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Populäre Irrtümer und echte Probleme

Ein Ausblick

Populäre Irrtümer und echte Probleme
Bernhard Pulver, zvg.

In der jüngeren Geschichte hat weltweit, aber ganz besonders in den Industrienationen Europas und Nordamerikas sowie weiten Teilen Asiens eine enorme Bildungsexpansion stattgefunden. Der Anteil der Kinder, die einen höheren Bildungsabschluss erwerben als ihre Eltern, hat sich über die letzten Jahrzehnte in den meisten Staaten signifikant erhöht. Der Satz, dass Bildung der wichtigste «Rohstoff» und unerlässlicher Erfolgsfaktor für jede Volkswirtschaft sei, ist längst als unverzichtbarer Bestandteil von Politikerreden in aller Welt etabliert. Gleichzeitig aber ist gerade auch in Ländern, die ihre Bildungsexpansion konsequent vorangetrieben haben, das Gespenst der Jugendarbeitslosigkeit nicht gebannt worden – diese hat sogar vielerorts nach 2008 noch erheblich zugenommen. Und auch in Ländern mit verhältnismässig tiefen Arbeitslosenzahlen landen viele Berufseinsteiger mit höherem Bildungsabschluss in unqualifizierten Arbeitsstellen oder sind gezwungen, kaum bezahlte Praktika aneinanderzureihen. Warum ist vielerorts die erhoffte Wirkung der Investition in mehr Bildung bisher ungenügend eingetreten? Und warum konnte die Schweiz die Geissel der Jugendarbeitslosigkeit bisher weitgehend abwenden? Ein nicht unerheblicher Teil der Antwort hat auch mit dem spezifischen Modell der Schweizer Fachhochschulen zu tun.

Fatalerweise haben die meisten Länder die Bildungsexpansion während Jahrzehnten höchst einseitig vorangetrieben: Sie haben sich darauf konzentriert, den Anteil der Jugendlichen in gymnasialer und universitärer Ausbildung in die Höhe zu treiben, oft auf weit über 50 Prozent. Dies in der Idee, das Bildungs- und Fähigkeitsniveau der Menschen durch höhere Bildung grundsätzlich verbessern zu können. Diese forcierte Erhöhung der Schüler- und Studierendenzahlen hat aber zwei problematische Folgen, die eng miteinander zusammenhängen: Zum einen wird das Qualitätsniveau der Universitätsbildung stark belastet, denn es ist kaum möglich, derart viele zusätzliche Studierende auszubilden, ohne beim Anspruchsniveau Abstriche zu machen. Gleichzeitig existieren auf dem Arbeitsmarkt für die Menschen mit Studienabschlüssen gar nicht genügend qualifizierte Jobs, so dass sich viele Universitätsabsolventen schliesslich in prekären Arbeitsverhältnissen wiederfinden und letztlich frustriert sind, ihren höheren Bildungsabschluss nicht adäquat einsetzen zu können. Zum zweiten wurden mit der Bildungsexpansion oft andere Bildungschancen, die stärker auf Praxis setzen, sträflich vernachlässigt. Der starke Fokus auf den Wert eines akademischen Abschlusses hat dazu geführt, berufs- und praxisbasierten Bildungswegen nicht genügend Aufmerksamkeit zu schenken und deren Qualität und Umfang abzubauen. In vielen Ländern wird dies heute bitter bereut und es werden fieberhaft Wege gesucht, sie raschmöglichst wieder aufzubauen. Beispiele dafür sind das Programm «Modern Apprenticeships» in Grossbritannien oder die 2008 von der Stadt New York lancierte Initiative «Next Generation Career & Technical Education», die durch staatliche Förderung die Berufslehre wieder als allgemein respektierten Ausbildungsweg etablieren sollen. Die Schweiz ist dank einer Mischung aus Tüchtigkeit und Glück dieser Fehlentwicklung entgangen, die Stärke unseres Berufsbildungssystems spiegelt die Statistik: Rund 75 Prozent der Jugendlichen machen heute eine Lehre oder einen anderen Berufsbildungsabschluss. Für den gymnasialen Weg entscheiden sich dagegen rund 20 Prozent.

Einer der Schlüsselfaktoren für diese nachhaltige Stärke des Berufsbildungswegs in der Schweiz sind – neben der höheren Berufsbildung – die Fachhochschulen. Dank dieses eigenen, als Schlussstein der Berufsbildung konzipierten Hochschultypus kann sich ein junger Mensch für eine Lehre und damit einen raschen Einstieg in die Arbeitswelt entscheiden, ohne sich den Weg zur höheren Bildung zu verbauen. Die Möglichkeit zum späteren Fachhochschulstudium oder zur Absolvierung einer höheren Berufsbildung macht die Berufsbildung auch für Jugendliche mit hohem kognitivem Potenzial zu einer attraktiven Option. Dank den Passerellen ist auch ein späteres «Umsatteln» auf einen akademischen Bildungsweg noch möglich. Für eine Vielzahl von Berufsfeldern bleibt die Philosophie des engen Praxisbezugs in der Ausbildung vom ersten Lehrjahr bis zum Fachhochschulabschluss erhalten. Es waren demnach insbesondere die Fachhochschulen in der Verbindung mit der generellen Durchlässigkeit und Flexibilität unserer Bildungswege, die es der Schweiz ermöglichten, eine eigene Art der Bildungsexpansion voranzutreiben, die eben nicht auf Kosten der praxisnahen Berufsausbildung ging.

Die Vorurteile

Die Bedeutung der Fachhochschulen für das Schweizer Bildungssystem ist heute wenig bestritten, und ihre Rolle dürfte auch in Zukunft gross bleiben. Dies heisst freilich nicht, dass nicht auch erhebliche Herausforderungen auf die Fachhochschulen zukommen. Manche davon werden oft genannt, erweisen sich bei näherer Betrachtung aber als weniger gravierend als angenommen. Dagegen gibt es möglicherweise andere Herausforderungen, die heute eher noch unterschätzt werden. Schauen wir also genauer hin.

Eine häufig genannte Schwierigkeit ist der angebliche Trend weg von der Berufslehre: «Immer mehr Jugendliche machen Matur, immer weniger beginnen eine Lehre», ist ein in bildungspolitischen Debatten oft gehörtes Vorurteil. Die Aussage hält allerdings der Betrachtung der konkreten Fakten nicht stand: Liest man die Schweizer Bildungsstatistik, dann fragt man sich unweigerlich, weshalb der Niedergang der Berufslehre so hartnäckig vorausgesagt wird – das genannte Zahlenverhältnis zwischen Abschlüssen aus der Berufsbildung und gymnasialen Abschlüssen ist nämlich seit Jahren ausgesprochen stabil. Auch bei den letzten erfassten Jahrgängen ist für die Schweiz kein signifikantes Anwachsen der Maturaquoten festzustellen. Zugenommen haben in den letzten zehn Jahren vielmehr die Abschlusszahlen der Berufsmaturität, also genau jenes Diploms, das zum Fachhochschulstudium qualifiziert. Ein möglicher Grund für die verzerrte Wahrnehmung könnte daran liegen, dass viele Eltern und insbesondere auch Zuwanderer – in Übertragung der Verhältnisse ihrer Herkunftsländer – auf eine gymnasiale Ausbildung für ihre Kinder drängen, weil sie Berufsbildung fälschlicherweise mit Abstieg gleichsetzen. Fakt ist, dass bis auf weiteres Berichte vom bevorstehenden Ableben der Berufsbildung und damit auch der Fachhochschulen als übertrieben anzusehen sind.

Ein anderer, oft gehörter Unkenruf, der die Fachhochschulen seit ihrer Gründung begleitet, ist die «drohende Verakademisierung». Die Fachhochschulen, so der Vorwurf, würden sich immer mehr vom Praxisbezug entfernen, weil sie sich den Universitäten angleichen wollten. Eine solche Entwicklung wäre in der Tat falsch – das Schweizer Erfolgsgeheimnis ist ja gerade, dass hier beide Typen auf höchstem Niveau angeboten werden. Doch droht diese Entwicklung tatsächlich? Meist wird die Kritik, dass die Fachhochschulen zu «akademisch» würden, an ihrer Forschungstätigkeit festgemacht. Die Vermittlung von Wissen in der Lehre mit der Schaffung neuer Erkenntnisse in der Forschung zu verbinden, ist das zentralste Wesensmerkmal jeder Hochschule. Die konstituierenden Gesetze und Konkordate der öffentlich-rechtlichen Schweizer Fachhochschulen enthalten denn auch ausnahmslos den Auftrag, anwendungsorientierte Forschung zu betreiben. Diese Anwendungsorientierung passt zur Verankerung der Fachhochschule in der Berufsbildung, und in der Tat zeichnet sich der weitaus grösste Teil ihrer Forschungsprojekte durch die enge Einbindung von Anwendungspartnern aus. Das bedeutet aber nicht, dass bei Forschung und Lehre an der Fachhochschule nicht auch konsequent wissenschaftliche Methodik und theoretische Verankerung gefordert wären. Die Vorstellung, dass Theorie und Anwendungsorientierung in der Ausbildung absolute Gegensätze seien, führt in die Irre. Niemand wird bestreiten, dass auch an einer Universität beispielsweise im Medizin- oder Jurastudium durchaus praxisorientiert bezogen auf die Berufsfelder Ärztin oder Jurist ausgebildet wird, es aber gleichzeitig und als Vorbereitung dafür den breiten Bildungsrucksack der gymnasialen Matura braucht. Umgekehrt versteht auch jedermann, dass eine Polymechanikerin mit Berufsmatur, die an der Fachhochschule Maschineningenieurin studiert, dabei sehr viel Theorie und wissenschaftliches Arbeiten büffeln muss, während sie einiges Praxiswissen bereits aus der Berufslehre mitbringt. Auch in der Forschung sind Grundlagen- und Praxisbezug keine streng getrennten Welten: Kooperation ist zentral, und zwischen den Polen rein theoretischer und experimenteller Forschung einerseits und rein produktorientierter Entwicklung andererseits liegt ein breites Spektrum verschiedenster Zusammenarbeitsformen. Praktisch jede anwendungsorientierte Forschung von heute baut auf den Ergebnissen der Grundlagenforschung von gestern auf. Nur wenn sich die Anwender und Praktiker mit dem ständig erweiterten Grundlagenwissen auseinandersetzen, entsteht echte Innovation.

Weder ein «Niedergang der Berufsbildung» noch ein «Verlust des Praxisbezugs» sind demnach die grossen Zukunftsherausforderungen für die Fachhochschulen. Diese liegen anderswo: bei der Heranbildung des eigenen Nachwuchses, in der Anpassung an die veränderten Rahmenbedingungen im Schweizer Bildungsraum und in den rasanten Wandlungsprozessen in Gesellschaft, Wirtschaft und Umwelt, auf welche die Fachhochschulen reagieren müssen.

Die tatsächlichen Herausforderungen

Vielleicht am klarsten fassen lässt sich die Problematik der Nachwuchssicherung der Fachhochschulen, in der sich ihre noch junge Geschichte im Vergleich zu den Universitäten abbildet. Es ist eine unbefriedigende Situation, dass die Fachhochschulen bei der Rekrutierung der Dozierenden und generell des Mittelbaus grösstenteils auf Absolventinnen und Absolventen der Universitäten und ETH zurückgreifen müssen. Für einen in der Berufsbildung und Anwendungspraxis verankerten Hochschultypus ist es zentral, künftig in höherem Masse auf Nachwuchskräfte zurückgreifen zu können, die selbst die Fachhochschulausbildung durchlaufen haben. Die Anforderungen an den FH-Mittelbau sind klar – aber auch anspruchsvoll formuliert: Der Nachwuchs braucht das FH-spezifische doppelte Kompetenzprofil mit Kompetenzen in Wissenschaft und Praxis. Und dieses spezifische Profil verlangt nach einer typengerechten Ausbildungsstufe, einem eigenen 3. Zyklus und nicht bloss einer Kopie des universitären Doktorats.

In einzelnen Disziplinen sind Kooperationen der Fachhochschulen mit Universitäten ein durchaus geeigneter Lösungsansatz, für den es bereits sehr gelungene Beispiele gibt: In den Künsten etwa kooperieren in der Graduate School of the Arts die Universität Bern und die Berner Fachhochschule in einem inter-disziplinär angelegten Doktoratsprogramm, das sich sowohl an forschende Künstlerinnen und Künstler als auch an Wissenschafterinnen und Wissenschafter richtet, die sich für künstlerische Praxis interessieren. Doch nicht für alle Bereiche der Fachhochschulen dürfte eine Kooperation mit einer Universität der beste Weg zu einem 3. Zyklus sein; dieser wird für Ingenieurwissenschaften, Architektur oder das Gesundheitswesen ganz unterschiedlich ausgestaltet werden müssen. Wie könnte das gelingen? Die zusätzliche Ausbildungsstufe der Fachhochschulen sollte sich nicht primär am universitären Doktorat mit seiner starken Ausrichtung auf das publizierte individuelle Forschungsprojekt orientieren. Ein Fokus auf die Anwendungsorientierung und Anwendungspartner entspricht eher dem dualen System. Es ist daher richtig und wichtig, dass die Schweizer Fachhochschulen in den Jahren 2017 bis 2020 in einem gemeinsamen Projekt Pilotprogramme zur Stärkung des doppelten Kompetenzprofils beim FH-Nachwuchs entwickeln. Daraus sollte schliesslich ein 3. Zyklus «sui generis» entstehen, für den eine aussagekräftige Titelbezeichnung erst noch gefunden werden muss.

Eine zweite reale Herausforderung für die nahe Zukunft der Fachhochschulen ist die Liberalisierung des schweizerischen Hochschulraums mit dem Inkrafttreten des Hochschulförderungs- und -koordinationsgesetzes auf Bundesebene (seit 1. Januar 2015). Davor legte das nun aufgehobene Fachhochschulgesetz fest, dass es in der Schweiz sieben öffentliche Fachhochschulen gibt, und jeder neue FH-Studiengang musste vom Bund genehmigt werden. Diese Beschränkungen sind nun entfallen; es obliegt seither einzig den Fachhochschulen und ihren Trägern, also Kantonen oder Kantonsverbünden, welche Studienangebote eingeführt oder aufgehoben werden und ob sich einzelne Fachhochschulen zusammenschliessen, aufspalten oder neu gründen wollen. Zugleich schafft das neue Gesetz eine «Marktordnung» für Hochschulen, unter der neue – auch private – Akteure Fachhochschulen gründen und akkreditieren lassen können. Die Schweizer Fachhochschullandschaft ist zu gut organisiert und eingespielt, als dass sich infolge dieser potenziell erheblich veränderten Rahmenbedingungen unmittelbare dramatische Umbrüche eingestellt hätten. Doch wie beispielsweise die im Vollzug befindliche Aufspaltung der FH Ostschweiz illustriert, ist durchaus eine neue Dynamik entstanden, die über kurz oder lang zu mehr Wandel im Feld der Fachhochschulen führen dürfte als landläufig erwartet.

Die dritte Zukunftsherausforderung für die Fachhochschulen schliesslich ist am schwersten abzugrenzen, weil sie die ganze Gesellschaft betrifft: Wir sind konfrontiert mit einem rasanten technologischen Wandel, der in der Digitalisierung und in der Biotechnologie seine vielleicht prägendsten Ausdrücke findet. Technologie schafft neue Möglichkeiten und Lösungsansätze, doch nicht immer ist klar, ob der Wandel, den sie bringt, erwünscht oder sinnvoll ist. Gerade weil es die Fachhochschulen sind, die den Anwendungsfeldern und Nutzern neuer Technologien vom Bauwesen über die Informatik und den Maschinenbau bis zum Gesundheits- und Sozialwesen in Forschung und Lehre am nächsten stehen, kommt auf sie mit dem beschleunigten technologischen Wandel auch eine besondere Verantwortung zu. Dabei das richtige Gleichgewicht zu wahren zwischen der konsequenten Vermittlung wissenschaftlicher Anwendungskenntnisse und der beweglichen Anpassung an neue Entwicklungen, die erfolgreiche Unterscheidung von kurzfristigem Hype und einschneidendem Trend, wird wohl die grösste inhaltliche Herausforderung für die Fachhochschulen sein. Gerade weil sie diese Aufgabe gemeinsam und komplementär mit ihren älteren Schwestern, den Universitäten, angehen können, gibt es aber allen Grund zum Optimismus, dass sie ihre Rolle als Mittler zwischen wissenschaftlichem Fortschritt und gesellschaftlichem Wandel auch in Zukunft mit Erfolg werden spielen können.

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