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«Ich will mitreden!»

Wie sich die Kommunikation zwischen Patienten und Medizinern verändert.

Digitale Transformation im Gesundheitswesen ist ein vielschichtiger und kaum überschaubarer Themenbereich. Diskutiert wird aktuell über Big Data und Predictive Analytics, über eHealth, Mobile Health, Apps und Sensoren, über neue Ansätze in Forschung, Diagnose und Therapie. Eines der wichtigsten Gebiete aber, das sich mit der Digitalisierung rasant verändert, ist ein ganz klassisches: die Kommunikation. Und zwar die zwischen Patienten und Medizinern, insbesondere aber auch die von Patienten und ihren Angehörigen untereinander.

Der gesetzliche Rahmen für sichere digitale Kommunikation im Gesundheitswesen wurde mit dem Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier (EPDG) 2017 in Kraft gesetzt. Langsam finden diese technologischen Entwicklungen Beachtung und Eingang in die Kliniken, Praxen und Labors und damit in den Alltag des ersten Gesundheitsmarktes. Unabhängig davon aber hat sich, wenn es um die persönliche Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit geht, schon länger eine Art Paralleluniversum entwickelt: die Welt der vernetzten Bürger und Konsumenten, die Welt der ePatienten. Es ist ein Paralleluniversum, das in den Möglichkeiten der Vernetzung gründet, neue Werte und Normen und damit neue Ansprüche hervorbringt und von dem eine starke transformative Kraft ausgeht, die das Gesundheitswesen, so wie wir es heute kennen, gerade ziemlich auf den Kopf stellt.

Konnektivität

Die Wurzeln digitaler Transformation bildet das Thema der Konnektivität. Konnektivität bedeutet die zunehmende Organisation unserer Welt in Netzwerken. Wir sind tatsächlich unglaublich gut vernetzt. Fast die gesamte Schweizer Bevölkerung ist mittlerweile online – je nach Alterskategorie zwischen 96 Prozent und 99 Prozent. Markant stieg in den letzten Jahren auch der Anteil der vernetzten Senioren, der sogenannten Silver Surfer, auf 77 Prozent.

Konnektivität ist aber weit mehr als eine technologische Vernetzung im herkömmlichen Sinn, sie impliziert vielmehr einen Paradigmenwechsel in allen Gesellschaftsbereichen, in der Art, wie wir uns als Gesellschaft organisieren, von «Systemen» hin zu «Netzwerken». Was aber ist der Unterschied zwischen Systemen und Netzwerken?

Von Systemen zu Netzwerken

Jedes System – ob mechanisch wie eine Uhr, organisch wie der Körper oder sozial wie ein Spital – hat ein Organisationsprinzip, das drei Funktionen erfüllt: es selegiert die Elemente, die zum System gehören, es relationiert, das heisst, es setzt die Elemente zueinander in Beziehung, und es steuert. Die «Elemente» des Systems, also die Rollen und Funktionen, sind vom System «konstruiert». Ein Arzt ist ein Arzt, eine Pflegefachperson eine Pflegefachperson, ein Patient ein Patient. Sie haben bestimmte Funktionen und Rollen in der Organisation zu erfüllen. Netzwerke hingegen geben keine klaren Rollen und Funktionen vor, sondern sind einfach eine Ansammlung von irgendwie miteinander verbundenen Akteuren. Eine Mutter eines chronisch kranken Kindes hat möglicherweise durch ihr Vernetztsein mehr Wissen über diese spezifische Krankheit als der sie behandelnde Hausarzt.

Jedes System ist auf eine Differenz zur Umwelt begründet und diese Differenz ist für jedes System konstitutiv. Das System schliesst aus, um zu funktionieren. Alles, was aus dem System ausgeschlossen wird, bildet die Umwelt des Systems. Systeme müssen also klare Grenzen haben. Sie müssen wissen, was und wer dazugehört und was nicht. Ein Spital als System betrachtet grenzt sich traditionellerweise klar ab von ambulanter Pflege, von niedergelassenen Ärzten, von Pflegeeinrichtungen oder von einem Altersheim. Im Gegensatz zu Systemen haben Netzwerke durchlässige und unscharfe Grenzen. Für sie ist weniger wichtig zu wissen, wer oder was dazugehört, als zu wissen, wer mit wem verbunden ist. Ein Netzwerk differenziert sich von anderen Netzwerken nicht durch Grenzen, sondern durch die Intensität und Qualität der Kommunikationen. Für einen Diabetespatienten gehört deshalb seine aus Online-Freunden bestehende Diabetes-Community z.B. auf mySugr genauso zum Netzwerk wie der Arzt im Spital, sein Case-Manager bei der Versicherung und sein Blutzuckermessgerät.

Im Gegensatz zu Systemen, die zur eigenen Identitätsbildung möglichst eindeutig wissen müssen, wer sie sind, erlauben Netzwerke multiple Identitäten. Jeder Akteur in einem Netzwerk ist gleichzeitig Teil anderer Netzwerke. Gesundheit und Krankheit betrachte ich je anders, je nachdem ob ich im konkreten Fall Patientin, Steuerzahlerin oder Versicherungsnehmerin bin.

Soziale Systeme grenzen sich gegenüber der Umwelt, wo unendlich viel anderes passieren kann, durch zentrale Steuerung, klare Zielsetzungen und strenge Funktionalisierungen ab und reduzieren auf diese Weise Komplexität. Netzwerke wie traditionelle Organisationen managen oder steuern zu wollen, ist hingegen äusserst schwierig. Netzwerke sind flexibel, innovativ und komplex. Wandel ist in Netzwerken grundgelegt. Für ein Netzwerk entsteht Ordnung nicht dadurch, dass möglichst viel Komplexität durch zentrale Steuerung, klare Zielsetzungen und strenge Funktionalisierungen reduziert wird, sondern durch das Freisetzen der Kräfte der Selbstorganisation. Ordnung entsteht «bottom up».

Gegenwärtig erleben wir in allen Gesellschaftsbereichen einen Übergang von Systemen hin zu Netzwerken. Und dies mit ziemlich weitreichenden Folgen. Im Gesundheitswesen zeigt sich das wie folgt: Die traditionellen Akteure befinden sich noch auf der Systemseite, während die vernetzten Patienten, Konsumenten und Bürger sich vermehrt in der Netzwerkwelt bewegen. Der Umgang mit Krankheit geschieht für sie heute nicht mehr isoliert zwischen Arzt und Patient, zwischen Health Professional und Gesundheitskonsument, sondern in einem komplexen Netzwerk unterschiedlichster menschlicher und nichtmenschlicher Akteure, offline und online.

Neue Werte und Normen

Aus der Organisation unserer Gesellschaft in Netzwerken heraus sind eine Reihe neuer Werte und Normen entstanden, die das Rückgrat digitaler Transformation bilden: die Forderung nach offener, dialogbereiter und selbstkritischer Kommunikation, nach Transparenz und Partizipation, aber auch nach Authentizität, Empathie, Heterogenität und Flexibilität. Diese Werte sind mehr als Schlagworte – sie sind eine Realität der vernetzten Welt. An ihnen wird das Gesundheitswesen, all seine Produkte, Dienstleistungen und Konversationen, heute gemessen.

Technologie als Treiber

Auch wenn Technologie nicht Kern der digitalen Transformation ist, so ist sie doch ein ganz mächtiger Treiber und Katalysator – allen voran die Mobiltechnologie. Kein Techniktrend hat sich so rasant etabliert wie die Kommunikation via smarte mobile Endgeräte. Ende 2013 gab es weltweit erstmals mehr Mobilgeräte als Menschen, und wir sind die erste Generation, die überall, wo wir hinkommen, kostenloses Wi-Fi erwarten. Mobilgeräte sind zu Türöffnern für den Zugang zu Information, Kommunikation und Partizipation für ganz unterschiedliche Generationen geworden. Und natürlich bedient man sich auch bei Gesundheits- und Wellnessaktivitäten zunehmend mobiler Technologien. Mobiltechnologie hat zu so etwas wie «Seamless Health» geführt – die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit ist aus Sicht von Gesundheitskonsumenten und Patienten fliessend geworden. Sie macht nicht mehr an der Spitalpforte oder der Tür zur Arztpraxis halt. Die Auseinandersetzung mit Gesundheit und Krankheit ist vielmehr zu einem Kontinuum über verschiedene Orte, Zeiten, Technologien, soziale Settings, aber auch über verschiedene Märkte hinweg geworden.

mHealth – Apps, Wearables und neue Dienstleistungen

Das Feld der Gesundheits-Apps ist entsprechend unüberschaubar geworden: Es gibt schätzungsweise über 360 000 Gesundheits-Apps, die amerikanische Zulassungsbehörde FDA hat 2013 einen Prozess eingeführt, um Apps analog zu Medikamenten zuzulassen, britische Ärzte verschreiben Apps, und neuerdings lancieren Krankenversicherungen Pilotprojekte, um über Apps die Fitness der Versicherten zu messen. Sie wollen damit beispielsweise gesundes Verhalten mit Prämienreduktionen belohnen, in erster Linie aber vermutlich an gesundheitsrelevante Daten ihrer Kunden kommen. Und es sind durchaus inhaltliche Entwicklungstrends im Bereich der Apps ersichtlich. Nachdem in den vergangenen Jahren Sport- und Fitness-Apps den Markt erobert haben, sind nun Apps im Trend, die den Gesundheitsbegriff ausweiten auf die Bereiche Wohlbefinden, Ausgeglichenheit, Fokussierung, Meditation und Schlaf. Zudem ist unter den Gesundheits-Apps ein zweifacher Konsolidierungstrend erkennbar: zum einen eine inhaltliche Aggregation verschiedener Messtools in einer einzigen App, die die unterschiedlichsten Messdaten wie alltägliche Bewegung, Ernährung, Stress, Schlaf, Gemütszustand und Sport in einem persönlichen Gesundheits-Cockpit zusammenführt. Daneben ist eine Marktkonsolidierung ersichtlich.

Auch die Welt der mobilen Geräte und Sensoren, der sogenannten Wearables, ist fast grenzenlos. Neben den sich schon länger auf dem Markt befindlichen Geräten etwa der Blutdruckmessung via Smartphone oder den mobilen Blutzuckermessgeräten kommen heute Dinge auf den Sportmarkt wie kluge Socken oder kluge Hosen, die während des Laufens nicht nur zurückgelegte Kilometer, Höhenmeter und verbrannte Kalorien messen, sondern gleichzeitig den Laufstil analysieren und dem Jogger über die Kopfhörer ein Echtzeitfeedback und Trainingsanweisungen geben. Oder Foodscanner, die über Lichtwellentechnologie die Zusammensetzung von Essen und Getränken ermitteln, oder Stirnbänder, die das Hirnstrompotenzial messen und anhand der Daten Feedback zum Gemütszustand der Person geben. Die Sensoren werden immer kleiner, können gar als sogenannte Insideables geschluckt, injiziert oder implantiert werden.

Neben Apps und Wearables finden sich immer mehr Dienstleistungen im digitalen Gesundheitsbereich: Hoch im Kurs sind all jene Angebote, die dem Kunden und Patienten mehr Bequemlichkeit, Annehmlichkeit und Zweckmässigkeit versprechen. Videokonsultationen etwa, die über eine sichere Verbindung eine Tablet-Konsultation mit Patienten ermöglichen – etwa bei der Betreuung von chronisch kranken Personen oder für den Austausch zwischen entfernten Experten. Interessanterweise werden viele dieser Dienstleistungen nicht von traditionellen Leistungserbringern erbracht. Neue Akteure aus Telekommunikation, Mobilität und dem Retail erobern den Gesundheitsmarkt.

ePatienten-Bewegung

Neben unterschiedlichsten Auswirkungen der digitalen Transformation auf unseren Umgang mit Gesundheit und Krankheit wie Quantified-Self-Bewegung, Consumer Genomics, Big Data und Predictive, Ansätzen künstlicher Intelligenz bei der Befunderhebung und Früherkennung von Krankheiten, partizipativer Forschung und Patient Crowdsourcing, einem neuen Umgang mit Gesundheitsdaten, partizipativer Medizin und Shared Decision Making, um nur ein paar wenige zu nennen, steht insbesondere die Forderung nach einer neuen Patienten- oder Kundenkommunikation im Raum.

Die vernetzte Gesellschaft verlangt eine offene Form der Kommunikation. Kommunikation, auch Patienten- und Angehörigenkommunikation, muss offen, selbstkritisch, respektvoll, ehrlich sein.

Einige Institutionen im Gesundheitswesen haben diese Tendenz erkannt und kommunizieren auf allen nur erdenklichen Kanälen mit den Patienten und ihren Angehörigen. Die amerikanische Mayo Clinic tut dies sehr erfolgreich via Blog, Podcast, Diskussionsforen, Videokanal auf iTunes und YouTube, Facebook, Twitter sowie auf einem sehr ausgefeilten Patientenportal inklusive App. Kommunikation mit Ärzten und Pflegepersonen wird in den meisten Studien als Hauptgrund für Patientenzufriedenheit genannt. Und Patientenzufriedenheit wiederum als massgeblicher Treiber für Health Outcome. In Europa wird diesem Thema langsam, aber sicher ebenfalls mehr Beachtung geschenkt. Das Dresdner Sozialunternehmen «was-hab-ich» übersetzt für Patienten kostenlos medizinische Berichte und Befunde in ein verständliches Deutsch. Der Direktor des ReShape Institute an der Radboud-Universität in den Niederlanden hat an der eigenen Klinik eine neue Funktion, die des CLO, des Chief Listening Officers, eingerichtet, dessen bzw. deren Aufgabe nichts weiter beinhaltet, als den Patienten, ihren Angehörigen, aber auch den Mitarbeitenden zuzuhören und die Learnings wieder in die Qualitätsprozesse der Organisation einfliessen zu lassen.

Tatsächlich entsteht eine neue Generation von Patienten, die sogenannten ePatienten, die die Werte der vernetzten Welt, offene Kommunikation, Transparenz und Partizipation, ins Zentrum stellt. Das kleine «e» vor Patient steht übrigens nicht nur für «elektronisch», sondern auch für educated, enabled, engaged und empowered – aktiv, befähigt, kompetent. Die ePatienten sind mit ihren Forderungen nach Kommunikation, Partizipation und Transparenz zu einer neuen, ernst zu nehmenden Einflussgrösse auf dem Gesundheitsmarkt geworden.


Literaturhinweis: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hrsg.): Gesundheit 2.0. Das ePatienten-Handbuch. Bielefeld: transcript, 2014. Web: www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2807-4/gesundheit-2.0.

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Der Patient ist König! Auch über seine Daten soll er in Zukunft die Hoheit haben. Bild: ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv, photographiert von Heinz Baumann / Com_C16-015-001 / CC BY-SA 4.0.
Datenhoheit für die Patienten

Wer Patient wird, soll künftig die Hoheit über die dabei entstehenden Daten haben. Die Datensouveränität des Einzelnen muss endlich eine grössere Rolle spielen.

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