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Peter Zeindler: Der Urknall

Im Februar 2009 wird der Zürcher Schriftsteller Peter Zeindler 75 Jahre alt. Wir drucken exklusiv die ersten drei Kapitel seines Spionageromans mit dem Titel «Der Urknall», an dem er vor einigen Wochen zu arbeiten begonnen hat. Zur Zeit ist Peter Zeindler in Genf, um für das vierte Kapitel zu ermitteln.
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1. Kapitel

Wenn der Nordostwind blies wie an diesem Januartag, fühlte er sich ausgesetzt, nackt. Er war durchfroren. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass seine Frau neben ihm auf der Seite ging, die der Bise zugewandt war. Sie bot ihm keinen Schutz vor deren Zugriff. Heute schon gar nicht, dachte er. Sie waren zerstritten, was ihn ungleich mehr quälte als sie. Ihr machte eine vorübergehende Disharmonie wenig aus, im Gegenteil. Grundsatzdiskussionen waren für sie das Salz in der Suppe, Garanten einer stabilen Beziehung. Sie war es denn auch meistens, die das letzte Wort hatte, während er hilflos nach Argumenten suchte, schliesslich resignierte, entweder in dumpfes Schweigen versank oder türknallend den Schauplatz des Duells als erster verliess. Es gab nur ein Thema, bei dem sie sich nicht auf ihren Intellekt abstützte, sondern allein auf ihre Gefühle: ihre Familie.

Um ihre Vereisung zum Schmelzen zu bringen, hatte er sie scheinbar zufällig hierhin an den Quai du Mont Blanc dirigiert, wo sie sich kennengelernt hatten. Sie war ihm zwar kommentarlos gefolgt, aber mit diesem kleinen, wissenden und auch verächtlichen Lächeln auf den Lippen, auf das er keine Antwort mehr fand, seit sie ihn bei seinem ersten Versuch, darauf zu reagieren, angeherrscht hatte: «Lächle nicht so falsch!»

Eine Unzahl kleiner Wellenkämme mit messerscharfen Spitzen liessen den Genfersee wie einen Nagelteppich aussehen, den die Polizei ausgerollt hatte, um die Autofahrt eines flüchtigen Verbrechers zu bremsen. Nur die Fontäne des Jet d’eau durchbohrte die scheinbar hermetische Oberfläche des Sees und schoss steil himmelwärts. Aber sie kam dort nicht an. Die Bise kappte ihre Spitze, zerflederte sie. Den Mann im dunkelgrünen Wildledermantel, der sich mit beiden Händen auf dem Geländer aufstützte, schien dieses brutale Schauspiel zu faszinieren. Heute hatte er seinen dunkelgrauen Filzhut tief in die Stirn gezogen.

Benjamin Lorant wandte sich ab. Es war wohl kein Zufall, dass dieser Fremde seit Tagen immer wieder in seiner Nähe auftauchte, manchmal nur schemenhaft; dann aber wieder folgte er ihm wie ein treuer Hund, hielt jedoch immer so viel Abstand, dass er nicht angesprochen werden konnte.

«Mir ist kalt», sagte er zu seiner Frau und blieb stehen. «Ich möchte einen heissen Tee.»

«Jetzt und hier?» fragte Gisela scheinbar erstaunt und zeigte über ihre rechte Schulter zum Eingang des Hotels Beau-Rivage.

«Warum nicht? Ist jetzt nicht der Augenblick, schöne Erinnerungen zu wecken?»

Es war der schwache Versuch eines Friedensangebots, obwohl er aus Erfahrung wusste, dass es dauern würde, bis sie die ausgestreckte Hand zur Versöhnung annehmen würde. Jetzt blieb auch sie stehen. Sie wandte sich um und schaute ihn spöttisch an. Dachte sie, dass es wohl in diesem Augenblick nicht angezeigt war, bei Kuchen und Tee ein Tête-à-tête zu zelebrieren, wie damals, als sie sich vor beinahe zwanzig Jahren zum erstenmal begegnet waren?

Immer dann, wenn er in die Nähe des Hotels Beau-Rivage kam, musste er an Uwe Barschel denken, den ehemaligen Ministerpräsidenten von Schleswig-Holstein, der hier im Zimmer 317 tot in der Badewanne aufgefunden worden war. Am 11. Oktober 1987, an Barschels Todestag, war es gewesen, als Benjamin Lorant den Entschluss gefasst hatte, nach Genf zu ziehen. Und im Hotel, in dem Barschel gestorben war, hatte er zwei Jahre später, ebenfalls an einem 11.Oktober, geheiratet.

Er hob den Blick. Oben auf dem Dach des Hotelkomplexes flatterte die Schweizerfahne im steifen Nordostwind. Nicht seine Flagge. Unmittelbar darunter befand sich das Zimmer, in dem er mit Gisela die Hochzeitsnacht verbracht hatte, während im Hotelrestaurant im Erdgeschoss ihre grosse Familie weiterfeierte. Aber schliesslich hatte ihr Vater ja auch das Essen bezahlt. Beinahe zwanzig Jahre her.

Von seiner Familie hatte niemand an dieser Feier teilgenommen. Benjamin Lorants Eltern waren bei einem Autounfall bei Pretoria ums Leben gekommen, und die einzige offizielle Blutverwandte, Benjamins Schwester Peggy, die in Kapstadt als Buchhändlerin arbeitete, musste ihre Zusage wegen einer akuten Blinddarmentzündung zurücknehmen. Gisela hatte diese Entschuldigung nicht geglaubt und Benjamin einmal mehr gefragt, ob denn ihr geschwisterliches Verhältnis so oberflächlich sei, dass seine Schwester es nicht für nötig halte, an der Hochzeitsfeier ihres Bruders teilzunehmen. Benjamin hatte nur stumm mit den Achseln gezuckt.

«Blut ist dicker als Wasser!»

Da war er wieder, dieser ominöse Satz, das Losungswort der Familie Schröder.

Benjamin Lorant betete stumm die ehernen Silben nach, die in regelmässigen Abständen ihre Ehe strukturierten. Eigentlich wusste er es ja zu schätzen, dass Gisela bereitgewesen war, den Familiennamen Lorant anzunehmen, auch wenn sie dann doch noch den Namen Schröder ohne Bindestrich hinzugefügt hatte. So hatte sie wortlos die Distanz dokumentiert, hatte das Niemandsland abgesteckt, das sich zwischen ihrer kompakten Familie und dem zersprengten Haufen der Lorants befand.

«Blut ist dicker als Wasser», wiederholte er leise.

In diesem Augenblick wandte sich der Mann mit dem etwas aus der Mode gekommenen Filzhut auf der andern Strassenseite um. Zum erstenmal huschte ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht. Dann schürzte er die Lippen und begann laut zu pfeifen. Nur ein paar Takte. Benjamin Lorant erschrak. Er hörte eine ihm wohlbekannte Melodie. Die Hymne der ehemaligen DDR.

Benjamin spürte ihren Zeigefinger, der sich in seine Wange bohrte.

«Also dann!»

Sie ging mit ihren kurzen schnellen Schritten an ihm vorbei und steuerte das Eingangsportal des Beau-Rivage an. Er folgte ihr zögernd. Er straffte seinen Rücken und musste sich dazu zwingen, nicht zurückzuschauen. Er dachte an Lots Weib aus der Bibel, das sich auf der Flucht aus dem brennenden Gomorrha trotz dem ausdrücklichen göttlichen Verbot umgewandt hatte und zur Salzsäule erstarrt war.

Sie hatten schon eine Weile stumm auf den gepolsterten Stühlen in der Nähe des Fensters gesessen und darauf gewartet, dass der Kellner den bestellten Tee bringen würde, als der Mann, der ihm seit Tagen auf Distanz gefolgt war, die Bar ebenfalls betrat. Er stand im Eingang, den Hut hatte er abgenommen, den dunkelgrünen Wildledermantel geöffnet, und er musterte mit spöttischem Gesichtsausdruck die wenigen Gäste.

«Kennst du den?», fragte Gisela leise.

Sie strich ihren Rock über den Knien glatt. Er nahm es aus den Augenwinkeln wahr. Er wusste, wie er diese Geste zu deuten hatte. Noch verharrte sie in ihrer unerotischen Igelhaltung. Benjamin schüttelte beinahe unmerklich den Kopf.

«Merci», murmelte Benjamin mit Verspätung. Er hatte das silberne Löffelchen in die Teetasse getaucht, nachdem er vorher mit spitzen Fingern ein Stück Zucker hatte hineingleiten lassen, darauf bedacht, nicht zu spritzen.

Gisela hatte bereits ihre Tasse zum Mund geführt. Sie hatte dabei ihren kleinen Finger kokett abgespreizt. Ein penetrantes, klirrendes Geräusch liess sie zusammenzucken, als Benjamin seinen Löffel in das Untertellerchen legte. Sie schaute ihn vorwurfsvoll an. Er hob entschuldigend beide Hände.

Der Fremde hatte seinen Wildledermantel ausgezogen und über die Lehne seines Stuhls gelegt. Er hatte sich den freien Tisch neben dem massiven Kamin ausgesucht. Sein Hut, dessen Krempe abgegriffen war, lag auf einer zusammengefalteten Zeitung. Es war die Prawda.

Lorant schaute weg. Er suchte nach einem Anknüpfungspunkt für ein Gespräch, das sich endlich auf einer unverfänglichen Ebene abspielen würde. Doch immer wieder drängte sich der Gedanke an die lange zurückliegende Hochzeitsnacht dazwischen, die sie in diesem Hotel zelebriert hatten. Er sah das riesige leere Doppelbett mit dem kostbaren Baldachin vor sich. Er hörte das pritzelnde Geräusch der Dusche, die Giselas nackten Körper abtastete, als er vor dem leeren Bett stand und beklommen und erregt zugleich auf sie wartete. Eine Hochzeitsnacht verpflichtet. Seither waren sie lange Jahre verheiratet, aber er horchte noch immer, wenn sie im Bad war, ob sich die Qualität dieses prickelnden Geräuschs verändert hätte, ob es sich weniger animierend, provozierender ausnahm, weil die Fettpölsterchen, die sich im Verlauf der Jahre wie eine Schutzschicht unter ihrer strahlend weissen Haut wölbten, den angriffigen Wasserstrahl der Dusche erstickten.

Giselas Körper war ihm im Verlauf der Jahre abhanden gekommen; er war für ihn nur noch ein akustisches, kein optisches Erlebnis mehr, und auch der Tastsinn spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Aber all das hatte damit zu tun, dass die Erinnerung an die Badegewohnheiten seiner Mutter noch immer gegenwärtig waren.

«Ich bin doch nicht deine Mutter», hatte Gisela zu ihm gesagt.

Die Falte über ihrer Nasenwurzel hatte ihre Stirn in zwei ungleiche Hälften geteilt.

Als Jugendlicher hatte er oft vor der Badezimmertür gelauscht, wenn seine Mutter jeweils am Samstagabend vor dem einmal wöchentlich angesetzten ehelichen Geschlechtsverkehr ins Bad gestiegen war. Er hatte es noch immer vor Augen, wie sie in die Wanne kletterte, sich mit der linken Hand auf dem Rand abstützte, dann das linke Bein rückwärts ausstreckte, es auf dem Wannenrand ruhen liess, sich dabei wohl für Augenblicke in den scheinbar schwerelosen Körper einer Eiskunstläuferin versetzte, das Bein dann zögernd ins heisse Wasser eintauchte, sich etwas aufrichtete, auf dem Boden der Wanne Halt suchte, darauf das rechte Bein anwinkelte und dem andern beigesellte. Eine Weile stand sie jetzt aufrecht da, bückte sich dann, umklammerte mit beiden Händen den Wannenrand und liess langsam ihren schweren Körper ins Wasser gleiten. Ihr Gesäss drängte sich wie eine Abrissbirne mit einem dumpfen Geräusch in die Wanne, schaffte Raum für ihren nachdrängenden Körper. Jetzt lehnte sie sich, die Arme auf den Rand gelegt, etwas zurück, gerade so, dass ihre Dauerwellen, die sie unter einer hellblauen Plastikhaube trug, im Nacken nicht nass wurden. Ihre etwas schlaffen bananenförmigen Brüste, die anfangs noch obenauf schwammen wie herrenloses Strandgut, tauchten ein, lösten sich, begleitet von ihrem Seufzer, scheinbar auf, verloren vollends ihre Form. Wie Quallen. Eine Weile war es still im Bad. Sie lag jetzt wohl regungslos auf dem Rücken. Dann endlich vernahm er dieses vertraute schneidende Geräusch, das ihn an eine Bugwelle erinnerte. Sie hatte sich aufgesetzt. Ihre beiden Knie ragten jetzt wie kleine Inseln aus dem Wasser. Sie beugte sich darüber und betrachtete sie nachdenklich. Wie ein kleiner Gott, der sie aus den Tiefen eines Wassers hatte auftauchen lassen.

Anfangs hatte Benjamin dieses Ritual fasziniert durch das Schlüsselloch mitverfolgt, aber bald einmal hatte er nur noch mit geschlossenen Augen mitten im Flur gestanden und sich darauf konzentriert, die vertrauten Geräusche zu interpretieren. Es gab keine Erklärung dafür, warum ihn dieses Baderitual seiner Mutter so fasziniert hatte. Und erst, wenn sie sich geräuschvoll hochgeschafft und er ihren finalen Ausruf «Voilà» gehört hatte, war er imstande gewesen, sich wieder zu rühren. Voilà! Seine Mutter war Französin gewesen, hatte während des Zweiten Weltkriegs in Paris gelebt, wo Benjamins Vater, damals ein junger Soldat, der mit Hitlers Truppen in der französischen Metropole einmarschiert war, sie kennengelernt und wohin er sich nach Kriegsende zu einem zweiten Eroberungsfeldzug aufgemacht hatte, um die ferne Geliebte endgültig zu der Seinen zu machen. So jedenfalls lautete die Fassung, die Benjamins Vater jedesmal ein bisschen anders erzählt hatte.

Benjamin ballte die Fäuste. Einmal mehr hatte er sich in der falschen Biographie verirrt. Die Bilder liessen ihn nicht los, drängten sich immer wieder in sein Denken. Gisela hatte ihn die ganze Zeit beobachtet. Sie wirkte plötzlich verunsichert. Benjamin hatte im Verlauf der Ehejahre mit Besorgnis festgestellt, dass immer dann, wenn er zwanghaft den von Gisela verursachten Geräuschen lauschte, die mittlerweile ein Vollbad dem Duschen vorzog, diese Töne mehr und mehr mit den akustischen Signalen zu übereinstimmen begannen, die damals seine Mutter aus dem Badezimmer gesandt hatte.

«Und jetzt?» fragte Gisela.

Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten ihn über den Rand der Teetasse prüfend an.

«Jetzt? Wir wechseln das Thema.»

Sie lachte lautlos.

«Haben wir uns denn überhaupt unterhalten? Es ist immer dasselbe. Sobald ich meine Familie ins Gespräch bringe, schweigst du verstockt. Du neidest mir meine Familie, weil du selbst keine wirkliche Familie hast. Ein kindisches Verhalten.»

«Ich empfinde eine Familie zu haben als Belastung. Und wenn ich deine anschaue! Dein Bruder ist ein Säufer. Und er zieht dir und deinen beiden Schwestern das Geld aus der Tasche. Und ihr lasst euch ausnehmen. Nur weil er von eurem Blut ist. Sippendenken! Und dein Grossvater – ach was!»

Er unterbrach sich selbst, als er das zischende Geräusch hörte, das sie produzierte.

Er stand auf und ging zur Toilette. Ein Ausweichversuch, bevor er wieder in sein verstocktes Schweigen verfiel. Dort stand er lange vor dem Spiegel und betrachtete ohne Emotionen den Mann, der ihn seinerseits freudlos musterte. Er mochte diesen Mann nicht, der ihn anschaute. Vielleicht deshalb, weil er, wenn er aus seinem Kopf herausschaute, sich einen andern Kopf vorstellte als den, den er dann im Spiegel zu Gesicht bekam.

Die Tür hinter ihm wurde aufgestossen. Der Fremde, der ihm seit Tagen gefolgt war, stand in Benjamins Rücken und betrachtete über dessen Schulter den Mann im Spiegel. Benjamin kam sich vor wie eine Figur in einem Bild des belgischen Surrealisten René Magritte.

«Herr Lorant, nicht wahr?» fragte der andere.

Er sprach ein gepflegtes Hochdeutsch ohne Akzent. Und so sprach er Benjamins Nachnamen auch nicht französisch aus. Er war älter als Benjamin. Sechzig? Seine Gesichtszüge waren schwammig, seine Augen wässrig. Er lächelte Benjamin an und zeigte dabei seine etwas vorstehenden Schneidezähne. Vaters Gebiss? Benjamin schnüffelte. Es roch nach Desinfektionsmitteln und ein ganz wenig nach Flüssigseife. Es war dies kein Ort für konspirative Treffen.

«Was wollen Sie? Warum folgen Sie mir?»

«Ich möchte mit Ihnen reden.»

«Wohl nicht hier!»

Benjamin drehte sich schnell um. Er bereute im selben Moment diese spontane Reaktion. Aber jetzt war es zu spät. Jetzt hatte der andere ihn doppelt im Visier, von hinten und von vorne. Und ihm war nur noch eine Perspektive übrig geblieben.

«Nein, nicht hier.»

«Und wie ist Ihr Name?»

«Petrov.»

«Sie sind Russe?»

Der Fremde reagierte nicht auf diese Frage. Sein Blick meinte nicht Benjamins Gesicht, sondern seine Rückseite, wie sie sich im Spiegel anbot. Benjamin Lorant richtete sich auf und presste die Gesässmuskeln zusammen.

«Wann würde es Ihnen passen? Morgen?» fragte Petrov.

Benjamin bewegte sich aus Petrovs Blickfeld. Eine Wasserspülung rauschte. Er hörte das Geraschel von Textilien. Eine Gürtelschnalle klickte. Die Tür einer WC-Kabine ging auf . Ein junger Mann in orangefarbenem Rollkragenpullover und schulterlangem dunkelblonden Haar, eine Zeitung unter den Arm geklemmt, tauchte auf. Er zögerte kurz und ging dann stumm an den beiden vorbei.

«Ein Kollege?» fragte Lorant spöttisch, als der Mann den Raum verlassen hatte.

«Warum sollte er…?»

Benjamin war es gelungen, Petrov zu verwirren. Die antrainierten Reflexe von damals funktionierten also noch.

«Er hat sich die Hände nicht gewaschen. Entweder ist er ein Schwein oder…»

Lorant sprach den Satz nicht zu Ende. Gelernt ist gelernt.

«Oder?» fragte Petrov. Er wirkte jetzt verunsichert.

»Oder er hat auf uns gewartet.»

Jetzt grinste Petrow.

«Sie sind noch immer der richtige Mann», sagte er und legte seine Hand auf Lorants Schulter.

«Noch immer!», hatte er gesagt und seine Schneidezähne entblösst.

«Warum verfolgen Sie mich seit Tagen?»

Petrovs Hand lag schwer auf Lorants Schulter.

«Eben deshalb. Weil Sie noch immer der richtige Mann sind.»

Petrovs Griff wurde fester. Lorant befreite sich, indem er einen Schritt zurücktrat.

«Wo?»

«Im Restaurant des Philosophes. An der Rue Prévost-Martin.»

Lorant nickte. «Ist mir bekannt. Morgen um 17 Uhr also.»

Er wunderte sich über sich selbst, darüber, dass er bereit war, sich mit dem Fremden auszutauschen. Dieser zeigte ein dünnes Lächeln, hob die rechte Hand auf Schulterhöhe und wandte sich zum Gehen. Es war eine müde Variante des Hitlergrusses, dachte Lorant. Er horchte Petrovs Schritten nach, bis sie verklungen waren. Dann wusch er sich die Hände und verliess die Herrentoilette. Obwohl er keinen konkreten Grund hatte, fühlte er sich in Aufbruchstimmung. Die Begegnung mit diesem Petrov hatte auf wundersame Weise die Lethargie weggedrückt, die ihn in letzter Zeit immer befallen hatte.

2. Kapitel

Benjamin Lorant liebte Bachs Musik. Johann Sebastian Bach: immerhin klangen in Benjamins Familiennamen Lorant die dominierenden Vokale des Vornamens des grossen Meisters der Barockmusik mit, auch wenn das t am Schluss den Wohlklang brüsk abwürgte und nicht wie beim Vornamen Johann im finalen Nasal «-an» hoffnungsvoll nachklang. Vielleicht hatte er deshalb in Genf eine Art Heimatgefühl entwickelt, weil in der französischen Aussprache sein Familienname nicht erstickt wurde, sondern wie ein sonores Echo aus den Tiefen einer Amphore aufzutauchen schien.

Johann Sebastian Bach! Benjamin liebte vor allem Bachs Oratorien, in denen er lange genug selbst mitgesungen hatte. Die Matthäus-Passion vor allen andern. Immer am Donnerstagabend, wenn Gisela ihren Yogakurs besuchte, versank er in seinem ausladenden ockerfarbenen Sessel, einem Familienerbstück, in dem sein Grossvater väterlicherseits langsam einen qualvollen Tod gestorben war, und zelebrierte seine Feierstunden. Er hatte sich in seinem Leben hier in Genf an Giselas Seite eingerichtet. Sein Bedürfnis nach seinem früheren Dasein war geschrumpft. Und auch das Zusammensein mit Gisela trug zu seinem Wohlbefinden bei. Immer mehr hatte er das Gefühl, mit sich im Reinen, angekommen zu sein, und nur einmal in der Woche, immer am Donnerstagabend, gestattete er sich während dreier Stunden einen Ausflug zurück in die Welt seines eigentlichen Herkommens.

Gisela verliess das Haus jeweils gegen fünf Uhr abends. Er schaute ihr gerührt nach, wartete darauf, dass sie sich noch einmal umdrehte, ihm zuwinkte und dann mit ihren emsigen Schritten die Strasse überquerte und beim Blumenladen in die Seitengasse einbog. Diese unerklärliche Rührung bemächtigte sich seiner jedesmal, wenn Gisela wegging, auf Reisen oder nur zum Arbeiten oder Einkaufen. Benjamin tat sich überhaupt schwer mit Abschiednehmen, auch wenn diese Abschiede ja meist nicht endgültig waren. Doch Abschiede hatten sein Leben seit seiner Kindheit geprägt und strukturiert, so wie bei anderen Leuten die Feiertage den Jahresrhythmus bestimmten. Immer, wenn er von zu Hause weggehen musste, in Arbeitslager – er zögerte und korrigierte sich schnell: in Klassen- oder Pfadfinderlager – oder zu Besuch zu Verwandten, hatte ihn das Heimweh schon überfallen, bevor er aufgebrochen war. Es war die Angst gewesen, nie mehr zurückzukommen, die ihn geprägt hatte, ein Leben lang ausgesetzt und unbehaust sein zu müssen.

Wenn Gisela aus seinem Blickfeld entschwunden war, schloss er das Fenster, goss sich ein Glas Waadtländer Weisswein ein und startete den CD-Player. Und zehn Minuten, bevor seine Frau jeweils im Anschluss an die Yogastunde, nach gemütlichem Zusammensein mit andern Kursteilnehmern, nach Hause zurückkehrte, war der Schlusschor verklungen. Schnell hängte er Slevogts Zeichnung «Der barmherzige Samariter» wieder an ihren angestammten Platz über dem Sessel, liess die CD mit Bachs Passion in einer Schublade verschwinden, in der er Schreibblöcke und Papier für den Drucker aufbewahrte, setzte sich an seinen Schreibtisch und startete seinen Laptop. Die Vorliebe für Bach und den Thomanerchor passte nicht zu seiner Biographie, und deshalb hielt er diese kostbarsten Schätze seiner CD-Sammlung vor ihr verborgen.

Dass er ausgerechnet an diesem Abend, nach einem Tag, der nicht von ehelicher Harmonie geprägt gewesen war, vergessen hatte, den Slevogt wieder an seinen ursprünglichen Platz zu hängen, versetzte ihn erneut in die Lage des ungehorsamen Kindes, das die Abwesenheit der Mutter dazu benützt hatte, eherne Familienregeln ausser Kraft zu setzen. Ein Akt der Auflehnung. Gisela hatte ihm diese Zeichnung zum 40. Geburtstag geschenkt. Und er hatte dieses Geschenk freudig entgegengenommen und ihm einen Ehrenplatz an der Wand über seinem Lieblingssessel eingeräumt. Erst später hatte er erfahren, dass Gisela diese kostbare Zeichnung nicht gekauft hatte, sondern dass sie aus dem Erbe ihres Grossvaters stammte, der sich im Verlauf der Zeit eine bedeutende Sammlung von Werken angelegt hatte, die vorwiegend aus der Zeit des deutschen Expressionismus stammten. «Im Verlauf der Zeit» – das war Giselas Formulierung. Erst später hatte Benjamin erfahren, dass sich Giselas Grossvater die meisten Stücke dieser Sammlung zur Zeit des Zweiten Weltkriegs angeeignet hatte. Benjamins Verdacht, dass der grösste Teil von dessen Kunstsammlung aus ehemals jüdischem Besitz stammen könnte, war im Verlauf der Zeit gewachsen. Doch er machte Gisela gegenüber in dieser Hinsicht nur immer wieder vage Andeutungen, weil er ja ihre uneingeschränkte Loyalität kannte, die sie an den Tag legte, wenn es sich um Familienangelegenheiten handelte.

«Blut ist dicker als Wasser.»

Es war Zufall, dass Benjamin eines Tages, als er diese Bleistiftzeichnung von Slevogt genauer untersuchte und sie dabei aus dem Rahmen nahm, auf der Innenseite des Passepartouts einen kleinen Aufkleber entdeckte: Salomon Fenigstein, Saarbrücken.

Er hatte Gisela darauf angesprochen und dabei den vagen Verdacht geäussert, dass es sich bei dieser Zeichnung um Raubkunst handeln könnte. Doch sie hatte diese Bemerkung als lächerliche Unterschiebung bezeichnet und gesagt, er könne ja sein Geburtstagsgeschenk verkaufen und den Ertrag für wohltätige Zwecke einsetzen. Damit war das Thema vom Tisch gewesen. Benjamin war nicht mehr darauf zurückgekommen, und nur jeweils am Donnerstagabend, wenn er seine private musikalische Feierstunde zelebrierte, hatte er die Zeichnung über dem Kopfende des Sessels abgehängt, obwohl er sich über den eigentlichen Beweggrund nicht wirklich klar war. Es bestand ja kein Zusammenhang zwischen Bach und Slevogt und Salomon Fenigstein. Und Gisela trug bestimmt keine Schuld an den möglichen Vergehen ihres Grossvaters und konnte auch nichts dafür, dass in ihrem Elternhaus in Saarbrücken wertvolle Bilder von Corinth, Kirchner und Nolde die Wände schmückten, Bilder, die sie zum Teil einmal erben würde und die dann wohl auch ihre Wohnung hier in Genf schmücken würden. Entartete Kunst.

Bildende Kunst war ein wesentlicher Bestandteil von Benjamins Biographie. Seine Doktorarbeit über die Entwicklung des Hell-Dunkel-Effekts im Werk Rembrandts war allerdings nicht mit «summa» oder «magna cum laude» bewertet worden, sondern nur mit einem dürftigen «cum». Aber mit diesem nicht selbstverschuldeten Makel musste er leben.

Gisela hatte die leere Stelle über dem Sessel gleich bemerkt. Sie stand in ihrem dunkelbraunen Wollmantel in der offenen Wohnzimmertür, schweigend, aber mit beredtem Gesichtsausdruck. Die Falte über der Nasenwurzel war tief. Die Lippen hatte sie zusammengepresst. Die Ellbogen waren angewinkelt.

«Warum hast du das Bild abgehängt?» fragte sie mit scheinbar neutraler Stimme.

Er wirkte gefasst. Sich nie auf dem falschen Fuss erwischen lassen! Diese Regel hatte er intus. Er hatte sich insgeheim seit Jahren auf diese Situation vorbereitet. Er hatte ja damit rechnen müssen, dass sie ihn eines Tages in seiner Feierstunde überraschen und ihr dabei sofort die leere Stelle über seinem Lieblingssessel auffallen würde. Und deshalb hatte er für solche Fälle eine einleuchtende Erklärung vorformuliert: «Wenn denn das Bild über meinem Kopf an der Wand hängt, kann ich es nicht betrachten. Deshalb stelle ich es in Sichtweite auf.»

Nur lag die Zeichnung diesmal neben der Obstschale auf der Biedermeierkommode, die Vorderseite nach unten.

«Dir ist nicht mehr zu helfen», sagte sie kopfschüttelnd. «Kein barmherziger Samariter weit und breit, der sich deiner annehmen würde», fügte sie hämisch hinzu und wandte sich ab.

Er hörte, wie sie draussen im Flur ihren Mantel aufhängte, die Schuhe auszog und dann in die Küche ging, um sich dort wohl ebenfalls ein Glas Weisswein einzuschenken. Als sie zurückkam, wirkte sie wie verwandelt. Ihre Züge hatten sich entspannt. Es war ihr in der Zwischenzeit offenbar gelungen, eine Interpretation für sein Verhalten zu finden. Er hatte die Slevogt-Zeichnung mittlerweile wieder an ihren angestammten Platz gehängt. Sie hatte es mit einem befriedigten Lächeln zur Kenntnis genommen.

Sie setzte sich auf das Sofa vor dem Fenster, griff nach einem der dunkelroten Kissen und presste es gegen ihren Bauch. So sass sie da, ein wenig wie ein Kind, das sich schützen will, dachte Benjamin. Er wartete ab. Vielleicht war diese scheinbar kindliche Haltung auch nur Tarnung.

«Du bist so ohne Geheimnis», sagte sie unvermittelt und warf das Kissen in seine Richtung.

Er fing das Kissen auf. Er war erschrocken, aber nicht wegen des Kissenwurfs, sondern wegen ihrer Aussage. Wollte sie ihn provozieren oder meinte sie es ernst?

«Wie meinst du das?» fragte er und griff zum Glas, obwohl er es bereits leergetrunken hatte.

«Wie ich es meine? Du bist so durchsichtig. Du bist so leicht zu durchschauen. Jetzt kennen wir uns seit zwanzig Jahren. Und du bist wirklich der, der mir damals begeg-

net ist.»

Sie musterte ihn mit einem Gesichtsausdruck, den er nicht zu deuten vermochte. Zwischen Mitleid und Spott?

«Leer wie dein Glas jetzt», fügte sie hinzu.

Wie sollte er jetzt reagieren? Am sinnvollsten war es wohl, wenn er eine Reaktion zeigte, die scheinbar eindeutig war: beleidigtes Erstaunen. Er hob hilflos die Arme und liess sie wieder sinken.

«Soll ich denn ein Geheimnis haben vor dir? Das ist doch nicht der Zweck einer Ehe» antwortete er. Es klang hilflos.

«Es macht eine Ehe spannend», sagte sie schnell. «Wenn du dich deiner unterdrückten Vorliebe für Bachs Matthäuspassion hingibst, wenn ich ausser Haus bin, ist da doch nichts Geheimnisvolles dabei. Nur deshalb, weil ich Bach nicht mag. Und nicht nur Bach.»

Sie wusste also Bescheid. Sie hatte seine CD-Sammlung in den Verliessen seines Schreibtischs entdeckt.

Sie hatte wohl gedacht, dass er sie mit seiner Vorliebe für Bach nicht provozieren, nicht ihren Widerspruch herausfordern wollte, weil sie sich nicht für klassische Musik interessierte. Nicht nur für klassische nicht: nicht für Musik im allgemeinen. Sie zog im täglichen Leben sachbezogene Diskussionen vor, Debatten über politische Themen, und auch am Radio und im Fernsehen konzentrierte sie sich auf Diskussionsrunden, Politmagazine, Nachrichtensendungen und Hörspiele. Nur ihre Vorliebe für Familienserien am Fernsehen machte sie angreifbar. Sie mochte es nicht, wenn er sie darauf ansprach.

«Und wenn ich jetzt eine Geliebte hätte?» fragte er endlich mit einem gequälten Lächeln auf den Lippen. «Wäre dir damit geholfen?»

«Du hast keine Geliebte!»

Es klang wie ein Verdikt. Er nahm es irgendwie enttäuscht zur Kenntnis. Er taugte nicht für erotische Seitensprünge. Aber es war nicht fehlende Bereitschaft, Mangel an Möglichkeiten oder absolute Treue, die ihn daran gehindert hätten. Es waren die Schuldgefühle im nachhinein, die für ihn nur schwer auszuhalten sein würden.

Es war dies ein Verhalten, das seine Wurzeln weit zurück in seiner Kindheit hatte. Seine Mutter hatte ihn als Heranwachsenden immer wieder als heimlichen Beschatter seines Vaters, ihres Mannes, eingesetzt. Zwar hatte sie sich wohl vor dem Resultat dieser Recherchen gefürchtet, hatte wohl gehofft, dass ihr Mann kein Verhältnis mit seiner Sekretärin hätte, dennoch hatte sie blass und gefasst Johanns Zusammenfassung seiner Beobachtungen erwartet. Anfangs hatte er noch versucht, seine Mutter zu schonen, hatte sich bemüht, ihr Misstrauen zu zerstreuen, doch hatte sie ihm angesehen, dass er nicht die Wahrheit sagte und ihm so lange mit Liebesentzug gedroht, bis er Einzelheiten preisgab und über die Ausflüge des Vaters zusammen mit seiner Geliebten in den Wald oder seine Spaziergänge am Fluss mit anschliessendem Badevergnügen berichtete. Johann war ein guter Beobachter gewesen. Er war es noch heute.

Er dachte an den Fremden, an diesen Petrov, der ihn seit Tagen beschattete, so, wie er damals seinen Vater beschattet hatte. Er wusste aus Erfahrung, dass ein Beobachter gleichzeitig auch immer ein Beobachteter war.

«Nein, ich habe keine Geliebte», sagte er leichthin.

Sie nahm diese Aussage lächelnd zur Kenntnis. Er erinnerte sich an den Beginn ihrer Beziehung, der sich wohl so abgespielt hatte wie bei andern Paaren auch. Am Anfang stand der Austausch biographischer Einzelheiten, die im Verlauf der Zeit immer intimere Bereiche berührten und letztlich Bekenntnischarakter hatten. Entscheidend für die Qualität einer Beziehung war dabei jedoch, dass sich die emotionale Qualität dieser Konfessionen ungefähr die Waage hielt. Das Ganze war ein Deal, davon war Benjamin überzeugt.

Sein Anteil in diesem Prozess war damals ungleich gewichtiger gewesen als ihrer. Er hatte sich in eine Art Bekennerrausch hineingesteigert, hatte intime Einzelheiten aus der Jugend preisgegeben, die Gisela offensichtlich peinlich gewesen waren. Vielleicht leitete sie ja von diesen Erinnerungen ihre Überzeugung ab, dass er nichts zu verbergen habe.

Die Welt immer neu erfinden! Dieser Leitsatz bestimmte Johanns Leben. Er schützte ihn vor Verletzungen.

«Ich gehe jetzt schlafen.»

Benjamin stand auf, beugte sich zu Gisela hinunter, die noch immer mit durchgedrücktem Kreuz auf dem Sofa sass und zog sie zu sich hoch. Anfangs spürte er, wie sie sich verkrampfte, doch dann gab sie nach und legte ihren Kopf auf seine Schulter. Er atmete tief durch. Er fühlte sich wohl, angenommen, aufgehoben.

3. Kapitel

Am andern Tag sass Benjamin Lorant schon abends um halb fünf im Café des Philosophes. Viel zu früh. Zu früh am Treffpunkt zu sein, um nicht überrascht zu werden, war ein eisernes Gesetz, das man ihm damals eingebleut hatte. Ein eigenartiges, prickelndes Gefühl hatte ihn erfasst wie damals als Kind in Erwartung der weihnachtlichen Bescherung. Er war zu Fuss durch die halbe Stadt gegangen. Es war eine Art Erinnerungsparcours, den er absolviert hatte. Oder war es ein Abschiedsparcours? Er hatte Umwege gemacht, hatte an Orten einen Zwischenhalt eingeschaltet, die in seinen zwanzig Jahren in Genf eine Rolle gespielt hatten. Der Bahnhof Cornavin. Am 10. Oktober 1988 war er mit seinem bescheidenen Gepäck, einem alten Lederkoffer mit abgewetzten Ecken, da angekommen. Er hatte einen einzigen Anzug bei sich getragen, seinen roten Lieblingspullover, Wäsche, weisse Wollsocken, Thomas Manns «Buddenbrooks» und eine alte Grammophonplatte mit einer Aufnahme von Bachs Matthäuspassion mit dem Gewandhausorchester Leipzig, dem Thomanerchor und dessen damaligem Dirigenten Günther Ramin. Er hatte damals in einer schäbigen Absteige in Carouge übernachtet, aber das hatte ihn weiter nicht bedrückt. Er hatte sich in einer euphorischen Aufbruchstimmung befunden: der See, der Mont-Blanc, der Jet d’eau, alles Signale aus einer neuen Welt, die sich vor ihm auftat.

Auch heute war er über den Pont du Mont-Blanc gegangen, das erinnerungsträchtige Hotel Beau-Rivage im Rücken, hatte eine Pause im Englischen Garten eingeschaltet, wo es damals immer wieder einmal zu konspirativen Treffen gekommen war. Dann hatte er die Promenade des Bastions angepeilt, hatte lange Zeit vor dem Universitätsgebäude gestanden, wo er später unter den Professoren zahlreiche Freunde gefunden hatte. Das ganze Universitätsviertel war von Erinnerungen geprägt. Zu diesen besetzten Örtlichkeiten gehörte auch das Café des Philosophes, in den ersten Jahren sein bevorzugtes Lokal, wo er oft lange bei einem Glas Wein einfach dagesessen und sich die Leute angeschaut hatte, um sich mit dem Geist, der in dieser Stadt herrschte, vertraut zu machen.

Auch jetzt hatte er wieder ein Glas Weisswein bestellt, Saint-Saphorin, und hatte sich einen Zigarillo angezündet. Zum erstenmal seit Jahren hatte er am Kiosk wieder eine Packung seiner Lieblingszigarillos gekauft. Er sass mit halb geschlossenen Augen da und lauschte den Geräuschen im Raum.

«Herr Blume?»

Benjamin schrak auf, als er diesen Namen hörte.

«Oder darf ich Sie beim Vornamen nennen?»

«Ich heisse Lorant. Benjamin Lorant!», sagte er schnell.

Er spürte die Hand auf seiner Schulter. Als ob er verhaftet würde. Er drehte sich langsam um. Die Hand fiel von seiner Schulter. Petrov grinste. Er schälte sich aus seinem dunkelgrünen Wildledermantel und warf ihn ohne hinzuschauen dem Kellner zu, so wie die Tennisspieler ihre Frottees den Balljungen. Er wirkte wie verwandelt, in seiner schwarzen Cordhose und mit dem roten Strickpullover. Er hatte diesmal eine Brille mit getönten Gläsern aufgesetzt, vielleicht um den verwaschenen Blick zu tarnen. Er setzte sich Benjamin gegenüber an den Tisch. Sein Filzhut lag zwischen ihnen. Petrov hatte seinen Blick auf den Tisch gerichtet, auf seine gefalteten Hände. Er trug einen Ehering. Oder war der Ring nur Tarnung?

«Sie heissen Benjamin Lorant, das ist wohl wahr. Seit gut zwanzig Jahren heissen Sie so», sagte Petrov und hob seinen Blick. Er hatte die getönte Brille abgenommen. Seine Augen waren wirklich wässrig. Als ob sie nichts festzuhalten vermöchten.

«Was wollen Sie von mir?»

Benjamin griff zu seinem Glas, setzte es aber gleich wieder hin, ohne getrunken zu haben.

«Darf ich Sie Johann nennen? Oder ist Ihnen Matthäus lieber?»

Petrov hatte sich umgeschaut, bevor er diese Frage gestellt hatte. Aber niemand im Lokal schien sich um die beiden zu kümmern.

«Eine etwas sonderbare Auswahl, nicht wahr? Vorbei und vergessen.»

Benjamin hatte die Augen geschlossen. Er tastete nach dem Zigarillo, den er auf den Rand des Aschenbechers gelegt hatte. Petrov grinste vor sich hin. Der Kellner hatte ihm ungefragt einen Campari gebracht. Petrovs Hut war vorn an der Krempe abgegriffen und nicht oben, wo man zupackte, um den Hut zum Gruss zu lüften.

Vaters Hut war an derselben Stelle abgegriffen gewesen.

«Vorbei, aber nicht vergessen», sagte er und hob sein Glas in Benjamins Richtung.

«Die DDR gibt es seit zwanzig Jahren nicht mehr, Herr Petrov», antwortete Benjamin förmlich.

Petrov nickte. Er wirkte amüsiert.

«Sie haben ja damals etwas verpasst, nicht wahr?»

Er schien gut informiert zu sein. Aber wie gut? Oder bluffte er nur? Benjamin legte sich auf Zurückhaltung fest. Er musste abwarten. Taktieren. Nur, Petrov war ja offensichtlich vom Fach. Und er war sehr wahrscheinlich praxiserprobt.

«Worauf spielen Sie denn an?» fragte Benjamin scheinbar beiläufig und betrachtete die erloschene Spitze seines Zigarillos.

Peter Zeindler wurde am 18. Februar 1934 in Zürich geboren und wuchs in Schaffhausen auf. Nach einem Studium der Germanistik und Kunstgeschichte schrieb er 1951 seine Doktorarbeit bei Emil Staiger zum Thema «Der negative Held im Drama». Negative Helden finden sich auch in seinen zahlreichen Romanen, Hörspielen, Theaterstücken und Drehbüchern. Bekanntgeworden ist er vor allem mit dem Agentenroman «Der Zirkel» (1985) und dem Drehbuch für den Tatort «Gehirnwäsche» (1993). «Mauersegler» ist der Titel seines jüngsten Buches (2007), das in unserer Dezember/Januar-Ausgabe 2007/08 vorgestellt wurde. Das Buch verführte unseren Rezensenten, der von sich behauptete, bisher keinen Zugang zu Agentenromanen gehabt zu haben, dennoch dazu, es mit Spass und Genuss zu Ende zu lesen.

Neben seiner Schriftstellerei war Peter Zeindler Redaktor und Moderator beim Schweizer Fernsehen wie auch beim Schweizer Radio. Seit den 80er Jahren konzentriert er sich vorwiegend auf Agentenromane, von denen er rund 15 geschrieben hat. Sie dienen ihm als Vorwand, um sich mit seinem eigenen Schreiben, seiner Biographie und seinen Lebensentwürfen auseinanderzusetzen, gelebten wie ungelebten. «Ein Autor», so sagt er, «ist wie ein Spion, der durch die Figuren seiner Romane fremde Biographien lebt und sein Leben mit ihrer Hilfe immer wieder neu erfindet.» Spione müssen sich verstellen, um zu überleben. Peter Zeindler muss schreiben.

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