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Dasein einer jüdisch-christlichen Familie von 1802 bis 1948

Marthi Pritzker-Ehrlich: «Gestörte Bürgerlichkeit. Zeugnisse einer jüdisch-christlichen Familie in Briefen, Dokumenten und Bildern» Band 1: 1802–1937, Band 2: 1938–1948. Brugg: munda, 2007.

Wer das Hannah-Arendt-Wort von der «Banalität des Bösen» einmal mehr illustriert haben möchte, muss diese beiden in jeder Hinsicht «gewaltigen» Bände zur Hand nehmen. Hier findet sich eine Hintergründigkeit und Doppelbödigkeit, eine zunächst nie ausgesprochene, dennoch stets anwesende Angst, Ruhe- und Heimatlosigkeit der wichtigsten handelnden Personen, spätestens ab 1940 die blanke Panik bei um so stärkerem Verdrängen der erlebten Seelen-, dann auch der brutal erlittenen physischen Not. Und dabei fing alles so harmlos, bürgerlich-glücklich an. Die Freude im stillen Winkel, der Stolz auf das Erreichte, der Wunsch, sich zu identifizieren, uneingeschränkt dazuzugehören.

Marthi Pritzker-Ehrlich (1944 – 1998), Schweizer Historikerin aus gutbürgerlicher Familie, hat Brief-, Bild- und andere Dokumente ihrer Vorfahren, die aus jüdischen, christlichen und «gemischten» Familien stammen, bis über die Ur-grosseltern-Generation hinaus zusammengetragen, aufbereitet, sorgfältig ediert und in zwei dicken Bänden zusammengestellt, die dann aufgrund des vorzeitigen Todes der Herausgeberin von ihrem Mann, Andreas Pritzker, für die Publikation fertiggestellt wurden.

Diese Dokumente geben einen tiefen Einblick in Alltagswelt und Tagesablauf der beteiligten Familien mit über halb Europa verstreuten Wohnsitzen und zeigen das verwickelte Beziehungsgeflecht christlich-jüdischer Annäherung oder besser Absorption auf, das dann weiter kompliziert wird durch die auch sozial unterschiedliche Herkunft der verschiedenen Personen, die man in ihren Briefen teils über Jahrzehnte verfolgen kann. Der Originalwortlaut der Briefe und Dokumente lässt den historisch Interessierten viel begreifen. Anspielungen und Aufscheinen von Personen auch der grossen Politik, der grossen historischen Linien, das Hineinspielen von Prominenten, mit denen teilweise auch Kontakte bestanden, gibt immer wieder eine Rückversicherung der historischen Verortung. Dabei vermischt sich, wie soll es aber auch anders sein, «Banales», Interessantes, Lustiges, Trauriges, Furchterregendes, Hochdramatisches, mit – äusserlich – ruhig fortgehenden Alltagsberichten.

Die Dokumente geben einen tiefen Einblick in die Politik und die sie bestimmende Denk- und Geisteshaltung vor allem der Schweiz im Umgang mit (jüdischen) Flüchtlingen, die versuchten, ihr nacktes Leben zu retten. Grosses und Kleines, anständige, aufrechte Charaktere auf der einen, Teilnahmslosigkeit und Niederträchtigkeit auf der anderen Seite sind zu beobachten.

Nicht zuletzt zeigen die beiden Bände die Zerrissenheit und Widersprüchlichkeit von Einzelpersonen, in denen das Nicht-hinter-sich-lassen-Können der eigenen, zeitlich bedingten Vorurteilswelt mit einer menschlich grossartigen Gesinnungstreue und einem pflichtbewusst-märtyrerhaften Einsatz für mehr Humanität in tragischer Weise eine unauflösliche Verbindung eingegangen sind, etwa bei dem Zürcher Juristen Kurt Ehrlich (1904–1956), der einerseits seine jüdische Frau vor ihrer Verheiratung ihrem Judentum entfremdet, sie zur Taufe veranlasst, der antisemitische Fehleinschätzungen, die einen Goethe zur Quelle haben mögen, zustimmend nachvollzieht, der anderseits aber in seinen Briefen an den unsäglichen Nationalrat Tobler zu historischer Grösse heranwächst und zeitlos gültige Formulierungen findet, die es wert sind, aufbewahrt zu werden, wie jene vom 24. September 1938: «Müssen auch Schweizer, gerade Schweizer, der rohen Schaulust, die der Pöbel bei einer Exekution an einem Verurteilten empfindet, verfallen oder sich gar selbst zu Schergen eines seit bald dreitausend Jahren an einem kleinen, aber tapferen, begabten und fleissigen Volke sich vollziehenden furchtbaren Schicksals hergeben? Hut ab! wie Carl Spitteler es uns 1914 lehrte. Möge hier, wem nicht gegeben ist, mitzulieben, wenigstens das Mithassen sich verbieten und schweigen.»

vorgestellt von Michael Kühntopf, Widen

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