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Editorial

«Demokratie ist die Wahl durch die beschränkte Mehrheit statt der Ernennung durch die bestechliche Minderheit.»  George Bernard Shaw Kaum eine Wahl wird heute noch durchgeführt, ohne dass daraufhin öffentlich spekuliert wird, ob der Souverän «gut» entschieden hat, und falls nicht, wer für dieses Ungeschick verantwortlich ist. Mal sind es dann finanziell potente Volkstribune, die die […]

«Demokratie ist die Wahl durch die beschränkte Mehrheit statt der Ernennung durch die bestechliche Minderheit.»  George Bernard Shaw

Kaum eine Wahl wird heute noch durchgeführt, ohne dass daraufhin öffentlich spekuliert wird, ob der Souverän «gut» entschieden hat, und falls nicht, wer für dieses Ungeschick verantwortlich ist. Mal sind es dann finanziell potente Volkstribune, die die Bürger mit Desinformationskampa­gnen dazu gebracht haben sollen, gegen die eigenen Interessen zu stimmen, mal sollen hippe Big-Data-Buden in unheiliger Allianz mit Facebook uns den Kopf verdreht haben, neuerlich stehen sogar russische Hacker wieder hoch im Kurs. Die eigentlichen Protagonisten demokratischer Entscheidungsprozesse rücken paradoxerweise immer seltener in den Fokus der Kritik: Politiker und Stimmbürger. Sie sitzen schliesslich, so der Philosoph Karl Popper, am Wahltag gemeinsam zu «Gericht» – und für einmal sollen letztere über erstere (und: ihre Arbeit in der letzten Legislaturperiode) richten. Nicht die Wahl einer neuen Regierung ist also laut Popper der zentrale Wettbewerbsvorteil der liberalen Demokratie, sondern die Abwahl. Deswegen ist eine «Chinese Democracy» eben keine Democracy.

Im Hinblick auf dieses «Volksgericht» hat sich in liberalen Kreisen vor allem das Narrativ des von staatlichen Leistungen direkt oder indirekt abhängigen Urnentrottels eingebrannt, der für immer neue Goodies aus der Staatskasse bereit ist, sich am Wahltag selbst aufzugeben. Tocqueville, später auch Hayek wiesen als überzeugte Demokraten zu Recht darauf hin, dass diese Gefahr mit dem Umverteilungsapparat wächst: wo die Bürger der Eigeninitiative entwöhnt werden, werden sie empfänglicher für mehr zwangskollektivierte Fürsorge. Logisch. Wer jedoch den Bürgern auf lange Sicht kollektive ökonomische Dummheit attestiert und so tut, als seien stets nur jene Politiken an der Urne erfolgreich, die nach dem Hundeleckerli-Prinzip funktionieren, scheitert nicht nur am urliberalen Bild des prinzipiell vernunftbegabten Menschen, sondern auch an der Empirie: Wenn 65,3 Prozent die 1:12-Initiative oder 66,5 Prozent die Initiative «6 Wochen Ferien» versenken, gelten die Mehrheitsmitbürger als «eigenverantwortlich» und «weise». Wenn 71,6 Prozent aber die No-Billag-Initiative versenken, sind sie «eingeschüchtert-staatsgläubige» Fehlinformierte. Irgendwo passt da etwas nicht zusammen.

Jason Brennan, der aktuell bekannteste und streitbarste liberale Demokratiekritiker, hat eine Idee, wo: er weist in dieser Ausgabe nach, dass unsere populäre Auffassung von Demokratie  mit der Realität kollidiert. Schon die Annahme, dass Wähler am Wahltag rationale (also: Pro und Contra vernünftig und umfassend abwägende) Entscheidungen treffen, ist nachweislich falsch – und bloss der Beginn einer langen Kaskade von weiteren Missverständnissen. Das grosse Dossier in dieser Ausgabe zeigt die liberale Demokratie denn auch als eine Staatsform, die alles andere als perfekt und auch nicht a priori alternativlos oder gar «heilig» ist – im Gegenteil. Wer aber angesichts einiger systemischer Fehlanreize glaubt, das Modell sei im Angesicht der Trumps, Orbáns, Cambridge Analyticas und Xi Jinpings aus freiheitlicher Sicht nicht (mehr) konkurrenzfähig, wird ebenfalls eines Besseren belehrt.


Michael Wiederstein 
 ist Chefredaktor dieser Zeitschrift.


 

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