Helvetia ist einsam
Als politische Identifikationsfigur existiert die Helvetia seit über 300 Jahren. Jenseits des Sinnbilds sieht es mit der weiblichen Präsenz in der Politik aber mager aus: Bis heute stellen sich hierzulande vergleichsweise wenige Frauen zur Wahl. Viel zu wenige, findet Elisabeth Kopp.
Die Schweiz ist wohl das einzige Land, in dem das Frauenstimmrecht mit einer Verfassungsänderung eingeführt wurde. Eine Verfassungsänderung bedingt hierzulande die Zustimmung einer Mehrheit der Kantone und vor allem der Stimmberechtigten, die damals – im Jahre 1971 – selbstredend bloss Männer waren. Die Schweiz wird im Ausland wegen der späten Einführung der politischen Gleichberechtigung gerne belächelt oder gar als rückständig betrachtet. Man kann die Sache aber auch anders sehen. Es waren die Männer, die den Frauen – spät zwar, aber im vollen Bewusstsein ihrer Entscheidung – das Wahl- und Stimmrecht explizit zugestanden. Das war immerhin ein Anfang.
Als ich meiner Enkelin jüngst erzählte, dass ich als Gemeinderätin von Zumikon bei unserer Hausbank kein Konto auf meinen Namen eröffnen konnte, ohne die notabene schriftliche Einwilligung meines Ehemannes einzuholen, purzelten ihr fast die Augen aus dem Kopf. Und als ich ihr zusätzlich beschrieb, wie anlässlich einer Diskussion um die Einführung des Frauenstimmrechts im Jahre 1959 mir ein Kommilitone allen Ernstes sagte, er verstehe überhaupt nicht, warum ich mich so für das Frauenstimmrecht einsetze, ich sei doch sonst eine ganz normale Frau, wollte sie mit Kopfschütteln kaum aufhören. Nun ja, so ändern sich die Zeiten.
Als die Männer 1971 das Frauenstimmrecht beschlossen, war das ein längst überfälliger, aber auch ein beherzter Entscheid. Im Rückblick stellt sich die Frage, ob die Männer heute noch auf der Höhe der damaligen Entscheidung sind. Wissen sie noch, wie sehr sie von der politischen Partizipation der Frauen profitieren – oder hat im stillen wieder die politische Restauration eingesetzt?
Während rund zwanzig Jahren politisierte ich auf allen politischen Ebenen, als Gemeinderätin, als Gemeindepräsidentin, als Mitglied des Erziehungsrats (heute Bildungsrat), als Nationalrätin und als Bundesrätin. Ich war – mit Ausnahme des Nationalrates – überall die erste und einzige Frau. Erzähle ich jüngeren Frauen von meinen Erfahrungen in der Annahme, das sei heute alles anders, ernte ich jeweils bloss heiteres Gelächter. Nein, vieles sei heute noch genauso, wie ich es beschreibe. Das allerdings löst bei mir keine Heiterkeit, sondern eher Betroffenheit oder zuweilen Ratlosigkeit aus. Dies umso mehr, als mir gerade meine Zeit als aktive Politikerin bewusst werden liess, wie zwingend nötig die Mitarbeit von Frauen in der Politik ist. Nicht weil Frauen alles besser können als Männer, sondern weil sie vieles anders sehen und andere Prioritäten setzen.
Die wichtigste Vorlage, die von den Frauen nach 1971 gewonnen wurde, war das neue Eherecht im Jahre 1988. Die Abstimmungsanalyse wies nach, dass eine Mehrheit der Frauen für, eine Mehrheit der Männer gegen das neue Eherecht stimmte, in dem der Mann als Haupt der Familie gleichsam geköpft wurde. Bei der Abstimmung über die Einführung der Mutterschaftsversicherung im Jahre 2004 waren es drei Altbundesrätinnen aus drei verschiedenen Parteien, die an vorderster Front für die Vorlage kämpften. Die Frauen waren hier ungeachtet ihrer unterschiedlichen politischen Couleur geeint. Frauen überspringen viel leichter die Parteigrenzen, vor allem, aber nicht nur, wenn es um Vorlagen geht, die für Frauen wichtig sind. Das war auch nötig, denn die Mehrheit der Männer lehnte die Vorlage ab – der Entscheid fiel mit 55,5 Prozent Pro- und 44,5 Prozent Kontrastimmen überraschend knapp aus. Zeigte sich hier wiederum so etwas wie ein Geschlechtergraben?
Wer mich kennt, weiss, dass mir jede Form von Idealisierung fern liegt. Ich war nie so naiv zu glauben, dass mit dem Einzug der Frauen in die Politik einfach alles besser werde. Das ist auch gar nicht der Punkt. Frauen sind ein Teil der Gesellschaft, und die ganze Gesellschaft profitiert davon, wenn sich dieser Teil ebenfalls um die res publica kümmert. Nun bin ich endlich bei jener Frage angelangt, die mich seit meinem Gang in die Politik beschäftigt: Warum bilden die Frauen trotz politischer Gleichberechtigung weiterhin eine Minderheit in der Politik? Dazu wage ich sechs Thesen, zu denen es selbstverständlich aus Ausnahmen gibt.
These 1: Frauen in Spitzenstellungen haben es immer noch schwerer als Männer.
Exekutivämter verlangen Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, Entscheidungsbereitschaft und Führungskompetenz. Derartige Attribute werden bei Männern positiv bewertet, während sie bei Frauen eher mit Verwunderung bis Ablehnung zur Kenntnis genommen werden. Wird der Mann für seine Durchsetzungskraft und Stärke gelobt, wirft man der Frau Härte vor. Gilt der Mann als eloquent, sieht sich die Frau mit dem Vorwurf konfrontiert, vorwitzig zu sein. Was beim Mann positiv als Taktieren vermerkt wird, kreidet man der Frau an. Ein aktuelles Beispiel für diese Art der tendenziösen (Miss-)Interpretation ist Angela Merkel. Das Problem besteht darin, dass auch Frauen diese Wahrnehmungsmuster verinnerlicht haben und wie die meisten Männer gebetsmühlenartig wiederholen. Liebe Frauen, ist Angela Merkel tatsächlich «eingeknickt», wie in den Berichterstattungen nach dem EU-Gipfel rundum zu lesen war? Nein, ist sie nicht. Jeder kluge Politiker, jede kluge Politikerin muss in schwierigen Verhandlungen bisweilen zu Zugeständnissen bereit sein, wenn es darum geht, damit das wichtigste Anliegen durchzubringen.
These 2: Frauen haben ein anderes Verhältnis zu Macht als Männer.
Für Männer sind Macht und Prestige an sich erstrebenswerte Ziele. Für Frauen ist Macht hingegen bloss ein Mittel zum Zweck, ihre Anliegen umzusetzen. Alice Schwarzer bringt die Sache aus Frauensicht auf den Punkt, wenn sie sagt: «An sich ist Macht völlig uninteressant. Interessant ist nur die Frage, wozu man sie nutzt.» Männer sind machtfixiert, Frauen sind in der Regel machtindifferent. Männer sind sich von jung auf gewohnt, um Macht und Einfluss zu kämpfen, sich frühzeitig für die mögliche Erfolgsleiter in Stellung zu bringen. Frauen halten sich zurück und überlassen den Aufstieg auf der Karriereleiter dem Zufall bzw. glauben daran, dass sich Leistung letztlich auszahle. Männer bewerben sich für eine Stelle, auch wenn sie nur 80 Prozent der Voraussetzungen erfüllen. Frauen bewerben sich wenn überhaupt nur dann, wenn sie die Voraussetzungen zu mindestens 120 Prozent erfüllen.
These 3: Frauen sind Einzelkämpferinnen und haben keine Netzwerke.
Durch den beruflichen und militärischen Werdegang, durch Interessenverbände und Männerclubs verfügen Männer über gut funktionierende Netzwerke. Frauen widerstrebt diese Art der Organisation von Macht, die nach dem Prinzip von Einschluss und Ausschluss funktioniert. Sie sind darum in kritischen Situationen oft allein. Frauen geht es um ihre Anliegen, um die Sache. Wenn sie Probleme anpacken, so tun sie dies, ohne sich zu überlegen, wen sie allenfalls damit verärgern und inwiefern sie damit ihrer Karriere schaden könnten. Sie nehmen in Kauf, auch mit der eigenen Gruppierung in Konflikt zu geraten. Ruth Metzler (CVP) setzte sich beispielsweise für die Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs ein und schuf damit Feinde in der eigenen Partei. Dank ihnen verpasste sie ihre Wiederwahl in den Bundesrat. Das Fehlen von Netzwerken hat aber auch einen unbestreitbaren Vorteil – es ist der persönlichen Unabhängigkeit förderlich. Anders gesagt: Frauen agieren in der Regel sachlicher, uneigennütziger, mutiger und unabhängiger als Männer. Dies zeigt sich in Volkswahlen – man traut ihnen mehr als ihren männlichen Kollegen zu, eigene Anliegen statt Interessen irgendwelcher Lobbyisten zu vertreten. Der Preis für die grössere Unabhängigkeit ist, dass sie oftmals als Einzelkämpferinnen unterwegs sind.
These 4: An Frauen werden höhere Anforderungen gestellt, speziell von Frauen.
Frauen werden oft dank angeblich männlicher Eigenschaften wie Durchsetzungsfähigkeit, Hartnäckigkeit und Führungsqualitäten in Regierungsämter gewählt. Oft sind es dann Frauen, welche Frauen nach der Wahl am lautesten kritisieren. Warum? Barbara Castle, eine einstige englische Labour-Abgeordnete, formulierte treffend: «Eine erfolgreiche Frau muss aussehen wie ein Mädchen, sich benehmen wie eine Dame, denken wie ein Mann und schuften wie ein Pferd.» Die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» hat beschrieben, wie Diskussionen unter Frauen über Angela Merkel ablaufen: «Ich möchte sie weiblicher», «ich möchte sie mit Handtasche», «wieso ist sie so verklemmt, wieso übt sie ihre Macht nicht aus?» Hier verfügen die Frauen ebenfalls über beträchtliches Emanzipationspotential: Sie müssen sich von der Vorstellung befreien, an ihresgleichen höhere Ansprüche zu stellen als an Männer. Frauen sind auch nur Menschen.
These 5: Frauen sind zu gewissenhaft und denken zu wenig «politisch».
Hat eine Frau zugleich ein unerledigtes Dossier und eine Einladung zu einem Nachtessen mit wichtigen Persönlichkeiten auf ihrem Schreibtisch, sagt sie höflich ab und studiert bis tief in die Nacht Akten. Männer hingegen lassen die Fünf gerade sein, vergessen die Akten und knüpfen an ihren Lunches und Dinners ihre Netzwerke. Männer können jahrelang heikle Dossiers von einer Ecke in die andere schieben, ihre Mitarbeiter zur Verzweiflung bringen – und werden nach ihrem Abgang nicht als Zauderer, sondern als weise Staatsmänner gepriesen. Frauen hingegen, die ihre Dossiers im Griff haben, gelten schnell einmal als dossierversessen und zu wenig kontaktfreudig. Wollen sie in der Politik mehr Erfolg haben, müssen sie lernen, weniger perfektionistisch zu sein und dennoch souverän aufzutreten. Das wird ihnen umso leichter fallen, je weniger sie in der Minderheit sind.
These 6: Für Frauen gilt die umgekehrte Beweislast.
Frauen stehen stets unter dem Verdacht, ihrer Aufgabe nicht gewachsen zu sein. Sie müssen anders als Männer, denen Fähigkeit unterstellt wird, stets von neuem beweisen, dass sie fähig sind – leisten sie sich einen Fehler oder kennen sie ihr Dossier nicht bis ins letzte Detail, folgt sogleich der Vorwurf: Die kann es nicht. Noch Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder schleuderte seiner Konkurrentin am Fernsehen entgegen: «Die kann das nicht!» Ich wage die Behauptung, dass Schröder einem Mann gegenüber eine solche Bemerkung niemals gemacht hätte. Die deutsche Autorin Thea Dorn schreibt über Angela Merkel, dass im Falle des Scheiterns bzw. einer Nichtwiederwahl all ihre Erfolge vergessen gehen und der erste Satz lauten wird: Sie kann es nicht. Ich befürchte, dass es genauso eintreffen wird. Für viele Männer wäre dies fast schon eine Erlösung. Sie haben Mühe mit Männern, die besser sind als sie, aber noch mehr Mühe haben sie mit Frauen, die erfolgreicher oder auch nur bekannter sind als sie. Es kommt nicht selten vor, dass Frauen sich darum von ihren politischen Karrierezielen verabschieden – ihr Mann fühlt sich durch ihre Bekanntheit bedroht, und die Frau gibt nach. Der Satz, dass hinter jedem starken Mann eine starke Frau steht, sollte eben auch umgekehrt gelten – oder es sollte zumindest die Minimalvariante gelten: Die Ehemänner bekannter Frauen sollten lernen, sich über deren Erfolg zu freuen.
Engagez-vous!
Was aber lässt sich gegen die Untervertretung von Frauen in der Politik unternehmen? Es ist bedenklich, wenn Behördenmitglieder im helvetischen Milizsystem mittlerweile via Inserate gesucht werden müssen. Qualifizierte Persönlichkeiten stellen sich immer seltener zur Verfügung, weil sie sich und ihre Familie nicht dem Risiko der Verunglimpfung durch die Medien aussetzen wollen. Diese Gefahr ist für Frauen aus den oben beschriebenen Gründen zweifellos noch höher als für Männer. Die Konsequenz ist ein Circulus vitiosus: Je weniger Frauen sich politisch engagieren, desto geringer ist auch das weibliche Interesse an Politik. Der Wähleranteil der Frauen hat sich in den letzten Jahren zurückentwickelt. Bis 1995 betrug der Unterschied zwischen dem Wähleranteil von Männern und Frauen bloss 6 Prozent. Paritätische Wahl- und Stimmbeteiligung war in Sicht, doch es kam anders. Ich weiss aus eigener Erfahrung, wie wichtig die Teilnahme der Frauen am politischen Geschehen ist. Sie sind zwar einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Aber das grösste Risiko für Frauen besteht darin, sich nicht um die Politik zu kümmern.
Sich für das Gemeinwohl einzusetzen, ist «out». Masslose Bezüge von Managern im Namen einer rücksichtslosen Eigennutzenmaximierung vergiften das soziale Klima, rund die Hälfte der Ehen werden geschieden, menschliche Beziehungen werden zu Wegwerfartikeln und Kinder zu Mangelware – gerade noch 1,43 Kinder werden pro Frau in der Schweiz geboren. Es gibt für all diese Probleme kein Patentrezept, aber es ist klar, dass die Umsetzung eines alten Anliegens hier wenigstens teilweise Abhilfe schaffen würde: die Vereinbarkeit von Beruf und Familie. Es ist im Interesse der Firmen, qualifizierte Mitarbeiterinnen einzustellen, die darüber hinaus zufrieden und loyal sind. Davon profitieren auch eine moderne Zivilgesellschaft und ein politisches Milizsystem wie das helvetische – es braucht wieder mehr Leute, die sich aus innerem Antrieb um die res publica kümmern.
Arbeitende Frauen sind keine schlechten Mütter
Allein, hat die Privatwirtschaft die Zeichen der Zeit erkannt? Wer loyale Mitarbeiter haben will, muss ihnen auch etwas bieten – im Falle der Frauen sind das vor allem zwei Dinge: ein gutes Betreuungsangebot für Kinder und Teilzeitarbeitsmodelle. Eine Frau ist keine schlechte Mutter, wenn sie neben Kindern einer beruflichen Tätigkeit nachgeht. Aber gerade in städtischen Verhältnissen greifen familiäre Netzwerke und nachbarschaftliche Beziehungen kaum. Hier braucht es privatwirtschaftliches Engagement. Leider schielen viele Firmen nach wie vor auf staatliche Unterstützung, statt selbst die Initiative zu ergreifen und – zusammen mit anderen Unternehmen – Kindertagesstätten auf die Beine zu stellen. Im Bereich der Teilzeitarbeit scheint die Privatwirtschaft langsam, aber sicher zu erwachen. Die Raiffeisenbank beispielsweise hat bis ins höhere Kader Teilzeitarbeit für Männer und Frauen geschaffen. Das Resultat: zufriedene Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, markanter Rückgang der Stellenwechsel und damit eine Senkung der Kosten, die mit jedem Stellenwechsel verbunden sind. Die grössere Zufriedenheit, die entsteht, wenn sich Beruf und Familie vereinen lassen, wirkt sich darüber hinaus positiv auf die Ehen und auf die Kinder aus. Eine unzufriedene «Vollzeitmutter» ist für die Kinder mit Sicherheit schlechter als eine zufriedene «Teilzeitmutter».
In der Wirtschaft, so sollte man meinen, zählt die Leistung, in der Politik das Engagement, in der Familie die Aufmerksamkeit – unabhängig vom Geschlecht. Was selbstverständlich klingt, ist nach wie vor ein Wunschtraum. Hier braucht es wohl noch Zeit, und es ist die Aufgabe von engagierten Menschen, dafür zu sorgen, dass sich das Rad der Zeit vorwärts und nicht rückwärts dreht.
Zivilgesellschaftliches und politisches Engagement werden attraktiver, wenn die Vereinbarkeit von Beruf und Familie wirklich gelebt wird. Der Einsatz für die Gemeinschaft ist nicht nur Voraussetzung für ein gutes Funktionieren unserer Staatsform; er verleiht dem Leben des einzelnen darüber hinaus einen Sinn, der durch kein noch so hohes Gehalt aufgewogen werden kann. Die innere Zufriedenheit eines engagierten Lebens lässt sich nicht mit Geld kaufen. Vereinbarkeit von Beruf und Familie hat ihren Preis. Engagierte Bürger sollten bereit sein, ihn zu zahlen.