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Nacht des Monats
mit René Frauchiger

Nacht des Monats  mit René Frauchiger
René Frauchiger, photographiert von Gregor Szyndler.

«What brings you to Liverpool?», fragt der polnische Rezeptionist Pawel, der sich meinen etwas unwegsamen Nachnamen problemlos diktieren lässt, bei René Frauchiger aber die ID zum Abschreiben braucht. – «The Beatles», antworte ich. – «The Who?», witzelt Pawel, in Personalien vertieft. Apropos: René Frauchiger ist ein Studienkollege, Mitgründer und -herausgeber des Literaturmagazins «Das Narr» und Autor. Nach einer Lehre als Kaufmann, Arbeit als Kinooperateur, nach einem Linguistik- und Philosophiestudium und Stationen im Regional- und im Kulturjournalismus unterrichtet er heute Bürokorrespondenz in Biel. Wir sind in den Herbstferien übers Wochenende nach Liverpool geflogen.

Ob die Lehrerausbildung an den Fachhochschulen wirklich so mühsam sei, frage ich auf dem Weg nach Chinatown. René erwidert: «Du brauchst nachher lange, um das Unterrichten wieder zu lernen. Am schlimmsten ist es, wenn du vorher schon unterrichtet hast.» Er freut sich, jetzt eine Stelle zu haben, die ihm das Leben finanziert und seine Arbeit an eigenen Manuskripten und fürs «Narr» erlaubt. «Und was machst du grad jetzt so fürs Magazin?», frage ich. «Ich muss neue ISBN-Nummern kaufen, der alte Block ist alle», erwidert er. So steht der neuesten «Narr»-Sonderausgabe, einer Sammlung von Groschenromanen, nichts mehr im Weg.

Vor einer aus Badezimmerkacheln zusammengepflasterten «Titanic»-Nachbildung auf einem Grünstreifen zwischen zwei Strassenzügen bleiben wir stehen. «Die ‹Titanic› war in Liverpool gemeldet», lese ich von der Plakette ab. Wir unterhalten uns über Geschichtsvergessenheit und -versessenheit, streifen Katalonien und Madrid und mutmassen, ob es wohl besser sei, in einem Land zu leben, in dem man immer mitreden kann und sich nie etwas ändert, oder in einem, in dem sich nie etwas ändert und man auch nie mitreden kann.

Wenig später trauen wir unseren Augen nicht: Das Bein angewinkelt an eine Wand gelehnt steht ein maximal sechs Jahre alter Dreikäsehoch am Strassenrand und pafft einer Siebenjährigen Zigarettenrauch ins Gesicht. Etwas perplex betreten wir ein nahe gelegenes Gitarrengeschäft und fragen nach dem Weg zur Penny Lane und den Strawberry Fields. «You’re f****d! Don’t go there», erwidert der Gefragte. «Sie haben das rote Gartentor geklaut und es nach Amerika verschifft.» Seemannsgarn. Gelächter. Mondlicht.

Wir spazieren weiter, fragen nach dem Weg und wundern uns: wie viele andere Gründe führen denn die Touristen in Scharen ans Ufer des River Mersey? Natürlich war der tatsächliche Weg zur Penny Lane ein Klacks, verglichen mit den Beschreibungen urbaner Gewaltmärsche und Verlorenheiten, die man uns auftischte. Wir machen Fotos. Schlendern stadteinwärts. Plötzlich schwirrt die Luft. Livemusik in jeder Kneipe, jedem Laden. Es ist die Smithdown Road. Auf der winzigen Bühne eines Pubs rotzt eine mittelalte Punkkapelle ein psychedelisches Set. Später, beim Konzert einer 22jährigen Mischung aus Joan Baez, Amy Winehouse und Patti Smith, will einer von René wissen: «What’s that?» – Er meint seinen Mantel. «In Switzerland», sagt René, «we use coats against the cold!» – «Never heard of coat», lacht der Kurzärmlige. «When it’s cold, I wear a longsleeve under my t-shirt!» – Seemannsgarn, Mondlicht und noch mehr  Kneipen. Nach dem letzten Konzert fahren wir in die Innenstadt; streunen, in den Pausen zwischen Beatles-Covers «Play Bob Dylan» brüllend, durch nächtliche Konzertlokale. Ich wundere mich, dass es keine bewachten Garderoben gibt. Wir feiern im Cavern Club, den es an der Mathew Street mittlerweile gleich viermal gibt – aber das Original, in dem die Beatles berühmt wurden, haben sie längst abgerissen.

Uns werden die Jacken geklaut; wir schlottern kurzärmlig wie die Einheimischen zum Hostel. Tags darauf kehren wir zurück und fragen nach den Jacken. Der Security-Typ verschwindet und kommt sehr lange nicht wieder. Wir mutmassen: «Wie will der mit einem Mantel, einer Jacke und einem Pulli hier unbemerkt abhauen?» – «Wenn der nur ein T-Shirt drunter hat, fällt das nicht weiter auf», wende ich ein. – «Ach was! Die haben garantiert nur die Taschen durchwühlt und die Klamotten irgendwo hingeworfen!» René behält recht: der Türsteher bringt unsere Sachen zurück. Wir verschwinden in der Nacht, unterwegs Richtung Seemannsgarn, Mondlicht und Pubs.

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