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Sachbuch

Paul Virilio Panische Stadt Wien: Passagen, 2007 Der französische Stadtplaner und Philosoph Paul Virilio ist mit seinen Thesen zur Beschleunigung der Welt der Moderne berühmt geworden. Dass wir uns nicht mehr natürlich fortbewegen, sondern seit der Erfindung der Eisenbahn in immer rascherem Tempo, verändert – so hat er gezeigt – unsere Wahrnehmung des Raumes, der […]

Paul Virilio

Panische Stadt

Wien: Passagen, 2007

Der französische Stadtplaner und Philosoph Paul Virilio ist mit seinen Thesen zur Beschleunigung der Welt der Moderne berühmt geworden. Dass wir uns nicht mehr natürlich fortbewegen, sondern seit der Erfindung der Eisenbahn in immer rascherem Tempo, verändert – so hat er gezeigt – unsere Wahrnehmung des Raumes, der Zeit, der Wirklichkeit. Seit dem 20. Jahrhundert kommt die ungeheure Schnelligkeit der Ausbreitung von Information hinzu. Brauchte zu Cæsars Zeiten die Nachricht vom Ausgang einer Schlacht in Mesopotamien Wochen, um nach Rom zu gelangen, hat sich diese Frist mit Rundfunk und Fernsehen auf Stunden und Minuten verkürzt – und mit dem Aufkommen von Internet und Webcam ist die ganze Welt gar auf jedem Bildschirm in Echtzeit abrufbar. Das Schwinden der Verzögerung, die Distanzen erst fühlbar macht, lässt, so Virilio, nicht nur das klassische Konzept des Raumes implodieren, es gebiert auch eine neue Art von Krieg, wo die Grenzen zwischen Kriegführung und Kriegsberichterstattung verschwimmen und die Schlachten auf den Bildschirmen in den Wohnzimmern geschlagen und gewonnen werden.

Nicht die weltabgewandte Reflexion ist also Sache dieses Philosophen, sondern die kritische Beobachtung der Wirklichkeit. Auch in «Panische Stadt» versammelt er sechs Essays, in denen er die rasende Welt von heute durchstreift und versucht, unseren Blick für die historischen Kosten ihrer Beschleunigung zu schärfen. Der erste und der letzte Text setzen den Rahmen. Wir folgen dem Autor zunächst in die Stadt Paris und erfahren den Gegensatz zwischen der von der Macht geplanten Haussmannschen Grossstadt und jener Siedlung, die sich deren Bürger in ihren täglichen Gängen selbst erschaffen hatten und die allein bewohnbar und erträglich ist. Der letzte Essay erklärt uns anhand der Begriffe der Wüste und des Horizonts, wie das Tempo der Moderne den Zusammenbruch des klassischen Raumbegriffs und den Tod des Reisens nach sich zieht. Diese beiden Kapitel sind die attraktivsten des Buchs und geben Lesern, die Virilios frühere Arbeiten nicht kennen, einen guten Einblick in sein Denken.

Die vier dazwischengeschalteten Essays entwickeln eine Pathologie des Politischen im Zeitalter der Echtzeitinformation. Dazu breitet der Philosoph einen bunten Zettelkasten von Mediennachrichten und Politikerzitaten vor uns aus; allein seine Kommentare unterstellen sich einer durchweg monochromen Axiologie: die Beschleunigung der Moderne ist der Verlust des Menschlichen – an sich keine unsympathische Idee. Wer hat nicht schon gedacht, dass eine Welt mit weniger Gehetze eine humanere Welt wäre. Man beginnt sich erst zu wundern, wenn die Charakteristik des «Informationskriegs», aus lauter Liebe zum Kontrast, einer seltsam beschönigenden Darstellung der «politischen Form des Kriegs» gegenübergestellt wird, die – nach Meinung des Autors – «amtlich geprägt war, Grenzen kannte und vor allem: Kriegsziele». Auch abgesehen von dem hier zutage tretenden eigenartigen Glauben an die Amtlichkeit als Bewahrerin des Humanen, möchte man den Denker an einen Satz aus Robert Lowrys «Casualty» erinnern, einem Roman zu einem durchaus klassischen «politischen» Feldzug: «Objektiv mochten die Gründe für einen Krieg ganz prima sein. Aber sobald man drinsteckte, waren die Gründe, ob gut oder schlecht, beim Teufel.»

Als nächstes gerät die Kunst der Moderne unter Generalverdacht. Sie habe sich, erklärt Virilio, um die grossen Ereignisse gedrückt, ja den Schrecken des 20. Jahrhunderts den Rücken gekehrt: «Die Gleichgültigkeit gegenüber dem Grauen … heisst mit dem ersten Namen Expressionismus …» Die Unterstellung ist (etwa Georg Trakl und Ernst Ludwig Kirchner gegenüber) schlicht infam, und je weiter man in dieses seltsame Kapitel eindringt, desto klarer wird, dass seine Kritik an der Moderne auf einem streng normativen Bild des Humanen beruht. Ein Humanismus freilich, der zum voraus weiss, was «menschlich» ist, bleibt im Kern inhuman. Der Autor zeigt nicht das geringste Gespür für die fatale Tradition, in die er sich mit seiner Polemik stellt: wie ähnlich klingt doch seine Rede weithin mit Hans Sedlmayrs Fluch auf den «Verlust der Mitte» – nur dass die Feuilletons heute die Schriften des Altnazis Sedlmayr mit spitzen Fingern anfassen, während der unverdächtige Franzose freundlichen Applaus erntet.

Vor allem aber steht Virilios Kritik der Beschleunigung in einer fragwürdigen Spannung zu seinem Denkstil. Nie wird dem Leser das hinausschiebende, verzögernde Argument zugemutet; der Autor reiht Beispiele an Beispiele und ist immer gleich mit einem Urteil bei der Hand. So fällt, wo er die Weltereignisse seit den Attentaten des 11. September 2001 deutet und beliebige Zeitungsnotizen voreilig zu Geschichtszeichen aufbläst, der Vorwurf der «Hysterie der Echtzeit», den er gegen unsere Medienwelt erhebt, auf ihn selbst zurück. Die kritische Analyse des Politischen endet als eine aus billigen Vorurteilen geschusterte Weltuntergangspredigt; der Denker wird zum keifenden Apokalypsen-Kapuziner.

besprochen von Virgilio Masciadri, geboren 1963, Privatdozent für Altphilologie an der Universität Zürich.

Philipp Batthyány

Zwang als Grundübel in der Gesellschaft

Tübingen: Mohr Siebeck, 2007

F.A. von Hayek fordert in Situationen, in denen vorübergehende lokale Monopole existieren, «diejenigen, in deren Hand das Leben eines anderen liegt, sollen in der moralischen und gesetzlichen Pflicht stehen, die in ihrer Macht stehende Hilfe zu leisten». Philipp Batthyány zeigt in seiner genauen und überzeugenden Analyse der Zwang- und Gewaltbegriffe bei Hayek, wie dieser diese und ähnliche Forderungen mit seiner eigentlich grundsätzlichen Ablehnung von Zwang in Einklang zu bringen versucht. Gemäss Batthyány will Hayek mit staatlichem Zwang verhindern, dass jemand vor die Wahl gestellt wird, «Opfer der Zufügung eines objektiv schweren Nachteils zu werden oder sich dem Willen des Zwingenden zu unterwerfen». Radikale Kritiker Hayeks – wie beispielsweise M. Rothbard, der dessen Zwangsbegriff als fehlerhaft abtut – erwähnt Batthyány, geht aber nicht detailliert auf ihre Argumente ein. Dadurch vergibt sein Buch leider die Chance der kritischen Reflexion von Hayeks Thesen sowie deren historischer Kontextualisierung. Für Hayek-Fans aber zweifellos eine lohnende Lektüre!

besprochen von Matthias Jenny, geboren 1987, Student der Philosophie an der Universität Zürich.

Franz Muheim

Die Schweiz im 21. Jahr-hundert

Stäfa: Gut Verlag, 2007

Switzerland, made in Switzerland. Man sollte sich hüten, die Schweiz als ein Modell hinzustellen, das man auf EU-Ebene kopieren könnte. Die Schweiz ist aber ein recht erfolgreiches Experiment, aus dem auch andere politische Gemeinschaften durchaus etwas lernen können – bzw. könnten. Entscheidend ist die Kommunalautonomie und der Wettbewerb unterschiedlicher Problemlösungs- und Besteuerungsmuster, die Kombination von Wählenkönnen (vote) und Umziehenkönnen (exit). Franz Muheim schreibt in seinem neuesten Buch dazu: «Das befruchtende Nebeneinander verschiedener Sprachen und Kulturen, auch unterschiedlicher Mentalitäten ist tragendes Element für eine unsentimentale, aber selbstverständliche Heimatliebe.» Wenn sich Europa vom Wahn der Harmonisierung und der Zentralisierung verabschiedet und sich als friedliches Bündnis einer durch Freihandel und lebendigen Kulturaustausch getragenen, weltoffenen Gemeinschaft autonomer Staaten definiert, kann es auch zur Heimat aller Europäer werden. Muheims kritisches Bekenntnis zur Schweiz weist also durchaus auch Wege zu einem Europa, das nicht nach dem «Modell Schweiz» gestaltet wird, aber Erfahrungen des «Experiments Schweiz» auswertet.

besprochen von Robert Nef.

Klaus J. Bade (u.a.)

Enzyklopädie Migration in Europa

Paderborn: Wilhelm Fink, 2007

Wir sind alle irgendeinmal eingewandert. Moderne Genanalysen belegen es: der Homo migrans hat sich über die Welt ausgebreitet. Vor diesem Hintergrund haben die Herausgeber die Wanderungsgeschichte eines ganzen Kontinents, vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenswart, zusammengetragen. Mit der Enzyklopädie der Migration in Europa liegt nun ein 1100seitiges Lesebuch vor, in dem es sich spannender liest als in einem Abenteuerroman. Über 200 einzelne Artikel widmen sich Themen wie «Jugoslawische Arbeitswanderer seit Ende des Zweiten Weltkriegs», «Pakistaner in Grossbritannien seit den 1950er Jahren» oder «Bosnische Bärenführer in Nordwesteuropa». Der 15seitige Artikel über die Schweiz gibt eine gute Gesamtschau über Zu- und Abwanderung. Hier erfährt man, dass bereits Ende des 18. Jahrhunderts rund 25’000 Schweizer in den USA lebten. In ihrer Kombination der Länder- und Wandergruppen-Artikel erweist sich die Enzyklopädie als grosser Wurf und praktisches Hilfsmittel – auch für Politiker.

besprochen von Philippe Welti, geboren 1959, PR-Berater in Zürich.

René Scheu

Das schwache Subjekt. Zum Denken von Pier Aldo Rovatti

Wien: Turia+Kant, 2008

Angesichts der Weltlage ist Schwäche derzeit keine besonders gefragte Eigenschaft. Wenn sich ein Buch mit dem Titel «Das schwache Subjekt» ankündigt, dann könnte man zunächst meinen, man hätte es mit einer Klageschrift gegen Schwächlinge zu tun. Ein Schwächling zu sein, ist ein bitteres Verdikt. Das war schon in der Schulzeit so. Im vorliegenden Text geht es freilich um eine Ehrenrettung der Schwäche. Schwaches Denken wird rehabilitiert. Es zieht paradoxerweise seine Stärke aus der Schwäche.

Dies ist der Ausgangspunkt eines Denkens, das seit den Arbeiten des italienischen Philosophen Gianni Vattimo auch bei uns eine zunehmende Anziehungskraft ausübt. René Scheu unternimmt es, anhand der im deutschsprachigen Raum weitgehend unbekannten Arbeiten des italienischen Philosophen Aldo Rovatti die Geschichte dieses eigentümlichen, aber so gar nicht deutschen Tugenden entsprechenden Denkens nachzuzeichnen.

Die umfassende, selber keineswegs den Eindruck von Ermüdung oder Ironie zeigende Studie ist filigran. Der Verfasser versucht sich den Texten Aldo Rovattis mit der gleichen Umsicht zu nähern, mit der Rovatti sich dem schwachen Subjekt nähert. Eine Pirsch, die ein scharfes Auge und ein scharfes Gehör verlangt. Aber auch Demut und Misstrauen sich selber gegenüber. Das schwache Subjekt erscheint wie ein Traum, den man verfehlt, sobald man sich an ihn zu erinnern versucht. Einleitend zitiert Scheu den von Rovatti gerne herangezogenen französischen Philosophen Michel Foucault mit dessen Äusserung, dass sich das Subjekt im Schreiben einen Raum öffne, in dem es unablässig verschwinde.

Bei der Lektüre der drei Akte, wie man sie nennen könnte, der drei von Vorbemerkung und Nachwort umrahmten Hauptstücke, werden die grossen Linien, Herkunft und Wirkung dieses Denkens klar herausgearbeitet. Es ist hier nicht der Ort, die in der Studie subtil ausgelegten Schattierungen von Rovattis Denken zu erörtern oder gar zu korrigieren. Paci, der hier gänzlich unbekannte italienische Philosoph, Husserl, der gestrenge Phänomenologe und Martin Heidegger, der Lichtungs- und Existenzphilosoph, kommen zur Sprache, Literaten wie Italo Calvino oder Peter Handke treten vor den Vorhang und verschwinden wieder. Ihre im Denken Rovattis aufscheinenden Einflüsse sind allesamt explizit oder – wie bei Calvino und Handke – implizit einer Position verpflichtet, die mit allen Arten von Szientismus und Utopismus, absoluter Vernunft und philosophischer Letztbegründung abrechnet oder besser: davon abrät.

Szientismus, Rationalismus, Letztbegründung und Absolutheitsdenken – das sind die Bastionen der überkommenen Philosophie, der Hoffnung auf Vervollkommnung und Beendigung der Geschichte in einer grossartigen Apotheose, einer final solution, irdische Rückbleibsel der christlichen Heilsbotschaft. Legt man den Überlegungen Rovattis und den Protagonisten eines schwachen Denkens die christlich-abendländische Geschichtsphilosophie zugrunde, mit ihren metaphysischen und apokalyptischen Fahrplänen, ihren Endzeitvisionen und jüngsten Gerichten, so empfindet man, bei allem Verständnis für die Furcht vor dem Gespenst des Irrationalismus und die Angst vor der Unordnung, eine seltsame Empathie mit dem «schwachen» Denken und dem «schwachen» Subjekt.

Besonders anrührend sind Vor- und Nachwort, wo der Verfasser zu demonstrieren versucht, was er beschreibt: Umsicht, Misstrauen, Liebe zum sich entziehenden Gegenstand. Das dem Band angefügte Interview mit Pier Aldo Rovatti, mit dem Titel «Ich bin vom Weg abgekommen», ist eigentlich, wie der Titel schon sagt, ein verklausuliertes Eingeständnis von Schwäche. Eine Beichte Rovattis einem jüngeren Mitbruder gegenüber. Der Verzicht auf Wahrheitsrhetorik, die Zulassung von Aporien und Paradoxien, das Akzeptieren von Ambivalenzen – alles, was schwaches Denken auszeichnet, kann eben nicht mit Verve und kraftvoll vertreten werden. Ein Denken, das immer auch das andere mitbedenken muss, ist demütig.

Entpuppt sich das schwache Subjekt allenfalls, wie der Messias in seiner Passionsgeschichte, als das starke? Im Rückgang auf das pompöse transzendentale Subjekt, wie Husserl es in den «Cartesianischen Meditationen» insinuiert, findet Rovatti jedenfalls nichts Festes, keinen glänzenden Edelstein in einem tiefen See, sondern Spiegelungen eigener Erlebnisse und Erfahrungen, deren Widerspiegelungen wiederum in der keineswegs als Dissertation daherkommenden Arbeit von René Scheu sichtbar werden. Das schwache Subjekt mit seinem schwachen Denken wird wohl in den Trommelwirbeln der Gestusphilosophie und schwergewichtigen Welt- und Todesanschauungen eine melancholisch-leise Stimme bleiben. Leider.

besprochen von Peter Gross, geboren 1941, emeritierter Professor für Soziologie der Universität St. Gallen.

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