. «Wir wollen keinen Repräsentationsbau, sondern eine lebendige Musikwerkstatt.» Alle zum Bau parallel lancierten Projekte der Hochschule Luzern – Musik zielen deshalb laut Kaufmann darauf ab, Vielfältigkeit, Flexibilität und eine gewisse Art von Generalität bei den Studierenden zu fördern. «Der Musikerberuf ist längst keine Monokultur mehr – jede professionelle Tätigkeit ist eine Mischung aus Unterricht und Performance, Konzert- und Kulturmanagement oder gar Kulturjournalismus.»

Zwei Leitsterne weisen den Weg bei der Analyse und Neuaufstellung aller Studiengänge der Hochschule Luzern – Musik, so Kaufmann. Einerseits wird die Rolle des Lehrenden neu definiert: «vom Dozierenden zum Coach». Der Musikdozent hat zwar noch immer die Fähigkeiten und das Wissen des traditionellen «Meisters», doch soll der Studierende seine eigene Welt künftig aktiver miteinbringen und sich auf eigene Weise künstlerisch entwickeln können. Die zweite Innovation betrifft die Rolle der Studierenden selbst: «Mehr Freiheiten – aber auch mehr Selbstverantwortung – bestimmen den neuen Studienaufbau. Weg vom Frontalunterricht, hin zum Projektunterricht», fasst Kaufmann zusammen.

Ein Herzstück des neuen Gebäudes ist deshalb die zweistöckige Bibliothek – ein lichtdurchfluteter Raum, der neben Medien und Büchern auch eine Lernwelt bietet. Denn das, so Kaufmann, benötigen die Musikstudenten von morgen: Arbeitsplätze und Gruppenräume, in denen sie lernen, Projekte entwickeln, sich treffen und austauschen können. Das sei buchstäblich innovativ auf mehreren Ebenen, sagt er, obschon an der Zentralstrasse das Modewort «Innovation» kaum in den Mund genommen werde. Für ihn gehe es einfach darum, Bewährtes nicht einfach auf den Misthaufen der Geschichte zu werfen, sondern mit dynamischen neuen Ideen zu verbinden.

Auf die Frage, wie die angestossenen Innovationen bei Organisation und Bildung schliesslich gemessen werden könnten, gibt er eine klare Antwort: einzig und allein am Erfolg. Und Erfolg für eine Musikbildungsanstalt heisst zunächst, so Kaufmann, dass sie für Studierende attraktiv ist – so attraktiv, dass die 500 Studienplätze auch zukünftig von den Besten im Land und darüber hinaus besetzt werden können. Es sei der Vorteil einer Aufnahmeprüfung, aus den jährlich rund 400 Bewerbungen eine Selektion der vielfältigsten und besten 120 bis 140 Studierenden zu treffen. Das zweite Erfolgskriterium sei die erfolgreiche Integration der jährlich etwa 140 Abgehenden in den Arbeitsmarkt. Laut dem Bundesamt für Statistik lag im Jahr 2014 die Berufseintrittsquote für Masterabgehende des Bereichs Musik nach 12 Monaten bei über 50 Prozent. In Luzern gehe man gemäss Schätzungen von ähnlichen Grössenordnungen aus, denn die Abgehenden hätten gerade bei Musikschulen der Zentralschweiz einen guten bis sehr guten Ruf. Kaufmann ist überzeugt, dass frühzeitige Praxisnähe essenziell für die Chancen der Studierenden sei, weshalb die Musikhochschule Luzern bereits heute zahlreiche Partnerschaften – unter -anderem mit dem Lucerne Festival, dem Luzerner Theater oder dem Luzerner Symphonieorchester – pflege. «Unsere Studierenden sollen von Anfang an Teil des Konzert- und Theaterbetriebs sein und im Studium schon professionelle Erfahrungen sammeln.»

Eine Hochschule dürfe nicht im «Elfenbeinturm» ausbilden, sondern müsse die richtigen Rahmenbedingungen für die Absolventen bereitstellen, damit sie auf dem Markt und in der Gesellschaft bestehen könnten. Wenn erfolgreiche Absolventen rückverwiesen auf die Qualität und Effizienz der Ausbildung in Luzern, so habe die Schule ihr Ziel erreicht.


 

Michael Kaufmann
ist Ingenieur ETH, Direktor des Departements Musik der Hochschule Luzern und leitet dort den Bereich «Interdisziplinarität» sowie die Thematik «Diversity». Davor war er Vizedirektor des Bundesamtes für Energie BFE. Nebenberuflich engagiert er sich seit Jahren in kulturellen Institutionen und wirkt als Pianist, Chorleiter, Komponist und Arrangeur.


 

 

7  Auf Einhornjagd

Ohne Risikobereitschaft und Geduld gibt es keine Innovation. Die Hochschulen haben dabei eine wichtige Aufgabe.
Olivia Kühni trifft Matthias Sulzer

Wenn es einer wissen muss, dann er. Matthias Sulzer, Ingenieur, Unternehmer und Forscher, soll uns erklären, wie Innovation funktioniert. Innovation, dieses scheue Wesen, dem alle nachjagen und das sich doch stoisch erst dann zeigt, wenn der Tag dafür gekommen ist. «Zeit ist der mächtige Faktor», sagt Sulzer. «Sie muss reif sein, sonst hat das beste Produkt keine Chance.» «Einhörner» nennen sie im Silicon Valley jene seltenen Start-ups, die es schaffen, die Welt zu verändern.

Nun, wie gelingt Innovation? Die Einhornjagd läuft so: Man ruft unter starker Führung möglichst viele begabte Jäger und Sammler zusammen, hält ihnen den Rücken frei, lässt sie ausprobieren, scheitern und besser werden. Und schlägt zu, wenn die Zeit gekommen ist. So einfach ist das, und so unglaublich schwierig. Ein paar Erklärungen aus dem Gebiet, das Sulzer kennt: dem Bau.

1. Geld und Gelassenheit

Zuerst sei das Business gekommen, sagt Sulzer, dann die Forschung. Der Ingenieur mit MBA übernahm 2003 die Leitung der Lauber Iwisa, eines Unternehmens für Energie- und Gebäudetechnik, das er inzwischen mit anderen Firmen zur Inretis Holding zusammengeschlossen hat. Die Holding denkt getrennt und handelt vereint. Die einzelnen Firmen arbeiten unabhängig, regional vor Ort. Gleichzeitig aber können sie dank des Verbundes bei Bauprojekten alles aus einer Hand anbieten, von der Beratung über die Umsetzung bis zur Nachbetreuung. Das erhöhe die Innovationsfähigkeit, sagt Sulzer. «Sonst läuft es oft so, dass die Berater innovativ denken, andere Firmen aber später das Risiko rausnehmen. Aus ursprünglich innovativen Vorschlägen werden traditionelle Lösungen.» Ohne Risikobereitschaft sind keine Abenteuer möglich.

Genau hier spielt die Unterstützung von Hochschulen eine wichtige Rolle. Öffentlich oder gemischt finanzierte Innovationszentren übernehmen oft einen Teil der Kosten für Experimente und Pilotprojekte. Von diesem Geld profitiert auch Sulzers Firma, aber dazu gleich mehr. Zunächst ist zu sagen: anders als es das Bild vom einzelkämpferischen Unternehmerhelden oft will, sind öffentliche Investitionen für jede fortschrittsgetriebene Branche wichtig. Für die Baubranche aber sind sie besonders essenziell: die Unternehmen selber stecken fast gar nichts in Forschung und Entwicklung – sie haben keinen Anreiz dazu. Erstens arbeitet der Bau mit extrem langen Lebenszyklen. Ein Fenster muss «10 Jahre für die Garantie halten und 40 Jahre für den Ruf», wie Sulzer es ausdrückt. Das macht Tüftelei hochriskant und unattraktiv. Vor allem aber, und da wird es ökonomisch interessant, liegt das grösste Innovationspotenzial in der Gebäudetechnik nicht -innerhalb einzelner Bauten, sondern dazwischen. Hocheffizient wird etwa sein, wenn ganze Quartiere digitalisiert werden, die Häuser ihren Energieverbrauch untereinander abstimmen, sich selbst versorgen und unabhängig werden von zentralen Energieproduzenten. Welches einzelne private -Unternehmen profitierte von diesen Innovationen so stark, dass es im Alleingang eine Forschungsgruppe und jahrelange teure Pilotprojekte finanzieren sollte?

2. Scheitern und besser werden

Auch Sulzer und seine Firma erhalten Aufträge, bei denen sie mit Forschern und Ingenieuren der Hochschulen zusammenarbeiten, oft mitfinanziert von staatlichen Fördergeldern. Ein solches Projekt ist die Monte-Rosa-Hütte des SAC in Zermatt, weltweit bekannt für ihre aussergewöhnliche Architektur und ihren Selbstversorgungsgrad von 90 Prozent. Sulzers Leute konzipierten und bauten sie gemeinsam mit anderen Fachplanern und mit Experten der ETH, der Hochschule Luzern HSLU und der Empa. Manche Spezialisten wirkten dabei in mehreren Teams mit. Auch Sulzer selber: die HSLU hatte ihn bereits einige Jahre zuvor als Dozent für Gebäude- und Energietechnik in die Innerschweiz geholt; er wirkte in diesem und vielen weiteren Projekten halb als Fachplaner, halb als Forscher. «Ingenieursein bedeutet für mich nicht, einfach abzuarbeiten», sagt Sulzer, «sondern nachzudenken über das, was man tut.»

Wie also lässt sich Innovation messen, wie fördern? Es gebe nur eine zuverlässige Messgrösse, sagt Sulzer: die Zahl erfolgreicher Start-ups. Da sind sie wieder, die begehrten Einhörner. Und es gibt, findet Sulzer wie viele andere, nicht genug davon. «Wir brauchen eine ausgeprägtere Start-up-Kultur», sagt er. Dafür sei an den Fachhochschulen eine höhere Fehlerbereitschaft nötig – Projekte müssten schieflaufen dürfen. «Das bekommen wir aber nicht hin, wenn wir den Leuten einimpfen, dass ein erfolgreicher Ingenieur nie scheitert.» Eine Quote von 100 Prozent erfolgreichen Start-ups, mit der sich Hochschulen zu gerne schmücken würden, wäre ein Warnsignal, dass viel zu wenig probiert werde. Eine von 20 Prozent wäre ungenügend. Dazwischen sollte der Wert liegen, sagt Sulzer. Als Zeuge jener glücklichen Fälle, in denen die Zeit genau richtig war.


 

Prof. Matthias Sulzer
ist Geschäftsführer der Lauber Iwisa AG, die zur Inretis Holding gehört. Er ist Dozent für Energie- und Gebäudetechnik an der HSLU und Leiter der Forschungsgruppe «Energiesysteme für Quartiere und Areale» an einem der acht landesweiten interuniversitären Kompetenzzentren für Energieforschung (SCCER).

»
Abonnieren Sie unsere
kostenlosen Newsletter!