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Mit der Innovations­guerilla gegen die Verwaltungsbürokratie

Eine innovative Verwaltung ist kein Ding der Unmöglichkeit. Sofern man gewillt ist, sich von politischem Klischeedenken zu verabschieden. Erfahrungen aus Genf.

Mit der Innovations­guerilla gegen die Verwaltungsbürokratie
Anja Wyden Guelpa, photographiert von Michael Wiederstein.

«Die Bürokratie ist das Wasser im Bad, in dem wir alle schwimmen», schrieb David Graeber in seinem Klassiker «Bürokratie: Die Utopie der Regeln1». Und auch wenn sie nicht im gleichen Wasser baden, so betrachteten Tim Guldimann und Tito Tettamanti in ihren Beiträgen2 zum Thema Effizienz in der Verwaltung in dieser Zeitschrift doch das gleiche Becken – allerdings von verschiedenen Seiten. Plädiert Guldimann vor allem für mehr Vertrauen zwischen Parlament und Verwaltung und den Mut zu einer effizienzsteigernden Fehlerkultur innerhalb des «Apparats», wünscht sich Tettamanti mehr Vertrauen in die aus seiner Sicht infantilisierten und von Politikern und Funktionären gedemütigten Bürger. Guldimann will das Jahrhundertgeschwür Bürokratie, das unsere liberalen Demokratien so prägt, von innen bekämpfen, Tettamanti kämpft für Reformen von aussen («Sunset-Klausel»). Beide treffen einen Teil der Wahrheit – aber eben: nur einen Teil.

Dass Unternehmer in den 1950er Jahren bürokratisch weniger bevormundet wurden, wie Tettamanti ausführt, ist evident. Den armen Bürger, gesegnet mit gesundem Menschenverstand, aber dem bürokratischen Leviathan, gesegnet mit Machthunger, gegenüberzustellen, schon weniger, besonders in der direktdemokratischen Schweiz. Die Zunahme der Normen und Regeln ist denn auch nicht vom Himmel gefallen, sondern beruht zu einem Grossteil auf diesen direktdemokratischen Entscheiden: Am 24. Februar 2008 etwa haben fast 80 Prozent der Genfer einer Volksinitiative zugestimmt, die das Rauchen an öffentlichen Orten verbot. Die Vorschriften, die in der Folge das Genehmigungsverfahren für Gaststätten festhielt, waren keine Laune eines gut abgesicherten Schreibtischtäterbeamten, sondern die natürliche und logische Konsequenz eines Volkswillens und einer demokratischen Entscheidung, die es effektiv umzusetzen galt.

Das Parlament scheut sich auch nicht, paradoxe Auflagen zu verlangen. Interessanterweise sind es häufig dieselben Parlamentarier, die von Funktionären erwarten, weniger pedantisch zu sein, die sofort den Aufstand proben, wenn etwas skandalöserweise aus dem üblichen Rahmen fällt: Dann verlangen sie zahlreiche detaillierte Berichte, Audits und fordern die Aufrüstung der verwaltungsinternen Kontroll- und der Geschäftsprüfungssysteme. Das wiederum hat zur Folge, dass Kadermitarbeiter in öffentlichen Verwaltungen bis zu 40 Prozent ihrer Arbeitszeit dafür aufwenden, ihre Arbeit zu rechtfertigen, wie Tim Guldimann richtig aufzeigte. Dieses Paradox führt dazu, dass Beamte mehr Zeit und Energie brauchen, um über ihre Tätigkeiten Bericht zu erstatten und Prozesse zu systematisieren, als Neuerungen einzuführen und ihren gesunden Menschenverstand zu benutzen. Beides setzt voraus, auch einmal einen Fehler zu machen oder sich zu täuschen: Es ist klar, dass ein Angestellter, der Angst hat – egal, ob in der Privatwirtschaft oder in der öffentlichen Verwaltung –, einen Grossteil seiner Zeit damit verbringen wird, sein «Überleben» zu sichern. Er wird die von ihm wahrgenommenen Bedrohungen und Risiken zu minimieren und zu managen versuchen.

Wenn es um Verwaltungsreformen geht, stellt man dem Staat auch gern den Markt gegenüber – mehr von letzterem schaffe Bürokratie und institutioneller Idiotie dann schon von allein Abhilfe. Nur hat in der Vergangenheit, was der eingangs zitierte David Graeber ebenfalls schön aufgezeigt hat, jede Reform, die die Regulierungsdichte senken und den Marktkräften mehr Gewicht geben sollte, die Zahl der Rechtsnormen, der verwendeten Menge Papier und der «Bürokraten» in der Verwaltung erhöht. Die in den 1990er Jahren unter dem Schlagwort «New Public Management» initiierten Reformen veranschaulichen diese Paradoxie des Liberalismus aufs Schönste3. Der Kanton Genf beispielsweise schloss mit halböffentlichen und privaten Unternehmen Hunderte Verträge über die Erbringung öffentlicher Dienstleistungen ab. Das Resultat war eine haarsträubende Inflation von Papierkram und Kontrollmechanismen, ohne dass die Dienstleistungen selbst neu definiert worden wären. Man hat einfach das Bestehende bürokratisiert und mit Performanceindikatoren versehen. Wir haben damit eine wachsende «wirtschaftsliberale Bürokratie» etabliert, die sich gleichzeitig durch eine Reihe paradoxer politischer Auflagen selbst unterminierte: einerseits bestand der Wunsch, subventionierten Strukturen über Dienstleisterverträge mehr Freiheiten zu gewähren, andererseits erhielt die Politik damit auch mehr Möglichkeiten, sich in das Operative einzumischen. Sind wir also dazu verdammt, diese Trade-offs und mit ihnen den Vorgaben- und Kontrollwildwuchs hinzunehmen? Ich glaube nicht. Es hilft schon, einige Tatsachen ehrlich festzuhalten.

Wo liegen die Probleme?

Warum ist es so schwierig, Regierungen und Verwaltungen zu vertrauen, und warum tun sich letztere so schwer, die Erwartungen und sich ändernde Bedürfnisse der Bürger zu berücksichtigen? Warum enden die Bemühungen oft mit mehr statt weniger Bürokratie?

Das Fehlen jeglicher Risikokultur in den Verwaltungen ist offensichtlich eine erste Erklärung. Die Eigenschaften, die man von einem Funktionär erwartet, sind nicht dieselben wie bei einem kreativen Start-up-Unternehmer, der sich ins geschäftliche Abenteuer stürzt. Beamte müssen Verfahrensregeln respektieren und Gesetze streng und kohärent anwenden. Die Wichtigkeit dieser Kompetenzen wird durch die Erwartungen der Politiker oft noch verstärkt, die nicht nur Fehler für inakzeptabel halten, sondern Beamte lieber beim Ausführen als beim Denken sehen.

Anreize, diese Verhältnisse zu ändern, sind schwach bis inexistent. Es ist nicht so, dass es in Verwaltungen gar keine Innovation gäbe. Innovation wird schlicht nicht gewürdigt: Das Innovieren gehört nicht zu den Kompetenzen, die von Beamten erwartet werden. Praktiken, Dienstleistungen (und wie sie erbracht werden) zu hinterfragen, ist kein Verhalten, das in Verwaltungen belohnt wird. Wer solche Vorgänge anstösst, ist schnell auf sich allein gestellt und braucht umso mehr Durchhaltewillen, je tiefer er oder sie auf der Hierarchieleiter steht. Und auch bei denen, die weiter oben stehen, sind es Normentreue und Erfüllung der Systemerwartungen, die belohnt werden. Kurz: in der Verwaltung ist das Risiko, für Neuerungen gerügt zu werden, deutlich grösser als die Chance auf Anerkennung und Dank. Der Staatsapparat ist gross und träge, er wandelt sich nur langsam, im Vergleich zur Privatwirtschaft ist er eher Ozeanriese als Rennboot. Im digitalen Zeitalter verändert sich die Welt schnell und radikal, aber der Staat hat offensichtlich schon Mühe, Signale des Wandels zu erfassen und sie als Notwendigkeit zur Anpassung zu verstehen. Reformen werden oft erst unter dem Druck eines Zwischenfalls oder «Skandals» angegangen – also nicht selten zu spät.

Der Soziologe Ulrich Beck skizzierte schon vor 30 Jahren die Gesellschaft, in der wir heute leben: ihre zentralen Merkmale sind das Streben nach dem Nullrisiko und die Entwicklung eines allgegenwärtigen Misstrauens. Man hätte meinen können, der Druck, die Risiken zu beherrschen, hätte eine echte Suche nach Innovation anstossen können. Tatsächlich wurde die Innovation erstickt. Der ständigen Überwachung durch die öffentliche Meinung und die traditionellen Medien ausgesetzt, steht der Staat heute zusätzlich unter dem allessehenden Auge der sozialen Medien, das nur darauf lauert, irgendwo einen kleinen Fehler, eine Abweichung von der Norm oder von dem, was die gerade herrschende digitale oder mediale Lehrmeinung als akzeptabel definiert, zu finden. Diese Situation hat zwei Tendenzen begünstigt, die für die Innovation tödlich sind: Zunächst hat sie bei Politikern und Öffentlichkeit eine Emotionalität zutage gefördert, die bei jedem «Vorkommnis», jedem «Skandal» lauthals nach den Köpfen der «Schuldigen» schreit, noch bevor man über die vorliegenden Probleme gesprochen, ja sie überhaupt klar zu benennen versucht hat. Das verfestigt die Verteidigungsmechanismen in einer Verwaltung, die sich, diesen Angriffen ausgesetzt, einigelt und in einer übervorsichtigen, bewahrenden Haltung Schutz sucht. Kurz: wir sind in jeder Hinsicht weit entfernt von einer rationalen, wohlüberlegten Herangehensweise, die Dialog, Selbstkritik und Innovation förderlich wäre. Die grossen Vergessenen in einem politisch-administrativen System, das sich um sich selbst dreht, sind die Bürgerinnen und Bürger.

Was tun?

Weit weg von global diskutierten und theoriebasierten Ansätzen entwickeln sich seit rund 15 Jahren Initiativen, die den Bürger wieder ins Zentrum öffentlichen Handelns stellen. Um das zu erreichen, haben viele öffentliche Körperschaften «Innovation Labs» oder «Public Policy Labs» ins Leben gerufen, die direkt in ihrer Verwaltung oder extern angesiedelt sind.4 Zu erwähnen sind, unter anderen, das britische Nesta, das Mindlab in Dänemark, der Open Innovation Space in Deutschland oder das Programm «Sao Paula Aberta» in Brasilien. Was diese ansonsten sehr unterschiedlichen Strukturen eint, sind pragmatische, inkrementale und experimentelle Herangehensweisen und Methoden, die die Bedürfnisse der Bürger in die Ausgestaltung von Politik und öffentlichen Dienstleistungen integrieren – und zwar auf deren Initiative und Mitarbeit hin. Personen mit verschiedensten be­ruflichen Hintergründen wie Design, Informatik, Kunst oder Management arbeiten in diesen Labs.5 Die Teams stehen Verwaltungen und Verwaltungseinheiten zur Verfügung und bringen sich ein, indem sie Beamte, Bürger und Experten rund um eine zentrale Idee, Dienstleistung oder ein zu lösendes Problem zusammenbringen. Hier gibt es keine feste Methode, keine vorgezeichneten Prozesse oder Optimierungsschritte – stattdessen geht es darum, gemeinsam neue Massnahmen zu entwickeln, die ein von allen Teilnehmern – also den Produzenten wie den Erbringern der Dienstleistung – wahrgenommenes Bedürfnis bedienen. Der wichtigste Beitrag solcher Ansätze besteht in ihrem experimentellen Charakter und dem schnellen Übergang von Diskus­sionen zu einem konkreten Prototyp sowie dem gemeinsamen Verbessern der Interaktion.

Institutionell erlauben es diese «Labs», ein Ökosystem an der Grenze zwischen Verwaltung und ihren entdeckungsfreudigen Ansprechpartnern zu entwickeln und gemeinsam gefundene Lösungen dann umzusetzen. Die wichtigste Voraussetzung dafür – und da sind wir wieder bei Tim Guldimann und Tito Tettamanti – ist Vertrauen. Während der Transparenz-Workshops, die die Staatskanzlei rund um unser Open-Source-Projekt zu E-Voting veranstaltet hat, waren wir überwältigt, wie sehr dieser Austausch Vertrauen aufbaute: Vertrauen zwischen Beamten und Bürgern, die hier Gehör fanden und sich an der «Produktion» von Dienstleistungen beteiligen konnten, die für sie entwickelt wurden.

Genf machte es vor

Solche Labors sind nicht die alleinige Lösung unserer Probleme – aber eine Lösung stellen sie erfahrungsgemäss sehr wohl dar. Man mag einwenden, nun würden neue bürokratische Einheiten gebildet, um die Bürokratie zu reformieren, wie die EU das seit Jahren erfolgreich erfolglos tut. Allerdings: diese Einheiten haben mit herkömmlichen Bürokratiebekämpfungsbürokratien nichts zu tun, denn sie sind oft schlank, agil und anpassungsfähig.

Und wenn man nicht sofort solche Einrichtungen schaffen kann, so kann man zumindest einen diskreten «Guerillaansatz» verfolgen, quasi unter dem Radar: Genau so sind viele innovative Projekte im Kanton Genf lanciert worden.

1) Das Genfer E-Voting-System ist aus der Herausforderung entstanden, eine staatliche Informatiklösung zu realisieren, die davor schlicht nicht existierte. Alles musste neu entwickelt werden: die Ziele, die Regeln, die Einschränkungen. Experimente und Innovation waren also von Anfang an zentrale Bestandteile beim Management dieses leicht verrückten Projektes. Heute ist das Genfer Verfahren eines der ausgereiftesten und erfolgreichsten der Welt und kann von mehr als 150 000 Schweizer Bürgern genutzt werden.

2) Der Jugendfilmwettbewerb Cinecivic hingegen verdankt seine Existenz einer bedauerlichen Tatsache: die Jungen gehen weniger zur Urne als die älteren Generationen. Die Jugendlichen sagten uns, sie würden die Verwaltungssprache oft nicht verstehen. Also gaben wir ihnen selbst das Wort und liessen sie ihre eigene Sprache entwickeln. Vor sechs Jahren wurde der Wettbewerb mit sehr wenigen Ressourcen und unglaublich viel ehrenamtlichem Engagement Einzelner auf die Beine gestellt. Im Jahr 2018 waren sechs Kantone und fast 1000 Teilnehmer dabei, und die Preise wurden zum dritten Mal von einer Bundesrätin und im Rahmen eines festlichen Galaabends überreicht, der den Jugendlichen viel bedeutete.

3) Ausserdem entwickelte ein interdisziplinär zusammengesetztes Team im Rahmen des «LIFT-Labs»6 in 2,5 Tagen den Prototyp einer digitalen Abstimmungsbroschüre, die von den Bürgern erweitert und kommentiert und dann über die sozialen Medien geteilt werden kann.

All diese Initiativen begannen bescheiden, ohne dass unbedingt eine dringende politische Nachfrage da war – und ohne grosse Kosten zu verursachen. Motivierte Beamte haben durch frugale Innovation Lösungen auf die Beine gestellt, die über das Abarbeiten von Dienstanweisungen und Pflichtenheften niemals entwickelt worden wären. Die Folge: ein neues Projekt wird bedarfsorientiert umgesetzt, es verursacht aber auch eine Veränderung der Mentalität und Unternehmenskultur. Sei es sowohl bei den Beamten, die feststellen, dass Innovation möglich und oft günstig zu haben ist, als auch bei den Bürgern, die dabei Nutzniesser und gleichzeitig Akteure sind. Darum geht es: Leute aktivieren, zusammenarbeiten, verbessern. Auf dass Politiker, Beamte und Bürger feststellen, dass «Bürokratie» kein unabwendbares Schicksal ist.


 

Aus dem Französischen übersetzt von Stephan Bader.


 

1 Original: David Graeber: The Utopia of Rules. On Technology, Stupidity, and the Secret Joys of Bureaucracy. Brooklyn: Melville House, 2015. / Deutsch: Bürokratie: Die Utopie der Regeln. Stuttgart: Klett-Cotta, 2015.
2
Vgl. Tim Guldimann: Auf dem Holzweg. In: Schweizer Monat 1052 (Dezember 2017 / Januar 2018) und Tito Tettamanti: Eine Frage des Vertrauens. In: Schweizer Monat 1053 (Februar 2018). Freigeschaltet auf www.schweizermonat.ch
3
David Giauque stellte das bereits 2003 fest, als er die Reformen unter dem «New Public Management»-Ansatz in der Schweiz und Kanada verglich: David Giauque: La bureaucratie libérale. Nouvelle gestion publique et régulation organisationnelle. Paris: L’Harmattan, 2003.
4 Vgl. Anja Wyden Guelpa, Christophe Genoud und Patrick Genoud: Agences publiques d’innovation: évolution ou révolution? Société Suisse de Sciences Administratives, 2016, S. 11 – 23.
5 «Design Thinking ist ein am Menschen orientierter Innovationsansatz, der die Designer-Werkzeugkiste auf die menschlichen Bedürfnisse anpasst und dabei gleichzeitig die technologischen Möglichkeiten sowie den Geschäftserfolg berücksichtigt» – Tim Brown, IDEO (designthinking.ideo.com/)
6 Web: www.liftlab.ch/


Anja Wyden Guelpa
ist Politikwissenschafterin und war Staatskanzlerin von Genf (2009 – 2018). Sie wurde als erste Frau in dieses Amt gewählt und ist heute als Unternehmerin (CivicLab GmbH) tätig.

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