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Die öffentliche Blattkritik

Die Ausgaben des «Schweizer Monats» werden von einem eingeladenen Gast beurteilt. Im Sinne der Transparenz veröffentlichen wir die Essenz der Blattkritik jeweils online.

Die öffentliche Blattkritik

Schweizer Monat / Ausgabe 1057
Juni 2018

von Philippe Wampfler

Ich bedanke mich für die Einladung, die Ausgabe 1057 des «Schweizer Monats» mit einer Blattkritik zu begleiten.

Die Blattkritik orientiert sich an drei Leitfragen. Die dort geäusserte Kritik muss mit meinem generellen Eindruck verbunden werden, mit dem Heft eine intensive, lange Auseinandersetzung geführt zu haben. Ich habe im Moment noch «Avenue» abonniert, ein Heft, das äusserlich ähnlich wertig daherkommt, aber inhaltlich deutlich beliebiger wirkt; es bleibt weniger hängen.

Welchen Text aus dem Heft würde ich mit Schülerinnen und Schülern lesen?
«Wahrheit» ist ein klassisches Unterrichtsthema im Deutsch- wie im Philosophieunterricht. Ein aktuelles Thema – wie Debatten über «Fake News» und das postmoderne Verständnis der Wahrheit zeigen. Bitcoin ist wie viele zentrale Aspekte der Digitalisierung im Gymnasium ein vernachlässigtes Thema – die Themenwahl des Hefts würde also dafür sprechen, das Postulat, im Deutschunterricht vermehrt Sachtexte zu lesen, erfüllen zu können.
Der erste Text des Hefts, der konzise, dichte Essay von Markus Gabriel, der Theorien verständlich zusammenfasst, starke Thesen formuliert und eine spezifische Haltung begründet, erfüllt alles, was ich von einem Sachtext erwarte, der im Gymnasium die Lektüre lohnt. Doch dann fällt der Wahrheitsteil ab: Die nächsten beiden Artikel sind Paraphrasen von Studien, der Artikel zu Verschwörungstheorien geht zwar abseits der ausgetretenen 9/11-Pfade auf esoterische Bewegungen und Reichsbürger ein, übernimmt aber den zentralen Teil direkt (und leider auch teilweise falsch) aus Michael Butters aktuellem Buch (Auf S. 18 wird ein Bild eines Verschwörungstheoretikers übernommen, das Butter als «Stereotyp» bezeichnet. In seinem Buch heisst es: «Inwieweit dieses Klischee der Wahrheit entspricht, wird von verschiedenen Disziplinen unterschiedlich beantwortet. Die Psychologie und die Politikwissenschaft […] würden sagen: ‹Nicht viel.›»)

Das Interview mit dem Fälscherpaar Beltracchi ist zwar amüsant, aber zu oft eine übertriebene Selbstdarstellung (in einer Interview-Unterrichtseinheit würde ich darauf aber sehr gerne eingehen).

Der Debattenbeitrag von Guelpa ist hochinteressant, aber zu technisch für meine Klassen – und dasselbe gilt auch für die Blockchain-Texte, die ich gerne meinen Kolleginnen und Kollegen der Wirtschaft empfehle. Für mein Fach wäre die Schilderung des Experiments spannend, weil das ein Verfahren ist, das Schülerinnen und Schüler für Maturaarbeiten oft mögen. Aber es fällt leider einerseits gegenüber dem spektakulär erzählten Grassegger-Selbstversuch ab, andererseits wirken die Beschreibungen des technischen Scheiterns in Zeiten von Coinbase schon leicht antiquiert. Jeanne, welche diese Plattform verwendet, formuliert zum Schluss aber einen spannenden Gedanken, den ich per Zufall diese Woche auf Facebook diskutiert habe: Sind Frauen in der Cryptoszene untervertreten, weil sie weniger risikofreudig sind – und werden sie deshalb auch schlechter bezahlt?

Abschliessend stellt sich für mich etwas die Frage, für wen das Heft geschrieben wird. Ganz klar wird mir das nicht – Interesse, in politische, gesellschaftliche und philosophische Themen tiefer einzutauchen, scheint Voraussetzung. Muss man studiert haben, um die Texte mit Gewinn lesen zu können?

Die Funktion von Visualisierungen
Ich frage mich, weshalb im Heft keine Bitcoin-Visualisierung zu sehen ist (nicht einmal ein Glossar). Und als ich mir diese Frage gestellt habe, habe ich das Heft noch einmal durchgearbeitet. Vor den Gabriel-Essay ist eine optische Täuschung eingerückt, mit der ich mit meinen Kindern kurz gespielt habe. Sie lässt uns einen Aspekt des Wahrheitsthemas erfahren. Ähnlich clever sind die drei Graphiken im Rühli-Artikel zu Fake News – sie zeigen schnell, was der Autor gekonnt aus zwei Studien herausarbeitet: Fake News verbreiten sich schnell, hinterlassen aber weniger Wirkung, als man annehmen könnte. Anders sieht es bei Porter und Wood aus: Die «mittlere Differenz auf einer 5-Punkte-Skala» wirkt sehr technisch. Ich muss die Grafik sehr lange studieren, um zu verstehen, was sie bedeutet; rufe schliesslich leicht frustriert ihr Paper auf und lese im Original nach. Mich verwirrt die Visualisierung mehr, als dass sie mir Zusammenhänge erklärt. Zudem ist sie so klein geschrieben – hätten nicht drei Statements pro Kategorie gereicht? Das war’s dann schon mit Visualisierungen, alles andere ist Illustration: Menschen in schwarz-weiss, Pferde in farbig. Nur der Faserpelz der Munotwächterin leuchtet.

Genügt das Heft den eigenen Ansprüchen?
Im Editorial heisst es, das sei kein Heft von «PR-Heinis», weil die Redaktion mit langen Vorlaufzeiten arbeite und entsprechend «ansprechende Heft- und Argumentationsstrukturen» erzeuge. Das Resultat erschöpfe sich so nicht in «Contrarianism» oder Scheinwahrheiten für die In-Group, sondern sei weder berechenbar noch langweilig.

Nach der Lektüre kann ich diesen zweiten Punkt bestätigen. Symptomatisch sind die grossartigen Rubriken und Kolumnen, die ich mit viel Vergnügen gelesen habe. Sie sind alles andere als populistisch oder ideologisch, sondern schaffen Begegnungen mit Menschen und Ideen, die bei mir als Leser hängen bleiben. Auf S. 26 kann man jedoch einen Effekt beobachten: Während Jürgensen über die Kesb differenziert auf einer argumentativen Ebene schreibt und so eine Auseinandersetzung dokumentiert, ohne auf die eine oder andere Seite zu kippen, gelingt das Hoffmann bei der Besprechung der Cultural-Appropriation-Debatte nicht. Er kippt klar auf eine Seite.

Dieses Kippen bedroht zuweilen auch das Blockchain-Dossier. So beschwört Ronnie Grob eine Zeit herauf, in der wir «kinderleicht» mit Krypto-Apps bezahlen (S. 51), obwohl im Heft erwähnt wird, dass eine Transaktion im Moment 30 Rappen koste (S. 56) und 13 Minuten daure (S. 59). Der Optimismus gegenüber den Kryptowährungen ist latent spürbar, auch wenn viele Perspektiven auf das Phänomen eröffnet werden. Aber halt auch die «PR-Heinis» direkt zu Wort kommen und ihre Start-ups anpreisen. Nicht nur das: Das Dossier umfasst so viele Texte, dass die im Editorial erwähnte Argumentationsstruktur verloren geht. Egal wo ich zu lesen beginne – entweder treffe ich auf Sätze, bei denen ich kein Wort verstehe, oder ich erhalte Dinge erklärt, die ich im Artikel zuvor schon verstanden habe.

Generell wirkt der Bitcoin-Teil etwas verspätet und leider auch nicht mit dem Wahrheitsteil verbunden. Gerade die Themen Vertrauen oder Verschwörungstheorie (vgl. z.B. diesen Essay) hätten hier schöne Anknüpfungspunkte geboten.

Ein Gegensatz bietet der Verwaltungsartikel von Guelpa: Er ist originell, aktuell – und führt eine Debatte aus dem Heft weiter, die dadurch an Tiefe gewinnt. So zeigt sich, was ich mir auch für den ersten und letzten Teil wünschen würde: Bezüge, Dialog – aber ohne Wiederholungen und Redundanzen, sondern als eine Auseinandersetzung zwischen Informierten, die sich über eine Sache verständigt haben und auch die Leserinnen und Leser darüber in Kenntnis versetzen.


Philippe Wampfler
ist Lehrer, Fachdidaktiker, Kulturwissenschafter und Experte für Lernen mit neuen Medien.

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1056
Mai 2018

Von Beni Frenkel

Mein Wunsch: Kurz und richtig

Warum schafften es die Alliierten zuerst, die Bombe zu bauen? Weil sie sich kurzfassten. Die Wissenschaftler Otto Frisch und Rudolf Peierls berechneten im März 1940, dass man für eine Kettenreaktion etwa ein bis zwei Pfund Uranium (U-235) benötigt. Die beiden setzten sich zusammen und beschrieben auf drei Seiten ihr Projekt. Das hat bei den Militärs eingeschlagen. Die deutschen Wissenschaftler setzten damals noch in ihren Laboren fest und gingen unentwegt theoretischen Fragestellungen nach.

Im aktuellen «Schweizer Monat» widmen sich im Dossier zum Thema Demokratie mehrere Professoren aus Deutschland, der Schweiz und den USA. Eine Frage: Aus welchem Land stammt wohl der Professor, der für seinen ersten Satz 49 Wörter und zwei verschachtelte Nebensätze benötigt und später sage und schreibe 98 Wörter in einen einzigen Satz quetscht? Wer liest und versteht solche Satzungeheuer?

Auf der anderen Seite haben wir den jungen, aufstrebenden Jason Brennan. Seine Sätze sind kurz und verständlich. Der amerikanische Politikwissenschaftler schmiert uns Honig ums Maul, indem er die Schweizer Demokratie als vorbildlich lobt. Der Text ist locker geschrieben. Der Autor mischt Platon, die Fussball-WM und die New York Yankees in einen süffigen Text. Das macht Spass zum Lesen, aber nur bis zum vorletzten Abschnitt. Da beginnt Brennan über die Schweizer Demokratie im Konkreten zu räsonieren. Hier läuft es nicht mehr flüssig, weil er sich wahrscheinlich zu wenig Zeit für die Recherche dafür nahm. Er schreibt: «Die Schweiz hat eine lange Tradition einer direkten Demokratie, die auf relativ lokaler Ebene stattfindet. Die Anreize bei lokaler Politik sind ohnehin andere als auf nationaler Ebene, es ist auch leichter für die Bürger zu erkennen, wo Probleme liegen, und diese einzeln über konkrete Sachabstimmungen zu beheben – die Anreize sind hierbei stärker, die Möglichkeiten grösser.» Dazu vermerkt der Autor in einer Fussnote: «Man beachte hierzu, dass die Beteiligung an nationalen Abstimmungen in der Schweiz meist niedrig ist und typischerweise die am besten informierten Bürger zur Urne gehen.»

Hier stecken viele Fehler. Erstens erfreuen sich in der Schweiz eidgenössische Abstimmungen hoher Wahlbeteiligung – ganz anders bei kantonalen oder kommunalen Abstimmungen . Zweitens ist es nicht belegt, dass «typischerweise die am besten informierten Bürger zur Urne gehen.» Ich wüsste auch nicht, wie man dies eruieren könnte. Drittens stimmt es nicht, dass bei lokaler Politik die Sachlage einfacher zu verstehen ist als bei nationalen Abstimmungen. In Zürich z.B. gibt es demnächst «einfache» Vorlagen (Volksinitiative «Freier Sechseläutenplatz»), aber auch komplizierte Vorlagen (Objektkredit für zweite Pilotphase des Projekts Tagesschule 2025). Diese Anhäufung von Fehlern schmälert das Lesevergnügen. Dann vielleicht doch lieber einen 98-Wörter-Satz?

Grossen Ärger hat mir auch der Artikel «Wert und Gesetz» verursacht. Hier schreibt der Autor (ein Jurist): «Ausgelöst durch Vorwürfe gegen den amerikanischen Filmproduzenten Harvey Weinstein, berichteten mehrere Frauen über Belästigungen und übergriffiges Verhalten durch Männer. Dabei ging es mehrheitlich nicht um strafrechtlich Verbotenes, sondern um Taten, die sozial nicht akzeptiert sind.» Harvey Weinstein soll mindestens drei Frauen vergewaltigt haben, der deutsche Regisseur Dieter Wedel soll die Schweizer Schauspielerin Esther Gemsch vergewaltigt haben, der Schauspieler Kevin Spacey soll einen 14-Jährigen sexuell genötigt haben. Der Autor spannt den Bogen zu Messer und Gabel: Es sei auch nirgends normiert, dass wir damit essen müssten. «Sexuelles Ausnutzen von Machtpositionen» sei lediglich eine «moralische Norm», meint er. Deswegen seien die Folgen nicht rechtlich, sondern «informell»: «Wer diese ungeschriebenen Regeln nicht einhält, erfährt Distanz durch seine Mitmenschen, verliert soziale Kontakte und Chancen auf berufliche Erfolge.» Dagegen heisst es in Art. 189 StGB: «Wer eine Person zur Duldung einer beischlafsähnlichen oder einer anderen sexuellen Handlung nötigt, namentlich indem er sie bedroht, Gewalt anwendet, sie unter psychischen Druck setzt oder zum Widerstand unfähig macht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zehn Jahren oder Geldstrafe bestraft.» Man kann schon sagen, dass man im Gefängnis soziale Kontakte verliert. Aber das hat unser Autor wohl nicht gemeint.

Es richtet sich die Frage aber an die Redaktion: Überprüft Ihr die Texte und wenn ja, wie genau? Strafrechtlich irrelevant, aber peinlich, sind die Professoren-Kolumnen. In «Die Kohäsionsmilliarde» vergleicht der Kommunikationsprofessor doch tatsächlich unseren Bundesrat mit Donald Trump. Unsere Bundesräte würden nämlich auch fast jeden Tag ihre Meinung ändern.

Generell möchte ich mehr von Euch lesen, und weniger von Professoren. Zum Beispiel von Ronnie Grob. Das Porträt im «ein Glas Wein mit» ist ein sehr schön geschriebenes Stück. Was der Text mit Wein zu tun hat, verstehe ich aber nicht.

 


Beni Frenkel
ist Kolumnist und Redaktor des Konsumentenmagazins «Saldo». Er lebt in Zürich.

 

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1055
April 2018

Von Francesco Benini

5 Pluspunkte:

+ Ein gutes Editorial
+ Der beste Text des Schwerpunkts «Politische Korrektheit» ist die «Blütenlese» von Claudia Wirz: das ist wirklich gut beobachtet.
+ Der Text von Werner Kieser (Die Wiedergänger) hat mich positiv beeindruckt, er ist gelehrt, mir aber fast etwas zu verkopft, zu akademisch.
+ Die Aufmachung des Magazins gefällt mir sehr gut: das Papier macht einen schönen, hochwertigen Eindruck, es liegt gut in der Hand.
+ Das Dossierthema «Steigende Zinsen» ist aktuell und gut gewählt: Die Texte von Tobias Straumann (Kommt der Zinsschock?) und Lars Feld (Tipping-Points) haben mir sehr gut gefallen. William White (Der Fluch des billigen Geldes) fand ich schwer verständlich, Roland Fuss (Hypozinswende) war mir zu zäh.

5 Minuspunkte:

– Den Text von Sibylle Lewitscharoff (Überaus korrekt) finde ich flach, eitel und zu episodisch.
– Der Text von Jan Born über Schlaf und Gedächtnis (Schlafen bildet!) ist zwar inhaltlich gut, aber für mich viel zu lang und detailiert – so genau will ich es gar nicht wissen.
– Die Kolumnen sind in Ordnung, kommen etwas gar brav daher. Es fehlt der scharfe Ton.
– Durchgefallen ist bei mir der Text von Wolf Lotter zum Thema Innovation (Der Stoff, aus dem das Neue ist). Er liefert keine Beispiele, hat deutlich zu viele rhetorische Wendungen, das wäre mit weniger Zeichen besser zu realisieren gewesen.
– Generell ist mir das Magazin zu schwer, zu verkopft und mit zu wenig Variationen in der Textform: es gibt in diese Ausgabe ja praktisch nur Aufsätze! Bitte mehr Variation, vielleicht auch mal ein Porträt oder ein Interview. Noch Verbesserungspotential gibt es aus meiner Sicht auch bei der Verständlichkeit.


Francesco Benini
ist Inlandchef bei der «NZZ am Sonntag».

 

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1054
März 2018

Von Anna Jikhareva

Zu Beginn muss ich vielleicht eines vornewegschicken: Ich bin keine Leserin des «Schweizer Monats» und habe versucht, unvoreingenommen an die Lektüre zu gehen, sie vor allem nach journalistischen Kriterien zu beurteilen.

Um meinen Gesamteindruck vorwegzunehmen: Der «Schweizer Monat» hat mich im Grossen und Ganzen positiv überrascht – sowohl in der Aufmachung als auch im Inhalt.

Vielleicht fange ich dennoch mal mit ein paar negativen Punkten an, die mir aufgefallen sind: Auch wenn der «Schweizer Monat» eine AutorInnenzeitschrift ist, würde ich mir mehr formale Vielfalt wünschen. Damit ich ein Produkt gerne in die Hand nehme, braucht es eine gute Mischung: Interviews müssen sich mit Reportagen abwechseln, Porträts mit Essays. Wenn ich mir die März-Ausgabe anschaue, ist dieser Anspruch für mich nicht eingelöst. Praktisch alle grösseren Texte umreissen Metathemen wie Globalisierung oder Digitalisierung essayistisch. Das eine oder andere Interview oder eine Reportage hätte dem Heft gutgetan. Und auch ein bisschen mehr thematische Vielfalt. Es gibt im Text zwei grosse Themen – wenn ich mich nicht für mindestens eines von beiden interessiere, werde ich das Magazin nicht kaufen.

Wenn ich von Vielfalt spreche, muss ich auch noch etwas anderes ansprechen: Praktisch alle Texte sind von Männern geschrieben, was in dieser Ausgabe besonders lustig ist, da ihr auch einen sehr interessanten Text von Rebecca Solnit habt, die ja unter anderem den Begriff «Mansplaining» geprägt hat. Der Text war für mich übrigens das Highlight dieser Ausgabe – vor allem auch, weil ich die Frage, ob man mit politischen GegnerInnen reden soll, eine sehr spannende finde und mir der Text viel Stoff zum Nachdenken liefert.

Aufgefallen ist mir zudem, dass ihr wenig rausgeht, die Texte etwas arg weit weg sind von einer – wie auch immer gearteten – Schweizer Lebensrealität. Ich würde gerne mehr von euch als Autorinnen und Autoren lesen, dafür weniger von irgendwelchen Professoren. Oft werden sehr grosse Bögen gespannt, historisch wie auch globalpolitisch, konkrete Beispiele kommen hingegen zu kurz. Besonders geärgert hat mich das beim Text von Beat Kappeler, den ich nicht ideologisch eine Zumutung fand, sondern vor allem, weil er für seine Behauptungen praktisch keine Beispiele bringt.

Aufgefallen ist mir in dieser Ausgabe auch, dass gleich drei grosse Texte Übersetzungen sind. Hier sollte man sich vielleicht selbst mehr auf die Suche nach spannenden Köpfen begeben, als im englischsprachigen Raum erschienene Texte nachzudrucken.

Den Essay von Dani Rodrik finde ich okay, wenn auch beim Thema Nationalstaat vs. Globalisierung wenig innovativ, schliesslich ist er der vermutlich prominenteste liberale Globalisierungskritiker. Und tatsächlich schreibt er wenig Überraschendes oder sogar Kontroverses, was mir durch die Zuschreibung suggeriert wird, es sei eine Streitschrift. Was ich zudem etwas problematisch finde, ist, dass Rodrik in seinen Überlegungen die Migration ausser Acht lässt und lediglich auf die globalen ökonomischen Verflechtungen eingeht. Beispielsweise mit ihm hätte man ein Interview machen können, was vermutlich spannender herausgekommen wäre.

Den G20-Text von Urs Saxer finde ich wenig erhellend, weil ich zum einen die Diskussion relativ gut kenne und zum anderen die Aktualität der Fragestellung nicht ganz begreife. Und generell im Hinblick auf den Schwerpunkt hätte ich mir einen Text gewünscht, der die Migration in den Fokus nimmt – als eine sehr konkrete Ausprägung der Globalisierung. Ein anderes mögliches Thema in diesem Dossier wäre die sogenannte Selbstbestimmungsinitiative der SVP – ein Thema, das eine andere Ebene in die Diskussion bringen würde und ein weiteres konkretes Beispiel wäre.

Die Kolumnen finde ich insgesamt relativ unspektakulär. Dass Christian P. Hoffmann noch einmal die libertäre Ideologie und die No-Billag-Abstimmung in den Fokus nimmt, finde ich – nachdem die Abstimmung gelaufen ist – ziemlich langweilig. Was ich hingegen gut finde, ist die Rubrik «Ein Glas Wein mit» sowie auf der letzten Seite die «Nacht des Monats». Beide Texte bieten einen persönlichen Zugang zu einer interessanten Person.

Die Kurzgeschichte habe ich nicht gelesen. Ich finde solche Formate grundsätzlich eher störend, auch in meinem Lieblingsmagazin, dem «New Yorker», nervt mich der literarische Beitrag jeweils. Wenn ich Belletristik lesen möchte, nehme ich lieber ein Buch zur Hand.

Bevor die Kritik zu lang wird, vielleicht noch ein paar wenige Worte zum Dossier. Die Texte habe ich ehrlich gesagt bis auf die Reportage nicht gelesen, die mir aber sehr gut gefallen hat. Hier finde ich die formale Mischung deutlich besser gelungen. Auch wenn mich persönlich das Thema nicht sonderlich interessiert, finde ich es sehr wichtig, dem so viel Raum zu geben.

Vielleicht am Schluss noch etwas zur Aufmachung: Das Layout finde ich ansprechend, es gefällt mir, dass man sich auf das Wesentliche konzentriert: die Texte. Weniger überzeugend finde ich hingegen die Bebilderung. Grosse, schwarz-weisse Autorenfotos werden mit Symbolbildern kombiniert. Es fängt schon beim Cover an, wo mich Dani Rodrik anstarrt; da in den Ausgaben der letzten Monate die Männer auf der Front überwiegen, würde ich versuchen, möglichst viele Frauen auf dem Titel zu bringen, wann immer das möglich ist. In diesem Fall hätte sich Rebecca Solnit durchaus angeboten, die Wahl wäre auch überraschender. Bei der Bebilderung insgesamt würde ich mir wünschen, dass ihr euch mehr traut. Dass ihr im Lead zum Souveränitätsschwerpunkt vom «Blick in den Werkzeugkasten» schreibt und das Thema dann ausgerechnet mit einem Werkzeugkasten illustriert, finde ich wenig mutig.

Vielleicht als abschliessendes Fazit: Werdet ein wenig mutiger, geht mehr unter die Leute, schreibt mehr Texte selbst. Mich würden eure Meinungen und Einschätzungen mehr interessieren als die von ein paar alten Männern, die mir die Welt zu erklären versuchen.

 


Anna Jikhareva
ist Auslandredaktorin bei der WOZ mit Schwerpunkt Migration, Russland und Osteuropa, Deutschland und Europäische Union. Sie lebt in Zürich.

 

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1053
Februar 2018

Von Peter Blunschi

Ich war und bin kein regelmässiger Leser des «Schweizer Monats». Das Image einer Zeitschrift der rechtsliberalen bis reaktionären Intelligenzija hat mich abgeschreckt. Seit einiger Zeit aber tut sich etwas. Das Cover mit Dina Pomeranz, einer Entwicklungsökonomin mit linkslastigem Social-Media-Profil, entsprach nicht dem Klischee. Ähnliches lässt sich von Sherry Turkle behaupten.

Die Einladung von Ronnie Grob zur Blattkritik der Februar-Ausgabe habe ich deshalb sehr gerne angenommen. Um einen Befund vorwegzunehmen: Die Öffnung des «Schweizer Monats» ist keine Illusion; er ist weit weniger ideologisch oder dogmatisch als sein Ruf. Die Qualität der Beiträge ist unterschiedlich, das liegt in der Natur der Sache, aber insgesamt dominiert der positive Eindruck.

Weshalb ich gleich mit dem grössten Ärgernis beginnen will, der Kolumne «Freie Sicht». Der Begriff «vernebelte Perspektive» wäre passender. Man darf und muss das NetzDG kritisieren. Aber die Behauptung, «Fake News» und «Hate Speech» seien nicht justiziabel, ist selber Fake News. Hat der Autor noch nie von Gesetzen gegen Volksverhetzung oder der Anti-Rassismus-Strafnorm gehört? Die «Garnitur» mit – angeblichen – Voltaire-Zitaten macht sein Elaborat nicht besser.

Ein typisches Beispiel, wie liberales Denken zu Ergebnissen führen kann, die mehr gut gemeint sind als gut, ist das Plädoyer von Thomas Rihm für die Dopingfreigabe (lesen Sie online). Selbst wenn sie ärztlich kontrolliert stattfindet, entmutigt sie Sportler, die auch aus Rücksicht auf ihre Gesundheit «sauber» bleiben wollen. Und vor allem beseitigt sie das Grundübel nicht. Sportler, die um jeden Preis gewinnen wollen, werden neue Wege suchen, um dem Erfolg mit unlauteren Mitteln nachzuhelfen.

Das waren auch schon die negativsten Erfahrungen meiner Lektüre. Kehren wir deshalb zurück zum Anfang. Die Aufmachung und Gestaltung des Magazins ist gelungen. Man wundert sich höchstens, warum in der Regel ganzseitige Autorenfotos und weiter hinten plötzlich Symbolbilder publiziert werden. Das absolute optische Highlight ist die Doppelseite zum Zahlen-Schwerpunkt. Sie ist mit ihrer Reduktion auf des Wesentliche und dem neckischen «Extra» fast schon genial.

Sogleich folgt der nächste Höhepunkt, der Text von Vince Ebert. Es spricht sehr für den «Schweizer Monat», dass er solche «Querdenker» zu Wort kommen lässt. Von Jordan Ellenbergs Beitrag hingegen bleibt nur die erneut gelungene Illustration im Gedächtnis. Gefallen hat mir das Plädoyer von Petra Huth für die in letzter Zeit arg angefeindete Meinungsforschung. Weniger gefallen hat mir, dass es sich um einen von nur zwei längeren Beiträgen von und mit Frauen handelt.

Die Kolumnen haben mich nicht sonderlich inspiriert. Hier habt ihr Luft nach oben. Die Ausnahme von der Regel sind die Ausführungen von Karen Horn zum Heimatbegriff. Tito Tettamantis Replik auf Tim Guldimanns Essay (lesen Sie online) habe ich nicht gelesen, und das nicht nur, weil ich den ursprünglichen Text nicht kenne. Gleiches gilt für die Kurzgeschichte. Ich mache eine Blatt-, keine Literaturkritik.

Kommen wir damit zum Dossier «Wie mutig ist die Schweiz?». Die Titelgeschichte von Markus Freitag ist ein typisches Beispiel für Elfenbeinturm-Argumentation. Anstelle von Allgemeinplätzen zur «Wattebauschdemokratie» hätten mich konkrete Beispiele interessiert. Wie soll man das Ja zur eidgenössischen Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung» interpretieren? Oder das Nein zu Unternehmenssteuerreform III und Altersvorsorge 2020, obwohl in beiden Fällen der Reformbedarf ausgewiesen wird. Sind diese Voten ein Ausdruck von Mut oder Angst?

Fast schon ironisch wirkt es, dass sich eine Politikerin jener Partei über den fehlenden Mut auslassen darf, die geradezu ein Synonym ist für politische Mutlosigkeit. Damit gewinnt die CVP zwar die meisten Abstimmungen, aber der Wähler honoriert es nicht. In der Sache ist Andrea Gmürs Text durchaus gelungen, sie erwähnt zwei wichtige Gründe für die helvetische Risikoscheu: unsere Versicherungsmentalität und das hohe Wohlstandsniveau. Auf jeden Fall werde ich in Zukunft verfolgen, ob Frau Gmür im Nationalrat ihren schönen Worten auch Taten folgen lässt…

Nun aber zu den Highlights: dazu gehört das Interview mit Oliver Gassmann, der auf erfreulich unideologische und differenzierte Weise Klartext spricht (ausser beim Grundeinkommen). Im Essay von Daniel Goetsch werden die Begriffe SVP, Blocher und EU nicht einmal erwähnt, trotzdem wird klar, worauf er hinauswill. Und die Anleitung von Michael Kres zum Mutigwerden drückt eine gewisse Ratlosigkeit aus, allerdings auf eine sehr vergnügliche Art.

Die Ausführungen von Eric Scheidegger hingegen sind nichtssagend, und das Gespräch mit Thomas Bergen hat vor allem anekdotischen Wert. Und was hat Ronnie Grob geritten, dass er die Medien zu Mutmachern der Nation erklären will? Man merkt es seinem Text an, dass ihm diese These selber nicht ganz geheuer war. Als «Ehrenrettung» für ihn möchte ich dafür die «Nacht des Monats» mit Jean-Marc Hensch loben, einem in der Tat sehr spannenden Typen.

Fazit: Der «Schweizer Monat» hat sich auf erfreuliche Weise aus der neo- bis rechtsliberalen Ecke herausentwickelt. Ob das genügt, damit mehr Leserinnen und Leser den doch ziemlich happigen Betrag für euer Heft ausgeben, muss sich zeigen.


Peter Blunschi
ist Redaktor von Watson.ch. Er lebt in Zürich.

 

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1052
Dezember 2017 / Januar 2018

Von Claudia Wirz

Ich gestehe: Ich lese den «Schweizer Monat» nicht immer. Doch wenn ich ihn lese, dann immer mit Gewinn. Mit Gewinn in dem Sinne, als ich jedes Mal etwas lerne. Ich lerne neue Autoren, neue Perspektiven, neue Argumente kennen und erhalte Inspirationen für die eigene Arbeit. Über die Einladung zur Blattkritik habe ich mich sehr gefreut.

Den «Monat» zu lesen geht indes nicht immer ganz leicht von der Hand. Er ist seriös, vielleicht fast zu seriös, was bereits seine grafische Aufmachung anzeigt. Manchmal kommt er mir zu gesetzt und professoral daher. Es fehlt mir das Leichtfüssige, das Konkrete, das dem akademischen Duktus guttun würde und das Heft vielleicht einem breiteren Publikum öffnen würde. Das Leben besteht nicht nur aus bitterem Ernst, der wissenschaftlich analysiert werden muss. Grundsätzlich dürfte der «Monat» aus meiner Sicht frecher und frischer sein und den Lesern auch mal eine Überraschung oder Provokation servieren.

Die Dezemberausgabe 2017 setzt einige Glanzlichter dieser Art. Dem Doppelinterview von Ronnie Grob mit den Finanzvorstehern der Gemeinden Dietikon und Riehen liegt nicht nur eine gute Idee zugrunde – auch die Umsetzung ist gelungen, witzig, unterhaltsam und illustrativ. Ich kann nur sagen: Mehr davon! Grundsätzlich würde ich es als Leserin begrüssen, auch im «Monat» mehr Journalistisches und weniger Akademisches zu lesen, auch wenn ich freilich weiss, dass es sich bei diesem Magazin um eine Autorenzeitschrift handelt. Gleichwohl: Die Mischung machtʼs und nicht alle Autoren müssen Professoren sein!

Das Dezemberheft gliedert sich in zwei Themenblöcke. Zum einen wird die Frage erörtert, was ein guter Staat sei. Im zweiten Teil geht es um das Verhältnis zwischen Journalismus und Politik. Bei beiden Themenblöcken hätte ich mir eine Würdigung der Redaktion gewünscht, in der Form eines Leitartikels oder eines Kommentars. Ohne eine solche redaktionelle Einordnung stehe ich mit den vielen Meinungen, die hier dargeboten werden, am Ende etwas einsam und ratlos da. Das ist irgendwie unbefriedigend.

Zu guter Letzt zwei formale Bemerkungen: Grundsätzlich halte ich die Texte für zu lang. Ein Text wird nicht besser, wenn er eine Seite länger ist, im Gegenteil. Der Mut zur Kürze (und zur Lücke) bringt die Autoren schneller auf den Punkt. Lange Listen mit Literaturangaben kann man in einem wissenschaftlichen Journal veröffentlichen, in einem Publikumsmagazin stört mich das.

Ausserdem ist mir aufgefallen, dass die ganz grosse Mehrheit der Autoren Männer sind. Nun bin ich bekanntlich alles andere als eine Quotenfreundin, gleichwohl täte die eine oder andere weibliche Hand dem «Monat» vielleicht gut. Aber es muss natürlich eine sein, die schreiben kann und auch etwas Relevantes mitzuteilen hat.


Claudia Wirz
 ist Sinologin und freie Journalistin und war vor ihrer Selbständigkeit über 20 Jahre lang Redaktorin bei der «Neuen Zürcher Zeitung».

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1051
November 2017

Von Rico Bandle

Die Idee, mich für eine Blattkritik einzuladen, kam an einem Mittagessen mit Ronnie Grob. Ich erklärte ihm, weshalb ich das Blatt selten lese, obschon es im Büro herumliegt: «Ihr habt auf dem Cover immer eine Person, die man nicht kennt, und eine Titelzeile, die man nicht versteht.» Er meinte daraufhin, das solle ich doch etwas ausführlicher der ganzen Redaktion erklären.

Als ich dann die aktuelle Nummer aus dem Briefkasten holte und das neue Cover sah, dachte ich: «Das habt ihr nun vorsätzlich für mich gemacht»: Da ist eine Person drauf, die niemand kennt, und eine Titelzeile, die man nicht versteht.

Klar, der «Schweizer Monat» muss sich nicht am Kiosk verkaufen, deshalb muss er sich auch nicht marktschreierisch anpreisen. Trotzdem ist ein Titelblatt, das neugierig macht, wichtig: Wir kämpfen als Printprodukt unentwegt gegen unsere eigene Überflüssigkeit an. Die Leute haben wenig Zeit zum Lesen, die Konkurrenz ist riesig. Wenn wir den Abonnenten nicht dazu bringen, das Heft aufzuschlagen, weil er unbedingt wissen möchte, was da drinsteht, ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass es nach einigen Tagen ungelesen im Altpapier landet. Bei mir jedenfalls ist das so.

Wenn man diese Ausgabe durchblättert, so merkt man: Die Zusammenstellung der zum Teil hervorragenden Artikel ist genauso uninspiriert und unkreativ wie das Titelblatt. Kluge Essays von Fremdautoren habt ihr genug, aber wo sind die originellen Ideen? Bei dem Titelthema des Blattes, «ungleiche Verteilung», kommen mir spontan mehrere mögliche Ideen in den Sinn: Mit einem Sozialhilfebezüger einen Milliardär besuchen, in der reichsten und der ärmsten Gemeinde der Schweiz eine Strassenumfrage zu Geldthemen machen und dann die Antworten vergleichen etc. Im «Magazin» hatte es einmal ein Doppelinterview mit Millionärsgattin Irina Beller und einem jungen Mann, der freiwillig auf jeglichen materiellen Wohlstand verzichtet. So etwas bleibt in Erinnerung, so etwas sorgt für Gesprächsstoff. Bei euch: nichts davon.

Gleichwohl: die ersten beiden Essays sind hervorragend, das sind Perlen, beide auf ihre eigene Art: Jener von Walter Scheidel bringt eine für mich völlig neue historische Sicht auf das Thema Ungleichheit, dieser Text war für mich ein grosser Gewinn. Jener von Mark Sheskin zeigt dermassen klar und didaktisch klug die Unterschiede zwischen Gleichheit und Fairness auf, dass ich den Artikel gleich meiner Frau, einer Gymnasiallehrerin für Wirtschaft und Recht, empfohlen habe, ihn mit ihren Schülern durchzunehmen.

Interessant ist, diese beiden Essays von angelsächsischen Wissenschaftern den nächsten beiden von deutschsprachigen gegenüberzustellen: Der Niveauunterschied ist frappant! Bei einem habe ich gar nicht verstanden, was mir die Autorin sagen möchte, beim zweiten schreibt der Autor Leinwände voll mit komplizierten Sätzen, um eine völlig banale Erkenntnis zu transportieren: dass Vielfalt und Heterogenität besser sind als Einfalt und Homogenität. Das ist einmal mehr ein Anschauungsbeispiel dafür, wie unfähig die deutschsprachigen Wissenschafter sind, sich verständlich und klar auszudrücken, im Gegensatz zu den angelsächsischen.

Noch etwas anderes fällt mir auf: Ihr seid alle hervorragende Autoren – in dieser Ausgabe ist von euch aber niemand mit einem grösseren Artikel präsent. Klar: die Redaktion der vielen längeren Essays kostet viel Zeit, aber habt ihr nicht den Ehrgeiz, in jeder Ausgabe mit einer grösseren Story präsent zu sein? Selber grosse Geschichten zu schreiben, das ist doch die Antriebskraft jedes Journalisten, dafür wählt man doch diesen Beruf!


Rico Bandle
ist Leiter des Ressorts Kultur bei der «Weltwoche». Er lebt in Zürich.

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1050
Oktober 2017

Von Elisabeth Schoch

 Vor zwei Wochen wurde ich angefragt, eine Blattkritik für den «Schweizer Monat» zu erstellen. Natürlich mache ich das sehr gerne! Es ist nämlich ein Magazin, das mich als liberale und engagierte Politikerin und Unternehmerin immer beeindruckt hat. Die Kehrseite ist natürlich, dass man das Magazin von hinten bis vorne analysieren und lesen muss. Und so begleitete mich das Magazin die letzten zwei Wochen überallhin. Die Artikel sind lang und man muss sich einen «Schupf» geben, um mit dem Lesen zu beginnen. Doch dieser «Schupf» lohnt sich. Und dank der App geht das in Tram, Bus, Zug oder beim Warten inzwischen auch viel einfacher. Jedenfalls ist das sinnvoll investierte Zeit.

Die drei Schwerpunktthemen der aktuellen Ausgabe sind relevant und aktuell. Die porträtierten Persönlichkeiten haben durchwegs eine hohe Kompetenz in ihrem Thema. Hintergrundwissen also aus erster Hand und aus verschiedener Optik beleuchtet. Eine wohltuende Abwechslung zum Mainstream-Journalismus.

Mir gefällt der Aufbau «Weiterdenken, Vertiefen, Erzählen» sehr gut:

Unter Weiterdenken gefielen mir die Gedanken von Kacem El Ghazzali über die Reformfähigkeit und notwendigkeit des Islams. Im Zusammenhang mit der 500-Jahr-Reformationsfeier ist es interessant, auch über andere Religionen nachzudenken – der Islam betrifft uns ja inzwischen alle. Etwas ausserhalb des Reformationsthemas ist der Artikel «Kampf um Fördermittel» von Andrea Degen. Inhaltlich jedoch hochspannend und Einblick gebend: mit Fakten, die in der Beurteilung der Beziehung zur EU schlicht übersehen werden.

Im Bereich Vertiefen werfen wir einen Blick in die Zukunft und nehmen eine kritische Reflexion vor über die Digitalisierung, die Automation und die Datenspeicherung. Der Artikel über die vermessene Gesundheit zeigt auf, wie sich niemand der Digitalisierung entziehen kann, denn Gesundheit geht uns alle etwas an. Das ganze Thema ist insgesamt optimistisch und erfrischend abgehandelt. Besonders gefiel mir der Leitartikel von Sherry Turkle mit ihrer provokativen Aussage «Wir stumpfen ab. Plädoyer gegen das unmündige Leben in seichter Harmonie». Das regt zum Nachdenken an – das Magazin lohnt sich schon nur wegen dieses Artikels.

Nach dem gebündelten und vertiefenden Wissen war ich dann auch froh um etwas Ausspannen im Abschnitt Erzählen: die Kurzgeschichte «Somnoproxy» von Stuart Evers liest sich leicht und unbeschwert – und doch muss man plötzlich nochmals zurückgehen und wird zum Nachdenken angeregt. Wer ist nun dieser Routh tatsächlich?

Das Resultat? Die zwei Wochen mit dem «Schweizer Monat» haben mich überzeugt und zur festen Abonnentin gemacht. Ich gratuliere der Redaktion für wirklich wohltuenden Journalismus: informativ, seriös, liberal und optimistisch in die Zukunft blickend. Und wenn ich mir etwas wünschen dürfte: wie schön wäre es doch, die Artikel auch als Audio zur Verfügung zu stellen. Das würde den «Schupf» etwas weniger hart machen.


Elisabeth Schoch
 ist Unternehmerin und Unternehmensberaterin im Gesundheitswesen und hat sich eine Kompetenz in neuen Technologien wie Virtual Reality, Gamification und IoT angeeignet. Sie sitzt für die FDP im Gemeinderat der Stadt Zürich und präsidiert ab nächster Amtsperiode die Spezialkommission des Gesundheits- und Umweltdepartements.

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1049
September 2017

Von David Fehr

Vorbemerkung

Ich habe während der Lektüre wieder einmal gemerkt, dass ich mit dem Begriff «liberal», der beim «Schweizer Monat» nun mal im Zentrum steht, etwas Mühe bekunde. Fast zwangsläufig habe ich mich – sozusagen als vom Unternehmen engagierter White Hacker – darauf konzentriert, inhaltliche und konzeptuelle Ungereimtheiten zu finden. Der daraus resultierende leicht negative Touch dieser Blattkritik ändert nichts daran, dass ich die Lektüre spannend, informativ und herausfordernd empfand.

Cover

– Der Titel «Sackgasse Migration» ist irreführend, da er nicht mit der Grundaussage der Ausgabe übereinstimmt – dafür passt er umso besser zu Paul Colliers grimmigem Blick und dem Backstein im Hintergrund. Aber die Grundaussage der Ausgabe lautet ja, dass Migration den Wohlstand erhöhe, wenn sie richtig angegangen werde. «Über Migration» oder nur «Migration» hätten besser gepasst.

– Das Titelbild gefällt bei längerer Betrachtung immer besser, aber wenn man Paul Collier nicht kennt, ist man raus. Das gilt für viele der Autoren, die jeweils auf dem Cover sind. Statt Köpfen eine simple Illustration auf dem Cover wäre einen Gedanken wert. Das wäre zwar ein Bruch mit einer langen Tradition (und für eine Autorenzeitschrift vielleicht per se undenkbar), aber für eine Themenzeitschrift, die der «Schweizer Monat» ja auch ist, nicht das Verkehrteste.

Inhaltsverzeichnis

– Die verschiedenen Layouts auf den drei Seiten irritieren, dass Texte doppelt angeteasert werden, ebenso. Warum nicht zwei Seiten und ein altbackenes Inhaltsverzeichnis, das sich für jeden Beitrag genug Platz nimmt?

– «Kolumnen» sind nur teils Kolumnen, der Rest sind andere Gefässe. Auch wenn mit Kolumne nicht Kommentar, sondern Druckspalte gemeint ist, wirkt es komisch.

– Der Verweis auf das eine (sehr interessante) Online-Interview mit Marcel Dobler wirkt etwas verloren. Ich hätte es gerne in der Printausgabe gelesen.

Gefässe

– Die Texte selber gefallen mir alle sehr gut, aber die Benennung der Gefässe irritiert.

– «Nacht des Monats» ist keine Nacht, sie endet ja um 23 Uhr. Dabei wäre die wortwörtliche Umsetzung eine sehr coole Idee: Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, in der Nacht wach sind.

– Bei «Ein Glas Wein mit…» wirkt der Weinbezug etwas bemüht. Es ist letztlich ja einfach ein (sehr gelungenes) Kurzporträt eines Unternehmers. Der andere Titel («Helden der Arbeit») ist – gerade für den «Schweizer Monat» – der bessere.

– Auch «Wortwechsel» verstehe ich nicht ganz. Die Autorin erklärt ja einfach, was Ordnungspolitik ist, geht aber nicht weiter auf das Zitat von Regula Rytz ein – es fehlt der versprochene Wortwechsel.

Layout

– Schön, ruhig, unaufgeregt – passend zum Produkt.

– Dass nach Zwischentiteln ein Einzug gemacht und nach Doppelpunkten klein weitergefahren wird, auch wenn ein ganzer Satz folgt, irritiert mich.

– Die wenigen Bilder sind gut gewählt und ausdrucksstark.

– Da viele Seiten textlastig sind, könnte etwas mehr Weissraum auflockernd wirken.

Einzelne Texte 

Intro

Der Text gibt einen guten Einstieg ins Thema. Dass er für ein Editorial eher lang ist, passt gut zum Produkt. Das Eingangszitat von Ludwig von Mises hat meiner Meinung nach jedoch einen entscheidenden Fehler: «…, dass jeder dort arbeiten und dort verzehren darf, wo es ihm am besten dünkt.» «Dünkt» – das wäre bei ein paar Milliarden Menschen vermutlich Westeuropa. Ein sehr theoretischer Ansatz für ein sehr praktisches Problem.

«Was kostet die Zuwanderung?»

– Den Artikel «die» könnte man weglassen. Es ist ja ein steter Prozess, darum einfach: «Was kostet Zuwanderung?» Oder ergebnisoffen: «Kosten und Nutzen der Zuwanderung».

– Der Text präsentiert eine an sich interessante Rechnung, mit der man ein bis zur Unkenntlichkeit verpolitisiertes Thema einordnen könnte, lässt jedoch einen wichtigen Faktor unbeachtet, da die Zahlen lediglich bis 2009 reichen. In der Zwischenzeit wuchs die Bevölkerung von 7,78 auf 8,42 Millionen, über die Hälfte durch Migration. Das war für die Arbeitsproduktivität – immerhin eine der wichtigeren Kennziffern – nicht zwingend positiv. Und auch weitere Auswirkungen auf Lohnniveaus, ältere Arbeitnehmer oder Mieten finden in dieser Rechnung keine Berücksichtigung.

«Leistung statt Lotterie»

Fordert der Autor ernsthaft einen globalen Arbeitsmarkt ohne flankierende Massnahmen? Alle gegen alle, weltweit? Schicken wir die «Lucky Loser», die unverdient in der schönen Schweiz leben dürfen, nach Albanien? Die zitierte Studie, der Wohlstand würde bei globaler Personenfreizügigkeit bis zu 150 Prozent wachsen, erscheint theoretisch und alles andere ausser Acht lassend. Vergleichbar mit Cédric Wermuth, der den Schweizer Pass für alle hier Geborenen fordert – einfach am anderen Ende der Phantasieskala.

«Aufgelaufen»

Informativer Grundsatztext, der die Unterschiede zwischen Flucht und Migration sowie die komparativen Kostenvorteile der lokalen Hilfe erklärt. Eine differenzierte Betrachtung des Themas ist angesichts der Emotionalität, mit der es oft diskutiert wird, hilfreich. Alles in allem eine sehr gute Titelstory – so wie ich mir den «Schweizer Monat» vorstelle.

«Gerechtigkeit für alle!»

Die Reportage gibt lebhafte Eindrücke und liest sich flüssig, die Bildauswahl inklusive Bildunterschriften gefällt. Aber ich hätte mir noch mehr Platz für die Reise selber gewünscht, dafür etwas weniger Merkel. Heikel finde ich, dass die Frage, ob die Verteilung in Deutschland gerecht sei, an einer Umfrage des DIW festgemacht wird. Der DIW ist weder neutral noch sind Umfragen zuverlässig. Zumal sagen die an anderer Stelle mittlerweile selber, dass die Einkommenskonzentration auf historisch hohem Niveau sei, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinandergehe und dass die Erbvolumen in Deutschland ein Viertel grösser sein dürften als gedacht. Aber im Text reicht diese eine Umfrage, um sämtliche Forderungen nach Umverteilung (und die Parteien, die sie fordern) als lächerlich darzustellen.

«Vorschneller Reflex»

Etwas sehr wissenschaftlich geschrieben, was den Einstieg nicht ganz einfach macht. Auch der Rest des Textes ist keine leichte Kost: viele Referenzen, viele Fachbegriffe, viel Theorie, lange Sätze. Wenn ich den Text richtig verstanden habe, ist die Grundaussage: Zentralisierung ist gut, wenn sie dem Gemeinwohl dient – gilt das nicht für alles, was dem Gemeinwohl dient? Wenn das die Replik ist, würde mich fast mehr interessieren, was David Dürr in der letzten Ausgabe behauptet hat.

Dossier Lernen

– Warum wird Sponsor Thomas Schmidheiny nicht näher vorgestellt? Natürlich kennen ihn Leser des «Schweizer Monats» – aber bei einem Zufallsleser kann man es nicht voraussetzen.

– Das Dossier behandelt eine der meiner Meinung nach dringendsten Fragen – gerade aus liberaler Sicht – leider nicht: Chancengleichheit ist für den Liberalismus die wichtigste Form von Gleichheit. Die haben wir in der Schweiz nicht, Bildung und später Erfolg hängt zu einem guten Teil von der Herkunft ab. Wie liberale Ansätze diesen nicht liberalen Verhältnissen Abhilfe schaffen können, das hätte mich interessiert.

«Wie viel Freiheit darf es sein?»

– Sehr interessanter Text, aber warum so kurz? Das hätte Stoff für drei Seiten inklusive Interview und Infografik gegeben.

«Spielen Sie nur einen Ton, nicht drei Töne, das ist zu gefährlich»

– Super Titel, regt an zu lesen, da man nicht genau weiss, worauf er anspielt.

– Auch das Interview selber ist spannend, da der Fokus (wie wird in der Musik gelernt und gelehrt?) durchgezogen wird.

«Lernen und Lehren bei rationalen Erwartungen»

Ein ökonomisches Potpourri mit wenig Erkenntnisgewinn. Die Bildauswahl ist eher speziell.

«Lernen in der Politik – geht das?»

– Ein cooles und für mich eher unbekanntes Thema, das interessante Fragen stellt und teils auch beantwortet.

«Von Emile bis Peergroup» und «Das Rätsel der Vernunft» sind mir zu wissenschaftlich geschrieben, ich bin nicht wirklich in die Texte reingekommen.

Zu den externen Autoren

Es ist vermutlich eine Gratwanderung, aber man könnte sich überlegen, Texte der externen Autoren stärker zu redigieren, um eine breitere Leserschaft zu erreichen. Häufig merkt man, dass sie vor allem in wissenschaftlichen Titeln publizieren, was die Lektüre für «normale» Leser harzig macht.

Die Sache mit dem Liberalismus

Der Begriff liberal umschreibt nicht nur die Grundhaltung des «Schweizer Monats», er kommt auch in den Texten sehr häufig vor. In dieser Ausgabe auch auf dem Cover und mehrfach im Editorial. Das wirkt teilweise etwas bemüht, gerade bei den externen Beiträgen. Die Leser des «Schweizer Monats» brauchen diese ständige Versicherung, dass sie noch im richtigen Heft sind, (hoffentlich) nicht. Dazu kommt, dass der Begriff mittlerweile halt etwas abgelutscht ist. Heute bezeichnet sich jeder als liberal respektive das, was er als liberal definiert. Der Begriff wurde dem «Schweizer Monat» sozusagen abspenstig gemacht. Ich würde ihn wenn möglich weniger, dafür gezielter einsetzen.

Aber selbst der klassische Liberalismus, wie ihn der «Schweizer Monat» pflegt, ist meiner Meinung nach – spätestens seit Erbschaften die Arbeitseinkommen übersteigen – ein paar Antworten schuldig. Die Beiträge wirken bisweilen etwas gar theoretisch, was vermutlich teils so sein soll. Ich würde mir aber wünschen, dass sich der «Schweizer Monat» etwas mehr in die Praxis wagt. Und dass er sich vielleicht auch mal Themen widmet, von denen der typische «Schweizer Monat»-Leser selber nicht betroffen ist. Warum nicht eine Beilage über Altersarmut und -arbeitslosigkeit, Ausgesteuerte, Chancengleichheit (nicht in der Theorie, sondern in Dietikon), Stress am Arbeitsplatz, Lohndumping, das Armutsrisiko alleinerziehender Mütter, 55-Jährige ohne Jobaussichten, das Verschwinden von Kulturland, übermässigen Ressourcenkonsum, Umweltverschmutzung oder Infrastrukturstau? Die praktischen Antworten des Liberalismus auf solche und ähnlich gelagerte Fragen würden mich sehr interessieren.


David Fehr
ist Redaktionsleiter beim «PUNKTmagazin». Er lebt in Zürich.

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1048
Juli/August 2017

Von Lucia Waldner

Ich wünsche dem «Schweizer Monat», dass jede Ausgabe sichtbare Spuren der Neugier und Freude trägt, wie mein Exemplar der diesjährigen Sommerausgabe. Das Magazin war zwei Wochen lang stets an meiner Seite, sei es bei stressigen Zugfahrten oder beim entspannten Sonntagsfrühstück. Zu Beginn habe ich mich etwas vor dieser Lektüre gedrückt – die Titelseite mit dem vortragenden Timothy Garton Ash und dem Leitsatz «Jeder ist gefordert» versprach doch eher schweren Lesestoff, und von komplexen Themen ist mein beruflicher Alltag bereits ausreichend geprägt.

Was ich von einer «Autorenzeitschrift für Politik, Wirtschaft und Kultur» erwarte, ist, zum Nachdenken angeregt und in meinen (bewussten wie unbewussten) Vorurteilen herausgefordert zu werden, nach dem Lesen mehr zu wissen als davor und einen Genuss beim Lesen zu verspüren – sprachlich wie gedanklich. Mit dieser Erwartungshaltung ging ich also an die Sommer-Doppelausgabe heran.

Das Thema der Ausgabe – liberales Denken – ist hochaktuell, insbesondere seitdem liberale Gedankenmuster auf ganz neue, teilweise unerwartete Grenzen stossen. Somit ist mein erstes Kriterium erfüllt: das Leitthema ist relevant und anregend, ich sollte weiterlesen. Der Liberalismus wird aus unterschiedlichen Blickwinkeln und durch mehrere Generationen diskutiert – mein zweites Kriterium wäre somit ebenfalls erfüllt: es gibt etwas Neues zu lernen, ich möchte also weiterlesen.

Der erste, durchaus positive Eindruck über die Ausgabe kommt bereits beim Lesen des Inhaltsverzeichnisses auf Seite 3 auf – alle Artikel machen neugierig. Dank der kurzen, sehr gelungenen «Teaser» freue ich mich darauf, mehr zu erfahren, und kann mir ein gutes Bild der Ausgabe machen. Etwas verwirrend finde ich allerdings, dass das Inhaltsverzeichnis in unterschiedlichen Layouts, Farben und Schriften über mehrere Seiten fortgesetzt wird. Dabei irritiert, dass die Texte nicht in der gleichen Reihenfolge präsentiert werden, in der sie tatsächlich erscheinen.

Das einleitende Zitat von Goethe (Seite 7, online hier) finde ich grossartig und fühle mich gleich angesprochen. Ich stufe mich sofort in der dritten Lesergruppe ein, die «geniessend urteilt und urteilend geniesst». Etwas überraschend ist, dass dieser Gedanke nirgendwo im Editorial-Text weitergeführt wird. Insgesamt hätte ich vom Chefredakteur Michael Wiederstein einen etwas umfassenderen Text erwartet – über das Inhaltsverzeichnis hinaus fühle ich mich aus diesem Grund nicht besonders gut in die vorliegende Ausgabe eingeführt. Gleichzeitig finde ich die Erklärung der Ambition, «komplexe Sachverhalte nachvollziehbar [zu] machen», sehr sympathisch – es ist jedenfalls, gerade bei den ausgewählten Fragestellungen der vorliegenden Ausgabe, keine einfache Zielsetzung. Im Editorial hätte ich mir dennoch eine einleitende, Neugier erweckende Frage oder ein einfaches, anschauliches Faktum gewünscht. Oder zumindest eine Verbindung mit dem grossartigen Zitat Goethes.

Der Kurzbericht über Schweizer Föderalismus (Seite 8, online hier) präsentiert einen durchaus wichtigen Gedanken, auch wenn ich mir eine weniger verspielte Ausdrucksweise und einen weniger metaphorischen Abschluss wünschen würde. Der zweite Text auf der gleichen Seite berichtet über lebenslange Verwahrung mit sprachlicher Klarheit und einem lösungsorientierten Ansatz, was ich sehr schätze.

Im Doppelinterview auf den Seiten 14–17 (hier) finde ich viele der Fragen zu harmonisch. Viele der Antworten hätte man als Textbox zusammenfassen können (Mitgliederprofil, Fundraising), um im Interview auf die wirklich brennenden Fragen einzugehen – an diesen mangelt es ja nicht. Das Gespräch ist für mich in der Folge zu generell gehalten.

Auf Seite 27 bringt es Olivia Kühni auf den Punkt (online lesbar), auf den ich lange gewartet habe: Beim Liberalismus soll es nicht vorwiegend darum gehen, wie viel Staat es braucht. Denn staatliche Institutionen sind lediglich Instrumente einer Gesellschaft, um gemeinsame Entscheide umzusetzen und Konsequenzen daraus zu ziehen, wenn diese nicht respektiert werden. Der Artikel ist kurz und prägnant, es kommt Freude beim Lesen auf. Den persönlichen Einstieg kann man mehr oder weniger ansprechend finden.

Auf Seite 30 folgt ein wahres Highlight und der für mich persönlich wichtigste Text der Doppelausgabe: «Trommeln für die Freiheit» von Jobst Wagner. Es ist alles andere als trivial, genug Abstand von der eigenen Gesellschaft zu nehmen, um sie objektiv zu analysieren und gleichzeitig engagiert genug zu sein, um nach einer Lösung zu suchen und sogar ein Teil davon zu sein. Dieser Text ist eine zielgenaue Auseinandersetzung mit den Attitüden der Schweizer Gesellschaft, stellt genau die für die Zukunft wichtigsten Fragen und leitet mögliche Risiken ab. Enorm erfrischend, mit passenden Beispielen – anregend und auf eine sehr clevere Art «objektiv urteilend». Ein wirklicher Genuss.

Auf Seite 36 ist «Ein Glas Wein mit Beat W. Schweizer» spannend geschrieben und schafft es, sowohl Inhalte als auch eine interessante Persönlichkeit zu vermitteln. Eine Pause von gesellschaftlichen Themen tut an dieser Stelle gut.

Ab Seite 38 folgt eine Reportage über die diesjährige Documenta-Ausstellung (hier). Obwohl der Text linguistisch sehr viel Spass macht, hätte ich mir eine klarere Hilfestellung bei der Beurteilung der ausgestellten Werke gewünscht. Den deskriptiven – oft unterhaltsam pragmatischen – Teil habe ich genossen, die Werke selbst werden jedoch zu wenig in den aktuellen Kontext der jeweiligen Kunstszene gesetzt und Urteile sind sehr offen und vage. Vermisst habe ich eine mehr greifbare Berichterstattung zu den Doppelarbeiten der Künstler, die ihre Werke sowohl in Athen als auch in Kassel präsentierten. Verwirrt war ich auch über das begleitende Bild eines Kunstwerks, dessen Schöpfer weder im Text erwähnt noch sein zweites Werk gezeigt wird.

Als Politologin war ich auf den Text zur neuen Weltordnung (ab Seite 46) besonders gespannt, konnte aber bereits auf der ersten Seite kaum feststellen, wo mich der Autor hinführen möchte. «Übersicht, Klarheit und Ruhe» waren noch nie ein Bestandteil menschlicher Gesellschaften; weitere gedankliche Widersprüche folgen. Der Bericht über Machtverhältnisse im 21. Jahrhundert (hier) fasst (auch wenn etwas einseitig aus der europäischen Sicht) die heutige Lage zwischen den wichtigsten Wirtschaften der Welt umfassend zusammen. Neben der geschätzten, gründlichen Recherche und den vorsichtigen Formulierungen warte ich bis ans Ende auf originelle Ideen und mutige Ansätze, die mich zum Nachdenken oder sogar zum Protest – kurzgefasst, zu einer Reaktion – motivieren würden. Eine Grafik oder das Einbauen konkreter Zahlen würde den Text anschaulicher machen.

Auf Seite 56 (online hier) folgt ein interessanter Bericht über Globalisierung, der noch mehr als andere Texte nach einer Illustration oder zumindest nach einigen klaren Zahlen ruft. Die These ist spannend, wirkt aber ohne unterstützende Daten etwas schwach.

Ab Seite 58 folgt das aus meiner Sicht zweite Highlight der Ausgabe. Michael Wiederstein stellt eine Reihe wirklich interessanter Fragen an Timothy Garton Ash, der ausgesprochen spannende Antworten gibt. Das Interview ist ein intellektueller Genuss, deckt viele aktuelle Themen ab und traut sich, heikle Themen auszusprechen. Ein langer Text, der sich jedoch gar nicht so lange anfühlt und in dem jede einzelne Zeile wertvoll ist.

Zum Ende zwei Bemerkungen: Eine Zeitschrift wie «Schweizer Monat» ist schon fast ein Luxusgut, ein Statussymbol. Leser möchten daraus zitieren, Weitsicht und spannende Ideen schöpfen. Dementsprechend würde ich neben den vielen weitgehend deskriptiven Inhalten verstärkt auch auf neue Erkenntnisse achten, seien es mutigere Schlussfolgerungen oder neue Zusammenhänge. Die vielen Porträtbilder könnte man mit interessanten Grafiken oder sonstigen Illustrationen ergänzen, um die Aussagen der Texte zu unterstützen. Und schliesslich: Es müsste heutzutage möglich sein, dass mehr als nur einige vereinzelte Frauen pro Ausgabe etwas zu sagen haben.


 

Lucia Waldner
ist Leiterin des Credit Suisse Research Institute, des internen Think Tank der Credit Suisse Group. Darüber hinaus ist sie Mitglied des Teams des Verwaltungsratspräsidenten und zeichnet dort als Director for Innovation verantwortlich.

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1047
 Juni 2017

Von Manuela Stier

Haptik

Ansprechend, warm, wertig. 

Design

Modern, zeitlos, ansprechend. Ein klares Corporate Design, das professionell und vertrauensvoll wirkt. 

Typografie

Nicht alle Texte sind gut lesbar, denn viele sind einfach in einer zu kleinen Schriftart, besonders Bildunterzeilen. Manchmal fehlt die visuelle Spannung, dann etwa, wenn eine Doppelseite beinahe nur mit Text bestückt ist. Und bei den Zitaten fällt einem ab und an die Orientierung schwer: was ist die Headline, was das Statement? 

Bilder

Die grossen, ansprechenden Bilder gefallen mir gut. Von vielen Autoren fehlen jedoch die Bilder – gerade bei Kolumnen sind diese meines Erachtens unverzichtbar. 

Werbung

Nur sehr wenig Werbung, das macht das Magazin aus Lesersicht wertvoll. 

Bild / Text

Einige Seiten wirken zu überladen, es fehlt der Weissraum. Habt den Mut, mit etwas mehr Freiraum zu gestalten! 

Präsentation der Inhalte

Die drei Seiten Inhaltsverzeichnis sollten auf zwei Seiten reduziert werden. Die Informationen «Aus der Redaktion» auf Seite 5 stellt man besser zu den Texten.

Das Interview mit Dina Pomeranz finde ich gut – es ist toll, wenn junge Ökonominnen eingebunden werden.

«Ein Glas Wein mit…» wirkt wie eine Werberubrik – wieso verkauft man sie nicht gleich als Werbung? Die gezeichnete Illustration empfinde ich als Stilbruch. Ich würde das Foto der Person eher in einem Kreis darstellen.

Die Fotoreportage «Nach Mossul» hat mir sehr gut gefallen. Das ist eine spannende Reportage mit eindrücklichen Bildern, die auch visuell gut gestaltet ist. Auch hier fehlt mir das Foto des Fotografen.

Das Fokusthema «Bye-bye Babyboomers» ist eine ausgezeichnete Wahl: ein Thema, das alle Schweizer Bürger ansprechen sollte und ihnen zugänglich gemacht werden sollte. Unklar ist mir allerdings, weshalb dieses Fokusthema «Dossier» heissen muss (auch auf der Titelseite). Das Thema müsste vielmehr wie ein roter Faden durch das Blatt gehen.

Im Interview von Michael Wiederstein und Daniel Müller-Jentsch mit Michael Hermann würde ich gerne wissen, wer von den beiden Fragenden welche Frage gestellt hat.

Bei der Rubrik «Nacht des Monats» habe ich das Konzept nicht verstanden. Weshalb kommt sie hier, was ist das überhaupt? 

Generell zum «Schweizer Monat»

Ich erachte diese Publikation als enorm wichtig für die Schweiz, gerade für die jüngere Generation. Selten werden solch komplexe Themen einfach und verständlich dargestellt. Alles in allem überzeugt sie mich, Kompliment!

Ich würde allerdings mehr Unternehmer als Interviewpartner einbinden. Die Schweizer Wirtschaft kann so einer breiteren Dialoggruppe sichtbar gemacht werden, was bei Abstimmungen zu mehr Verständnis für die Anliegen der Wirtschaft, der Ökonomie führen wird.

Und weshalb machen sich die Unternehmer, die hinter dem Magazin stehen, nicht noch etwas transparenter? Ich meine, es ist ein Vorteil dieses Magazins, dass es so eine lange Tradition hat und eine eher etwas besondere Eigentümerschaft. Der «Schweizer Monat» würde davon profitieren, diese Punkte im Heft und auf der Website noch etwas transparenter darzulegen.


Manuela Stier
ist Inhaberin und Geschäftsführerin von Stier Communications AG sowie Initiantin und Geschäftsführerin des Fördervereins für Kinder mit seltenen Krankheiten.

 

 

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1046
Mai 2017

Von Sven Millischer

Gesichtspunkte für die Lektüre/Blattkritik

Prämisse I
Das Wesen einer Monatszeitschrift: Man muss sie nicht lesen, aber man möchte sie lesen. Sprich: Es geht um informativen, geistreichen Lesegenuss. Kür statt Pflicht. Verführung anstatt trockene Kost.

Prämisse II
Aus der Rezeptionsforschung, zum Beispiel von Readerscan, ist bekannt, dass Leser intuitiv und innert weniger Millisekunden über Sein oder Nichtsein eines Artikels entscheiden. Egal, ob NZZ oder «Blick», «Bild» oder FAZ, die Auslese erfolgt stets nach demselben Muster: Bild, Titel und/oder Bildunterzeile, Lead, Texteinstieg.

Prämisse III
Ergebnisse aus der Hirnforschung beziehungsweise dem Neuromarketing zeigen eindeutig: Menschen interessieren sich in erster Linie für Menschen oder für emotional aufgeladene Gegenstände; unser Hirn speichert Informationen nur in Kombination mit Emotionen verlässlich und replizierbar ab. Kurz: nur Texte, die berühren, bleiben haften.

Schlussfolgerung
Die sprachlich-visuelle-emotionale Verpackung ist mindestens ebenso wichtig wie die zu vermittelnde Information in journalistischen Texten.

Unter diesen Gesichtspunkten habe ich den «Schweizer Monat» gelesen.

Titelbild / Front

Auf dem Titelbild ein gutes, ausdrucksstarkes, überraschendes Porträt von Jeremy Rifkin. Bei mir tauchen Erinnerungen an die Anfänge der Fotografie auf.

Dagegen finde ich die Titelzeile «Revolution auf dem Energiemarkt» ziemlich einfallslos. Der Begriff der «Revolution» wird inflationär gebraucht, der Begriff «Energiemarkt» ist sperrig, wenig griffig, zu abstrakt – das verspricht nur wenig Lesegenuss. Der Titel ist das Verkaufsargument für den «Schweizer Monat», also seine wichtigste Verkaufsauslage. Entsprechend ist es wichtig, eine hohe Sorgfalt walten zu lassen. Der Lead ist passabel, aber meines Erachtens zu packend für die Front.

Fazit: ihr seid ein Monatsmagazin, also müsst ihr eure Leser jeden Monat von eurem Produkt wieder neu überzeugen. Macht also ein zwingendes Verkaufsangebot. Lockt mich. Spielt mit mir als Leser. Überrascht mich.

Inhaltangabe(n)

Seite 3 (Inhalt) finde ich schlecht: kalt, nicht ansprechend, lieblos. Es fehlen die Bilder, der Esprit.

Seite 4 (In dieser Ausgabe) finde ich gut: Menschen schauen mich an, sie sprechen zu mir als Leser in ihren Zitaten. Das ist ein Hingucker!

Von der Idee her prima ist Seite 5 (Aus der Redaktion): sie schafft Leserbindung zur Redaktion, ermöglicht einen Blick in die Werkstatt. Dennoch sind es keine Texte, die auf Tuchfühlung mit den Redaktoren gehen, keine Aperçus oder Beobachtungen. Ich plädiere dafür, das entweder zu ändern oder abzuschaffen…

Alles in allem sind es zu viele verschiedene Einstiege – das verwirrt den Leser eher, als es ihm nützt.

Seite 7 – Intro

Ist es ein Intro, ist es ein Editorial, ist es eine Kolumne? Ich erwartete eigentlich einen Text, der auf ein Schwerpunktthema des Blattes eingeht. Erhalten habe ich aber eher eine freischwebende Meditation über den Subventionsstaat mit einem gelungenen, knackigen Einstieg. Vielleicht muss man das Konzept des Intros überdenken. Mir ist es zu wenig auf das aktuelle Blatt bezogen, zu beliebig, zu wenig aktuell.

Seite 8 – Kolumnen

Ich habe die journalistische Definition nachgeschlagen: Eine Kolumne ist ein meinungsbildender Text, klar identifizierbar, auch im Stil pointiert, ungefiltert, auf den Punkt, vielleicht polemisch, vielleicht satirisch, gepaart mit sprachlicher Könnerschaft. Meines Erachtens lösen das beide Autoren nicht wirklich ein. Für meinen Geschmack und auch für ein «genussvolles» Monatsmagazin sind sie zu wenig überraschend und zu wenig stilistisch brillant. Und es fehlen die Bilder der beiden: Ich will diese Personen auf einem Foto sehen oder zumindest in einer Zeichnung. Kolumnisten sind schliesslich irgendwie herausragende Köpfe…

Thematischer Schwerpunkt – Revolution im Strommarkt

Grundsätzlich: aktueller, passender, guter Schwerpunkt zu einem fundamentalen Thema, das die Debatte hierzulande noch auf Jahrzehnte hinaus prägen wird – gut!

Visuell: Strom oder Energiethemen zu bebildern ist und bleibt eine Knacknuss. Es gibt keine wirklich guten Lösungen, nur weniger schlechte. Das Bild jedoch zu «Revolution im Strommarkt» überzeugt mich nicht: eine Badeszene im trüben Island ist nun wahrlich keine Revolution. Als Leser werde ich hier definitiv nicht angeregt, mich der «Revolution im Strommarkt» zu widmen. Mir fällt auf, dass der «Monat» häufig mit verkopften Bildern arbeitet, die sich erst aus dem Kontext erschliessen und keine bzw. wenig Emotionen transportieren. Das ist meines Erachtens ein falscher Ansatz, um den Leser überhaupt in eine Lektüresituation zu bekommen.

Seite 12 ff. – Jeremy Rifkin zu den Nullgrenzkosten…

Ein wichtiger und tiefgreifender Text, der in eine Monatszeitschrift gehört. Ich habe ihn gerne und mit Gewinn gelesen. Eigentlich ist es ein «Best of…» von Rifkins Denken, es erinnerte mich an ein früheres Buch von ihm. Prima! Allerdings ist der Text mit einem schwachen Bild von Rifkin aus irgendeiner Veranstaltung schlecht verkauft. Ausserdem: es fehlen die Infografiken! Ein Text mit dieser Zahlenfülle und diesem Material schreit nach Infografiken.

Das Zitat passt leider überhaupt nicht. Es müsste sich um eine geistige Quintessenz von Rifkin handeln. Und nicht um ein Faktum wie «Deutschland erzeugt bereits 32 Prozent des Stroms aus erneuerbaren Energien…». Das kann ich auch in der Energiestatistik nachlesen.

Denkt systemisch!  Seite 18 ff. / vor allem 20 / 21 und fortfolgende Infografikseiten

Der Titel «Denkt systemisch!» erschliesst sich für mich nicht. Auch nach Lektüreschluss nicht. Der Einstieg in den Text ist gut: «Am Anfang war das Abenteuer» – da hat mich der Autor schon als Leser, da will ich mehr wissen. Der Text ist eine gelungene, historische Hinführung, jedoch verliert mich der Autor ab der Seite 20/21 wieder, denn sein Text wird in einer Bleiwüste angezeigt, ohne Chance für alternative Lese- oder Einstiegsmöglichkeiten.

Dieser Text ist meines Erachtens journalistisch falsch strukturiert. Die eigentliche «News» – der neue Ansatz – ist im letzten Abschnitt begraben. Ich würde sehr gerne mehr über das brasilianische Marktmodell erfahren. Funktioniert es? Hat es sich bewährt? Wer hat es entwickelt? Welche Folgen zeitigt es?

Die Grafiken würden sehr viel besser zur Geltung kommen, wenn sie nicht geballt, sondern verteilt eingefügt würden.

Am Tropf – Seite 26 ff.

Den szenischen Einstieg begrüsse ich, bitte mehr solche Elemente! Warum der Autor aber mit «Bitsch, 24. März, 14.30 Uhr» einsteigt, erschliesst sich mir als Leser nicht. Die Uhrzeit ist irrelevant, der «gelbe Helm» ebenfalls. Hier wünsche ich mir Haptisches, mehr Körperlichkeit, mehr Emotionen, «meh Dräck»! Ist es feucht? Tropft es von den Wänden? Friert der Autor? Hat er Schutt an den Schuhen? Auch bei der Begegnung mit Nationalrat Ruppen im Restaurant in Brig will ich wissen: Wie sieht der aus? Wie redet er? Was bestellt er? Menschen wollen über Menschen lesen und nebenher noch Informationen erfahren. Zum Schluss wird der reportageartige Ansatz mit den verschiedenen Szenen wieder aufgehoben. Der Text endet mit einem Fazit mit Gegenquote. Schade. Bitte hier konsequenter und mutiger sein! Der Ansatz mit dem Wallis ist richtig und wichtig, sollte sich dann aber nicht in Allgemeinplätzen und Allgemeindiskussionen verlieren, sondern eine echte Reportage sein.

Zurück an den Absender – Seite 31 ff.

Auch wenn ich gegenteiliger Meinung bin, überzeugt mich dieser Kommentar. Das ist solides und fundiertes Kommentarhandwerk inklusive eines guten Einstiegs.

Black-out bei den Liberalen – Seite 34 ff.

Dieser Kommentar dagegen überzeugt mich überhaupt nicht, ich finde ihn überflüssig:

  1. Warum nochmals ein Kommentar mit gleicher Stossrichtung?
  2. Warum ein Kommentar, der offensichtlich nichts neu Erhellendes bringt? «Grosse Energieversorger wie Axpo oder Alpiq drohen zu marktfernen Holdings in Staatshand zu werden» – waren sie das nicht schon immer?
  3. Ehrlich gesagt: dieser ordnungspolitische Sermon ist wenig inspiriert und ziemlich langweilig!


Herausgepickt
– Seite 36

Titel, Lead und Einstieg überzeugen als Gesamtpaket. Mir fehlt aber hier eine Info-Box mit einer Begriffsdefinition des Begriffs «Racial Profiling». Hier frage ich mich nur: Weshalb kommt das Thema in dieser Ausgabe, was ist der aktuelle Anlass?

Helden der Arbeit / Ein Glas Wein mit… – Seite 40

Mein Lieblingsgefäss im «Schweizer Monat»! Meist süffig geschrieben wie ein edler Tropfen, und ich erfahre etwas über einen Menschen, und dabei noch viel mehr über ein mir meist unbekanntes Business. Es ist auch in diesem Fall liebevoll geschrieben («mein alter Schulkollege»), informativ-unterhaltsam, kurzweilig und sehr nahe am Menschen. Prima! Nur etwas stört mich: Der Name der Rubrik sollte entweder «Helden der Arbeit» oder «Ein Glas Wein mit…» heissen. Beides zusammen geht nicht.

Werte / Wortwechsel … Seite 41

Für mich ein Text ohne Erkenntnisgewinn. Einziger Lichtblick: Musste googeln, was ein Papet vaudois ist. Scheint ein leckeres Waadtländer Gericht zu sein…

Kurzes Fazit

Als Leser sehe ich eine grosse, positive Entwicklung im «Schweizer Monat». Es geht weg von schwurbeligen Elfenbeinturm-Texten und hin zu aktuellen Debattenbeiträgen wie Rifkin-Text und magazinartigen Formaten wie «Ein Glas Wein mit…». Verbesserungsbedarf sehe ich weniger in der journalistischen Themenwahl oder im informativen Inhalt der Texte als in der Verpackung (Bildauswahl, Infografiken, Spracharbeit). Hier besteht noch Luft nach oben. Die Richtung aber stimmt!


Sven Millischer
ist Co-Leiter Unternehmen & Politik bei der «Handelszeitung».

 

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1045
April 2017

Von Peter Hartmeier

1. Ausgangslage / Kriterien der Blattkritik

Wenn ich diese Publikation lese, will ich mit neuen Gedanken, mit bisher unbekannten Ideen und überraschenden Einfällen konfrontiert werden. Da das Heft in der Unterzeile als «Autorenzeitschrift» firmiert, will ich starken, eigenständigen publizistischen Persönlichkeiten begegnen. Für eine Leistung, die diesen Kriterien entspricht, bin ich bereit, 22 Franken zu zahlen.

2. Titel

Es werden zwei Themen angekündigt: «Frankreich im Land des ständigen Ausnahmezustandes» und «Technologien, die Machtverhältnisse verändern». Die Schlagzeile zu Frankreich verheisst keine neuen Erkenntnisse; die Schlagzeile zu «Technologien» stösst intuitiv auf mein Interesse; sofort vergleiche ich die «Schweizer-Monat»-Titelgeschichte mit jener des «Spiegel», der in der gleichen Woche die gesellschaftspolitischen Auswirkungen der Digitalisierung untersucht. Das Bild vom über die Drohne staunenden Konrad Hummler ist auf den zweiten Blick amüsant und löst Nachdenklichkeit aus; allerdings muss man es genauer anschauen, um die Botschaft zu erkennen. Für eine Publikation, die nicht am Kiosk in Sekundenschnelle den Käufer überzeugen muss, spielt das möglicherweise keine Rolle. Als verfehlt beurteile ich die Titelschlagzeile «Ausser Kontrolle?». Vom «Schweizer Monat» erwarte ich keine Fragezeichen, sondern Antworten. (Fragen, auf die ich keine Antwort weiss, habe ich selbst genug.)

3. Inhaltsverzeichnis, Seiten 4/5

Falls die Redaktion gemäss den Kriterien der Leserführung die Themenwahl erleichtern möchte, ist die so gestaltete Doppelseite unbrauchbar. Sie ist graphisch attraktiv, aber nicht sehr hilfreich (zum Beispiel zu grosse Seitenzahlen statt Titel und viel zu lange Texte). Der Leser beginnt dann halt selbst zu blättern und zu suchen, was ihn interessiert.

4. Intro (Editorial), Seite 7

Der Chefredaktor widmet sich dem grossen Thema «Freiheit» und stellt ein originelles Zitat von Wilhelm Busch an die Spitze. Das klug ausgewählte Zitat bleibt aber alleine und es wird kein Bezug darauf genommen; stattdessen erzählt der Autor von seinen Armee-Erlebnissen und der dort beobachteten Freiheitseinschränkung. Diesen Gedanken habe ich schon öfter gelesen. Der zweitletzte Abschnitt hingegen ist herausfordernd: Er regt zum Denken an – aus diesen sieben Zeilen hätte man das Editorial entwickeln sollen.

5. Freie Sicht / Res publica, Seite 8

Auch persönlich verfasste Kolumnen und Kommentare müssen mit den Autoren diskutiert werden – entweder bevor sie zu schreiben beginnen oder dann im Nachhinein, wenn die erste Fassung vorliegt: Nadine Jürgensens stilistisch munter daherplätschernder Text ist ein solches Beispiel – gerade weil sie eine durchaus originelle These vertritt: Sie müsste aber härter, präziser und konkreter ausgeführt werden. Die Autorin dürfte nämlich mit ihrem Plädoyer gegen reine Männerrunden bei Podiumsgesprächen, Talkshows etc. bei vielen Moderatoren auf offene Ohren stossen. (Ich weiss, wovon ich spreche!)

6. Frankreich, Seiten 10–24

Köstliche Doppelseite mit einfallsreichem Titel, blauem Himmel und gallischem Hahn. Allerdings lockt der Lead nicht unbedingt zum Lesen: ich erwarte vom «Schweizer Monat» gemäss meinem Kriterium der Blattkritik keinen beschreibenden Nachrichtentext («verschreckt, ängstlich, orientierungslos»), sondern die Ankündigung einer These, einer Interpretation, einer prononcierten Meinung. – Das graphische Stilmittel (lange kursiv gedruckte Bildlegenden mit persönlichen Eindrücken des Autors) halte ich für problematisch: ich vermute, dass der Leser gar nicht einsteigt oder bald wieder aussteigt – was schade ist: die kleinen Texte sind Highlights, sprachlich und inhaltlich; sie vermitteln Denkanstösse (z.B.: Chambre d’hôte ohne Schlüssel; französische Steuerämter, die den Bürger beraten, damit er keinen Cent zu viel zahlt; die kühne Behauptung, Merkel und Schulz würden sich kaum unterscheiden). Der Autor bringt eine Fülle von Fakten: der Leser merkt sofort, dass Ronnie Grob Frankreich kennt. Aufgrund dieser offensichtlichen Kenntnisse des Autors erwarte ich eine etwas präzisere Fragestellung mit einer entsprechenden Antwort; Vorschläge: «Warum tut sich Frankreich so schwer mit der Wirtschaft – lieber ein hoher Staatsposten als Manager in einem Unternehmen? Woher kommt das Misstrauen gegen Marktmechanismen? Gibt es einen Zusammenhang zwischen Rückgang der Wichtigkeit der französischen Kultur und Sprache und der wirtschaftlichen Konkurrenzfähigkeit? Gibt es eine französische Schizophrenie: sie hassen den Staat und liefern sich ihm gleichzeitig aus?» Die Analyse des Ökonomieprofessors Jean-Marc Daniel beurteile ich eher kritisch – viele interessante Fakten, die wir zum Teil aber schon kennen («Kurzfristig müssen wir die öffentlichen Ausgaben reduzieren»), statt einer grundsätzlichen Fragestellung mit einer entsprechenden Antwort. Beispiele: «Warum tut sich Frankreich, als ehemalige Kolonialmacht, so schwer, sich konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt zu behaupten? Was stimmt mit der französischen Wirtschaft nicht? Liegt es an den traditionellen Eliteschulen wie ENA und Science Po, die weder mit Harvard, mit London School of Economics noch mit unserer HSG konkurrieren können? Oder liegt es an der Sprachunfähigkeit der Franzosen: sie können nur Französisch sprechen, fühlen sich nur in ihrer Kultur sicher und verpassen entsprechend die Globalisierung der Wirtschaft?»

7. Whistleblowing, Seiten 25–33

Durchaus interessantes Interview mit der Spezialistin Zora Ledergerber; die wichtigen Fragen werden gestellt, mit einer Ausnahme: Die Versuchung, Indiskretionen, vertrauliche Informationen, über Social Media bekanntzumachen, statt über Journalisten der traditionellen Medien, ist enorm gross geworden: was bedeutet das? – Anregung: Um dem Beitrag mehr Spannung zu verleihen, sollte man eine solche Spezialistin mit einem dafür Verantwortlichen in einem grossen Unternehmens konfrontieren: Wie geht ein Unternehmen in der Praxis mit den Forderungen und Erkenntnissen der Spezialistin um? – Das Bild von Frau Ledergerber ist, vermute ich, ein Archivbild – durchaus geeignet für ein CV, aber nicht für ein Interview, vor allem nicht in dieser Grösse: zu harmlos, ohne Spannung angesichts der Fragestellungen. Optik und Text müssen sich in einem Printmedium ergänzen. – Der Beitrag von Eric-Serge Jeannet hat interessante Passagen; er würde deshalb durch Kürzungen an Prägnanz und Aussagekraft gewinnen.

8. Ein Glas Wein mit…, Seite 34

Angenehm zu lesender, überraschender Text. Doch auch ein Printmedium sollte nützlich sein: Bei welcher Adresse kann ich diesen Wein aus dem Kanton Glarus bestellen?

9. Wortwechsel, Seite 35

Ich bleibe etwas ratlos, was die Autorin mir eigentlich sagen will. Der Schlusssatz ist entlarvend: «Darüber indes kann man streiten.» Muss ich, um zu dieser Erkenntnis zu kommen, eine Kolumne lesen?

10. Kultur: «Am Rande des Schwarms», Seiten 36– 49

Für mich ist dieser Text eine Entdeckung – blattmacherisch und graphisch wunderbar aufgemacht. Deshalb machen Printpublikationen auch im Jahre 2017 Freude!

11. Macht – Wie die Digitalisierung Geld und Einfluss neu verteilt, Seiten 51–87

Hervorragend gewähltes Thema, insgesamt gut gelöst, und auch zum richtigen Zeitpunkt veröffentlicht. Schwachpunkt ist die Eröffnung: es darf nicht sein, dass diese gescheite Redaktion, bestehend aus gutinformierten Menschen, von denen ich etwas lernen will, mir ein nichtssagendes Zitat eines Schweizer Managers voranstellt. Digitalisierung ist ein Weltthema: bedeutende Köpfe auf der ganzen Welt haben Bedeutendes dazu gesagt. Stark sind die Texte von Adrienne Fichter und Hannes Grassegger, von denen ich etwas lernen kann. Sprachlich vergnüge ich mich an Konrad Hummler: Der Mann kann einfach schreiben. Ich halte vortrefflich formulierte Beiträge im «Schweizer Monat» für essentiell. Für mich enthielt der Aufsatz von Christian Jaag Neuigkeiten: Das Kriterium, Neues zu lernen und Zusammenhänge erklärt zu bekommen, ist ein Grund, diese Publikation zu lesen. Zu Linda Liukas: die kecke Photographie der Autorin dürfte dazu führen, dass der Beitrag überdurchschnittlich gelesen wird. Extrem nützlich ist das Plädoyer von Alain Gut, weshalb Informatik in die Schulen gehört. Bis zu Lektüre dieses Textes war ich einfach intuitiv dafür – jetzt weiss ich auch noch, warum: klare These, klare Begründung, geschrieben in einer nachvollziehbaren Sprache – so muss der «Schweizer Monat» sein.

12. Nacht des Monats Seite 88

Als Mensch, der gerne isst und trinkt, ein Text für mich.


Peter Hartmeier
ist Partner/Co-Owner von Lemongrass Communications AG in Zürich. Von 2002 bis 2009 war er Chefredaktor des «Tages-Anzeigers».

 

Schweizer Monat / Ausgabe 1044
März 2017

Von Edith Hollenstein

Das Hauptthema mit dem Titel «Viel Arbeit» finde ich sehr ansprechend. Die Frage nach den Auswirkungen der vierten Industriellen Revolution und ob damit extrem viele Jobs verloren gehen und Arbeitslosigkeit droht oder nicht, ist aktuell. Für mich überraschend kommt die Information im Anriss: Bis 2030 fehlen rund eine halbe Million Arbeitskräfte? Ich hätte spontan eher das Gegenteil erwartet… Das klingt spannend und interessiert mich; deshalb lese ich denn auch dieses Interview auf den Seiten 66 und 67 als erstes. Mir fällt das ansprechende Layout auf, das grosse Bild von Burth Tschudi gefällt mir gut, der Titel im Kontext zum gut formulierten Lead ist ansprechend.

Das Interview selbst hat an einigen Stellen etwas Luft. Meines Erachtens weist es Stellen auf, die man besser hätte redigieren können. Formulierungen wie «Umwälzungen und Veränderungen», «richtige Weiterbildung aktiv fördern und fordern» kann man kürzen. Auch die Fragen sind mir teilweise zu lang und zu umständlich formuliert; mir werden auch zu viele Bezüge zu Studien gemacht. Der Rhythmus des Gesprächs, also der Wechsel zwischen konkreter und System-Ebene und zwischen langen und kurzen Fragen und Antworten, gefällt mir jedoch gut. Das Gespräch hat einen erkennbaren roten Faden und einen guten Spannungsbogen. Bei den Textboxen daneben habe ich mich gefragt, warum hier die Interviewform (Frage/Antwort) gewählt wurde.

Anschliessend an das Titelthema habe ich das Dossier hinten im Heft durchgeblättert, ohne aus spontanem Interesse mit Lesen zu beginnen – worauf ich wieder beim Inhaltsverzeichnis und dann bei der Kolumne «Res publica» von Nadine Jürgensen gelandet bin. Sowohl die Kurzbiographie der Autorin als auch das Thema «Engagement in der Arbeitswelt» sprechen mich spontan sehr an. Die Kolumne ist sehr gut geschrieben und auch konkret. Einen Satz allerdings habe ich nicht verstanden: «Oder wollen wir, dass der Einsatz der Eltern künftig ausschliesslich von (schlechter bezahlten) Dritten ersetzt wird, damit ja keine Arbeitskraft verloren geht?» Nach mehrfachem Lesen ist mir noch immer nicht ganz klar, wen die Autorin mit den «schlechter bezahlten Dritten» meint und welchen Einsatz sie anspricht. Als Anregung wäre es allenfalls gut, mit einem anderen Satz einzusteigen, so dass der Leser sofort und unmittelbar im Thema drin ist und neugierig wird auf das, was folgt. Aus meiner Sicht hätten sich «krankes Kind im voraus planen» oder auch «engagierte Bürger sind meist auch engagierte Mitarbeiter» als Einstieg besser geeignet.

Als besonderen Fokus meiner Kritik untersuchte ich die Texteinstiege. Dabei habe ich alle Einstiegssätze der insgesamt 17 Artikel markiert und in folgende vier Kategorien eingeteilt (1 steht für «weniger ansprechend», 4 für «sehr ansprechend»):

4 – sehr ansprechende Texteinstiege: 2 («Ein Glas Wein mit Sven Mumenthaler», S. 34, und «Das dreifache Ende der Kunst», S. 44)
3 – ansprechende Texteinstiege: 5
2 – neutrale Texteinstiege: 5
1 – weniger ansprechende Texteinstiege: 5

Das Exemplar mit den markierten und kategorisierten Stellen steht der Redaktion zur Verfügung.

Aus meiner Sicht ist es wichtig, dass der erste Satz eines Texts den Leser direkt ins Thema, in das Geschehen hineinversetzt. Dies geschieht am leichtesten über einen konkreten, kurzen Satz. Idealerweise verblüfft er den Leser. Auch bei Interviews ist die erste Frage sehr wichtig.

Positiv aufgefallen sind mir die Anrisse in der Inhaltsübersicht auf Seite 5. Formulierungen wie «traf eine debattierfreudige Ökonomin» oder «beim gemeinsamen Mittagessen» schaffen Nähe zum Autor, zum Thema, zum Interviewten. Etwas irritiert hingegen war ich über die Formulierung «eine gut vorbereitete Ökonomin», denn meiner Meinung nach würde niemand von einem männlichen Interviewpartner explizit erwähnen, dass er gut vorbereitet war.

Weiter positiv aufgefallen ist mir das Format «Fehlerkultur» auf der letzten Seite. Es zeigt die Absicht der Redaktion, selbstkritisch mit den Lesern im Dialog sein zu wollen.


Edith Hollenstein
ist Redaktionsleiterin von Persoenlich.com.

Schweizer Monat / Ausgabe 1043
Februar 2017

Von Gaudenz Looser

 Vorbemerkung: Meine Blattkritik ist subjektiv, unmittelbar meinen Reaktionen während der Lektüre folgend. Ich bin der Meinung, so bringe sie der Redaktion am meisten – als ein authentisches Bild über die Wahrnehmung ihres Produktes durch einen ihrer Leser. Wenn die Redaktion am Ende darüber erleichtert ist, dass sie das Blatt machen und nicht ich, kann ich damit gut leben.

Ich stelle mir die Zielgruppe des «Schweizer Monats» wie folgt vor: gebildet, mit hoher wirtschaftlicher Potenz, wahrscheinlich schon seit Generationen Schweizer. Wichtiger: sie ist sehr gut informiert, geizig mit ihrer Zeit, schnell in ihrer Entscheidung, hart im Urteil.

Was will ein Angebot für diese Zielgruppe? Ich glaube:

  1. erstklassige Hintergrundinformation (Fakten)
  2. Denkanstösse auf höchstem Niveau (Meinung)
  3. elitäre Zerstreuung (Unterhaltung).

 

Der Themenüberblick vor der Lektüre
Aus der Sicht der von mir imaginierten Zielgruppe ist der Themenmix der Februarausgabe wenig überraschend, aber durchaus attraktiv: Intelligentes zum – nach wie vor grossteils rätselhaften – Thema Negativzinsen (Hoffmann/Schnabl; Geiger) ist hochwillkommen. Selbiges gilt für die SVP-Initiative (Saxer). Die Investmentgeschichte (Grob) sollte mal besser Hand und Fuss haben, die Zielgruppe ist da schliesslich zu Hause. Einen wirklich überraschenden Blick auf die Welt verspricht Roser (da habe ich allerdings schon auf Twitter nachgeschaut). Die Hochschulgeschichte (Dossier) bleibt rätselhaft, Longchamp (Nacht des Monats) müsste nicht sein.

DETAILS ZU DEN INHALTEN

Intro des Chefredaktors (Wiederstein)
Das Zitat als Parole des liberalen Geistes ist richtig und wichtig, das Lamento über den Niedergang der Eigenverantwortung für die Freiheit aber ein Abturner. Und: brauchen die (liberalen) Abonnenten wirklich diese ständige Selbstbestätigung? Mein Verdacht: der erste Absatz und das Zitat sind reine Warmschreiber. Die Substanz kommt ab dem zweiten Abschnitt, die Argumentationslinie ist aber leider nur summarisch skizziert: Da hätte ich gerne mehr gelesen. In Abschnitt drei kommt dann der langersehnte Pfeffer: Der Chefredaktor teilt aus, verteilt Prädikate und malt einen gewaltigen Gesellschaftskonflikt an die Wand – wow, das will ich lesen! (Bloss: Im richtigen Leben wäre ich beim zweiten Satz ausgestiegen).

Schwerpunkt Negativzins
Beim Text über die EZB (Hoffmann / Schnabl) wird das Produktversprechen uneingeschränkt eingelöst: Der Text ist von A bis Z dicht, strotzt von spannenden Fakten und – für mich – neuen Perspektiven auf das Thema und regt zum Denken an. Die explosiven Thesen kommen aber trotz drei Inhaltsverzeichnissen und einem Intro sehr überraschend. Auch Geiger ist erstklassig – man sollte seinen Input dringend vertiefen. Die alternativen Investments sind intelligente Unterhaltung – stellenweise vielleicht etwas zu subjektiv und für Menschen, die das Problem wirklich haben, etwas zu leicht.

Interview Max Roser (Kühni)
Grossartiger Einstiegssatz: «Es ist, als würde er täglich ein Licht anzünden.» Das bringt es sofort auf den Punkt: So will ich lesen. Das Interview liest sich fabelhaft, auch hier gilt: Über diesen Mann sollte man noch viel mehr schreiben. Optisch kommen mir aber sein Werk, die Grafiken, viel zu klein, das steinerne Oxford und die Bücherwürmerei viel zu gross raus – der mutmasslich angestrebte Kontrast kommt nicht zum Tragen. Und: auch hier sind die szenischen Informationen über die Autorin für die Geschichte nicht wesentlich.

Essay von Urs Saxer (Selbstbestimmungsinitiative)
Eine spannende Argumentation, Saxer scheint Vogt geradezu zu zerpflücken. Leider versäumt er es, dem Anliegen der Initiative auch konstruktiv zu begegnen und Ansätze zu einem Ausweg aufzuzeigen, was den schalen Nachgeschmack des politischen Geplänkels hinterlässt.

Dossier: Fachhochschulen
Titel: «Die Befähigungsinstitution»: Frech, ironisch (?), mal sehen.
Untertitel: «Wie innovativ sind Schweizer Fachhochschulen?»: Okay, ist darauf eine Antwort zu erwarten? Die sechs Storytitel versprechen nichts dergleichen. Eine Einleitung, die mit «Vor gut 20 Jahren» beginnt, will ich aufgrund des bis hierher entstandenen Informationsvakuums nicht lesen. Nach «Unter dem Banner ‹Gleichwertig, aber andersartig›» steige ich aus: Ich will keine Festreden lesen. Dann: schöne, farbige Grafiken, aber ihre Aussagen ziehen mich auch nicht zurück in den Text. Erst bei Patrik Schellenbauer gelingt mir wieder der Einstieg. Er kommt sofort auf den Punkt, beschreibt echte Spannungsfelder. Bernhard Pulvers Text ist gut geschrieben, aber inhaltlich kaum überraschend. Der Geschmack der Festrede will nicht ganz weichen.

Fazit
Das von mir angenommene Produktversprechen wurde vielerorts eingelöst: Ich war während der Lektüre mehrfach von Ideen elektrisiert und werde meine Mitarbeiter umgehend anhalten, den «Schweizer Monat» aufmerksam zu verfolgen. Für eilige und extrem schnell gelangweilte Leser ist es aber bisweilen mühselige Arbeit, bis zu diesen Juwelen vorzustossen. Das optische Understatement mag gewollt sein – mich macht es traurig. Meine These: Man könnte protestantisch-zurückhaltend bleiben und die erstklassigen Inhalte trotzdem besser – präziser und effektiver – verkaufen.


Gaudenz Looser
ist stv. Chefredaktor von «20 Minuten».

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