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Das Starren des Kaninchens auf die Schlange
Lars Feld, Bild: Imago / IPON.

Das Starren des Kaninchens auf die Schlange

Egal ob BIP, Inflationsrate oder Staatsverschuldung: Das Handeln von Millionen Menschen adäquat mit ein oder zwei Ziffern abgebildet zu sehen, diesem Trugschluss unterliegen viele Zeitgenossen, wenn sie die prominenten Kennzahlen der Ökonomie betrachten. Wie aussagekräftig sind sie wirklich?

Herr Feld, wie aussagekräftig sind Ihrer Meinung nach offiziell ausgewiesene Inflationsraten?
Allein und für sich genommen ist die Inflationsrate wenig aussagekräftig. Jeder Ökonom weiss: eine einzelne Kennzahl sagt Ihnen nichts, Sie müssen mehrere Kennzahlen und Indikatoren haben und diese untereinander in Beziehung setzen – möglichst sinnvoll natürlich. Es ist eigentlich wie bei allen angeblich so entscheidenden ökonomischen Kennzahlen und Indizes vom BIP über die Produktivität bis zur Arbeitslosenquote: ohne Kontext sagen sie wenig aus.

Dann ordnen wir sie zuerst einmal historisch ein: die Inflationsrate der Schweiz – und der meisten anderen Industrieländer – ist heute deutlich niedriger als in den meisten Jahren zwischen 1970 und 1990, als eine Konsumentenpreisinflation von zehn Prozent nicht untypisch war. Ende 2017 sind wir bei offiziellen 0,5 Prozent (BfS). Andererseits wird gerade das liberale Lager nicht müde, weiterhin vor der «drohenden Hyperinflation» zu warnen.
Es gibt immer diejenigen, die vor solchen Zahlen sitzen und darauf starren wie das Kaninchen auf die Schlange. Liberale Ordnungspolitiker sollten auf einen freiheitlich agierenden Staat fokussieren und sich nicht in Kleinkriegen um die Messung der Inflation ergehen. Nach jahrelanger Erfahrung mit den Warenkörben, die dem offiziellen Preisindex und also auch der Ermittlung der Inflationsrate zugrunde liegen, muss ich sagen: wir liegen mit der Messung der Inflationsrate nicht total daneben.

Sie glauben, die sogenannte «versteckte Inflation» ist vernachlässigbar? Auf Google wird derzeit wieder häufiger nach dem Begriff gesucht.
Natürlich kann man den Warenkorb, auf den viele Kritiker es immer wieder abgesehen haben, weiter präzisieren. Die offizielle Statistik enthält aber all jene Dinge, die laut internationaler Konvention sinnvollerweise akzeptiert – und deshalb vergleichbar – sind. Notwendige Anpassungen gibt es immer wieder: Den Preis eines iPhones konnte man vor 30 Jahren eben noch nicht einrechnen, heute ist es aber ein vielgenutztes Gut, deswegen ist es nun im Korb. Was leider immer nur mit Schwierigkeiten eingerechnet werden kann, das ist die Qualitätsanpassung eines Gutes: Sie können heute Fernseher kaufen, die deutlich besser, grösser und langlebiger sind als ihre Vorgänger – im Korb bleibt das zunächst einfach ein Fernseher. Wie viel besser oder grösser er heute ist, interessiert die Messenden nur allmählich. Die EZB hat nicht zuletzt wegen dieses Umstands ihr Inflationsziel angepasst: von einem Ziel zwischen null und zwei Prozent auf knapp unter zwei Prozent, weil sie zu Recht befürchtet hat, dass Qualitätsanpassungen der Produkte unzureichend und zu spät in den Inflationsraten berücksichtigt werden.

Das hätte den Effekt, dass man bei der Schätzung der Inflationsrate von einem Prozent eigentlich bei null liegt, weil die Qualität einzelner Güter so stark gestiegen ist?
Genau. Man muss nicht das Mooreʼsche Gesetz bemühen, um festzustellen, dass Ihr Handy heute viel mehr kann und viel länger hält als ein entsprechendes – oder eben: nicht entsprechendes – Gerät von vor 15 Jahren! Auch der stark ausgeweitete Welthandel hat inflationshemmende Wirkungen…

Bisher redeten wir aber nur von der Konsumentenpreisinflation – spannend wird die Betrachtung der Inflationsrate bei den Vermögenspreisen, also von Betriebsvermögen, Aktien und Immobilien. Im dritten Quartal 2017 verzeichnete die deutsche Vermögenspreisinflation einen Rekordwert von 8,7 Prozent – das ist enorm viel, sie fliesst aber in die offiziell ausgewiesene Inflationsrate gar nicht ein. Warum nicht?
Die Vermögenspreise werden in den offiziellen Diskussionen kaum berücksichtigt. Wir legen neben die Konsumentenpreise aber bereits die Produzentenpreise, um ein vollständigeres Bild zu haben – und indirekt fliessen Immobilien mit ihrem Eigenmietwert in die offizielle Inflationsrate der deutschen Statistik ein. Auf diese Weise sind Immobilienpreise dort indirekt enthalten, aber nicht im harmonisierten Verbraucherpreisindex der EZB. Die Vermögenspreisentwicklung hat jedoch im Konsumentenpreisindex nichts verloren, weil es letztlich für den Sparer, für den ja die Vermögenspreisentwicklung wichtig ist, darum geht, seinen Konsum in der Zukunft tätigen zu können. Der Konsum ist als letzte Zielsetzung intertemporaler Tätigkeiten mitgedacht. Der Eigenmietwert gehört hingegen unbestreitbar zum Konsum.

Der junge Sparer wundert sich aber, dass er sich – anders als seine Eltern – wohl kaum ein Eigenheim wird bauen können. Er verdient zwar auf dem Papier gleich viel oder sogar mehr, die Immobilien sind aber trotzdem «unbezahlbar» geworden.
Das stimmt so nicht. Wenn Sie in bestimmten Wohnlagen leben, in Zürich oder vielleicht in Freiburg, können Sie zwar sehen, dass die Immobilienpreise explodiert sind – und was das für Ihre eigene Kaufkraft vor Ort bedeutet. Aber das sind lokale Phänomene, die bei weitem nicht die gesamte Bevölkerung und ihr tägliches Leben betreffen. Bei allem, was die Konsumenten in ganz Deutschland mehr oder minder gleichermassen und unmittelbar betrifft, herrscht momentan eine erstaunliche Stabilität: Das gilt für viele Einzelpreise, die Preisniveaus und die Inflationsraten; und es gilt auch für Wohnraum und Immobilien. Wenn ich mir die Zahlen anschaue, so sehe ich, dass es in der Breite weder in der Schweiz noch in Deutschland eine echte Preisexplosion bei den Mieten gibt. Die Immobilienpreise in Deutschland holen vornehmlich auf, was es an Preisrückgängen bis Mitte der 2000er Jahre gegeben hat. Auch in der Schweiz normalisieren sich die Immobilienpreise. In manchen Teilen des Immobilienmarktes mag das Anlegerverhalten die Immobilienpreise treiben – das ist aber kein flächendeckendes Phänomen.

Wir haben es also nicht mit einer Blase zu tun, die sich bildet, weil sich die von der Zentralbank in die Märkte gepumpte Liquidität im Bauboom postwendend in Beton verwandelt?
Das kann man so einfach nicht beantworten. Blasen erkennt man erst, wenn sie geplatzt sind. Bloss auf Vermögenspreisentwicklungen zu schauen, sagt Ihnen jedenfalls noch nichts über mögliche Blasen. Aussagekräftiger sind Vermögenspreisentwicklungen in Verbindung mit der Kreditvergabe. Denn: wenn jemand sein gesamtes Eigenkapital in Immobilien steckt und sich die Investition nicht rechnet, so ist das schade für den Investor, interessiert aber sonst niemanden. Anders ist es, wenn Kredite mit 110 Prozent Leverage vergeben werden, wie bis 2008 in den USA. Platzt dann die Blase, kommt das ganze Bankensystem in Schieflage mit entsprechenden Auswirkungen auf die Gesamtwirtschaft. Die Kreditvergabe der Banken erklärt zudem, warum die hohe Liquidität in den Märkten noch keinen starken Preisauftrieb nach sich gezogen hat. Eine höhere Liquidität erhöht die Geldmenge merklich, wenn die Kreditvergabe dadurch angeschoben wird.

Aber irgendwohin fliesst ja die Liquidität. Zum Teil auch – in Form von billigen Krediten – zu «Zombieunternehmen», wie das die Ökonomen Müge Adalet McGowan, Dan Andrews und Valentine Millot in einer Untersuchung für die OECD genannt haben: Firmen, die eigentlich vom Markt verschwinden würden, weil sie insolvent sind, nun aber künstlich am Leben gehalten werden. Ist das denn keine Konjunkturpolitik?
Das ist das Problem zu niedriger Zinsen und kann konjunkturpolitisch gerade falsch sein. Nach den Berechnungen des deutschen Sachverständigenrates, der sog. Wirtschaftsweisen, ist die konjunkturelle Erholung im Euroraum so sehr fortgeschritten und ist die Differenz zwischen tatsächlicher Inflation und Inflationsziel der EZB so sehr zurückgegangen, dass die expansive Geldpolitik der EZB beendet werden müsste. Stattdessen setzt sie die Anleihekäufe bis September 2018 fort. Angesichts so niedriger Zinsen bleiben Investitionen rentabel, die unter normalen Bedingungen unterbleiben würden. Dadurch kommt es zu Fehlinvestitionen, wie nach der Wiedervereinigung, als durch eine verfehlte steuerliche Förderung Wohn- und Gewerbeimmobilien in Ostdeutschland gebaut wurden, die später abgerissen werden mussten.

Aber das Ziel ist dann doch trotzdem eine Art versteckte Konjunkturpolitik?
Nein, das Ziel ist die Preisstabilität. Konkret: eine Inflationsrate knapp unterhalb von zwei Prozent, nach aktuellen Berechnungen 1,7–1,8 Prozent. Und dieses Ziel erreicht die EZB derzeit noch nicht, wir waren im November 2017 erst bei 1,5 Prozent. Die Jahre davor waren wir näher bei null als bei zwei. Es lässt sich angesichts der Zahlen schwer bestreiten, dass die EZB gemäss ihrem Mandat handelt. Wir können auch nicht wissen, ob wir ohne Mario Draghis Politik in eine Deflation geraten wären oder nicht. Die EZB hat zwar nach der Finanzkrise von 2008 enorm viel Liquidität in die Märkte gespült, diese hat sich aber bisher kaum in Geldmenge umgesetzt – und also auch bisher wenig Inflationsdruck erzeugt. Das eigentliche Geldmengenwachstum ist moderat. Klar ist: institutionell unabhängig sind die Notenbanken weiterhin.

Sie trennen zwischen institutioneller Unabhängigkeit und politischer Unabhängigkeit. Da schwingt eine gewisse Skepsis mit.
Die sogenannte Unabhängigkeit der Notenbanken ist im Grunde stets prekär. Die Sicherung der Preisstabilität ist zwar primäre Aufgabe der EZB, und sie schwebt Deutschen und Schweizern seit vielen Jahren gleichermassen als absolut vorrangige Aufgabe einer Notenbank vor. Dass die EZB aber beispielsweise auch die Bankenaufsicht macht, also für die Finanzmarktstabilität verantwortlich ist, sorgt schon für Zielkonflikte. Dadurch kommt die EZB in Trade-offs, die sie früher nicht hatte.

Konkret: mit der Finanzkrise hat es eine Zäsur gegeben, namentlich diejenige, dass viele grosse Zentralbanken, die Fed und die EZB besonders, seither weniger Preisstabilitäts- als Konjunkturpolitik machen.
Die Finanzkrise ist vor allem eine Zäsur bei der Wirtschaftsentwicklung, was bei einer schweren Bankenkrise ja notwendigerweise so ist. Die Banken müssen ihre Bilanzen bereinigen. Man kann das akkommodieren, oder man kann es nach hayekianischer Lesart «auf die harte Tour» laufen lassen. Heute dominiert die Akkommodation. Man muss jedoch feststellen, dass in der Politik vieler europäischer Staaten gleichrangig neben der Stabilität die Unterstützung der allgemeinen wirtschaftlichen Entwicklung steht. Bei der US-amerikanischen Fed ist das sogar entscheidend und wird anhand eines Beschäftigungsziels gemessen. Hier manifestiert sich bereits im Mandat ein Zielkonflikt zwischen Stabilität und Beschäftigung, anders als in Europa, wo man sich im Zuge der Europäischen Währungsunion der deutschen Bundesbanktradition verpflichtet hatte.

Gleichwohl handelt es sich um ein neues Zentralbankmonopol – als Ordnungspolitiker unter den Ökonomen muss Ihnen das doch Bauchschmerzen gemacht haben.
Wie Wettbewerb in der Geldpolitik wirkt, darüber kann man trefflich streiten. Wenn es um die Architektur der Eurozone geht, so meine ich: es war richtig, die Bankenunion zu schaffen, auch mit einer Bankenaufsicht auf EU-Ebene. Sie dürfte nur nicht bei der EZB angesiedelt sein! Sie müsste bei einer anderen, unabhängigen Institution sein.

Man hat damals das Preisstabilitätsziel nicht nur für die EZB festgeschrieben, sondern auch für die einzelnen EU-Mitgliedsstaaten, in der Hoffnung, dass sie dann nach und nach der Währungsunion beitreten. Ob das aber auch weiterhin so bleibt, ist vor allem eins: eine Kulturfrage. Oder prägnanter: dass Zentralbanken ihren Stabilitätswerten besonders verpflichtet bleiben, kann sich jederzeit ändern, nicht?
Das aktuelle Mandat der EZB müsste einstimmig geändert werden – was doch sehr unwahrscheinlich ist. Gleichwohl gilt: Zentralbanken sind aufgrund einzelner gesetzlicher Regelungen formell «unabhängig», in verschiedensten Ausprägungen. In Italien war die Zentralbank traditionell nah ans Finanzministerium, ans Tesorio, angelehnt, obwohl sie bis heute eine Aktiengesellschaft ist. Das Federal Reserve System ist entstanden aus einem System von Privatbanken – es sind bis heute die wichtigen regionalen Banken, welche die Fed stützen, nicht die Politik. Diese Stützen kann man nicht einfach politisch aushebeln, wenn es einem gefällt. In der Schweiz, bei der SNB, sind die Kantone und wesentliche Private als Anteilseigner dieser Aktiengesellschaft ebenfalls Garanten dafür, dass die Politik sich der Dienste der SNB nicht ohne weiteres bemächtigen kann. Interessant in dieser Hinsicht könnten nun der «Brexit» und der darauf voraussichtlich folgende wirtschaftliche Abschwung Grossbritanniens werden.

Der britische Ökonom Charles Goodhart stellte dahingehend jüngst fest, dass die Zeit der Unabhängigkeit – die Bank of England ist erst seit zwanzig Jahren unabhängig – damit wohl vorbei sei: Der höhere Verschuldungsgrad des Staates und eine potenziell steigende Inflation aufgrund des demographischen Wandels liessen sie erodieren. Die Politik sei aus seiner Sicht willens, die Schulden einfach wegzuinflationieren. Was ist dran an diesem Vorwurf?
Die Sorgen sind durchaus berechtigt. Denn: was wir in Europa beobachten, ist allenfalls ein Rückgang der Neuverschuldung, da mit der niedrigen Verzinsung der Druck auf die öffentlichen Haushalte abnimmt. In Deutschland oder Irland ist es zwar gelungen, sich etwas zu konsolidieren. In den vergangenen Jahren hat man aber eben vor allem die Staatsausgaben erhöht, und zwar kräftig. Gleichzeitig muss man sehen, dass der Zinsvorteil auch in anderen Staaten existiert und viele Staaten ihre Schuldenquote trotzdem nicht hinreichend gedrückt haben, im Gegenteil. Frankreich und Italien verschulden sich weiter… Das ist gefährlich.

Die absolute Verschuldung steigt überall. Und sie ist doch die tatsächliche Last – gerade für die nächsten Generationen. 
Da kann man drüber streiten. Entscheidend ist für mich die Senkung der Schuldenquote – bestenfalls wieder unter 60 Prozent. Denn hier hat Goodhart recht: wenn die EZB irgendwann ihre Politik normalisiert und die Zinsen steigen, was absehbar ist, dann ist fraglich, ob Italien, Spanien und Portugal das aushalten – oder der nächste Crash vorprogrammiert ist. Will sie das vermeiden, ist die Notenbank in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt. Da sind wir dann weg von der formalen Unabhängigkeit und im tagespolitischen Handgemenge – dahingehend kann man durchaus von einer drohenden Gefahr der Erosion von Unabhängigkeit sprechen.

Wie reagiert denn Mario Draghi auf derartige Hinweise?
Er versichert, dass er sich bei der Verfolgung des Mandats der Preisstabilität nicht von der Verschuldungssituation eines Mitgliedsstaates abhalten lässt. Die EZB hat den Mitgliedsstaaten in der Schwächephase im Euroraum fünf Jahre lang Zeit gekauft und regelmässig darauf hingewiesen: wenn sie die Jahre nicht zur Konsolidierung nutzten, so müssten sie eben mit ihren Entscheidungen zurechtkommen. Draghi entspricht hier zu einhundert Prozent dem Typus des Notenbankers: Yellen, Jordan, Weidmann – diese Leute arbeiten viel, machen sich ohnehin mit jeder Entscheidung unbeliebt, sind vergleichsweise scheu, aber mandatstreu – die wollen sich weder als Rechtsbrecher noch als zahnlose Tiger hinstellen lassen. Selbst wer vor seiner Zeit als Zentralbanker noch als «Taube» bekannt war, wird sehr schnell zum «Falken». Das ist der Beckett-Effekt (lacht).

Ist aber denn nicht genau dieses «Zeit kaufen» der EZB, konkret das OMT-Programm oder das aktuell laufende Quantitative Easing, eine eigentliche Mandatsverletzung im Hinblick auf die Trennung von Geld- und Finanzpolitik?
Im Detail ist die Grenze zwischen Geld- und Fiskalpolitik viel verwaschener, als man meint. Mandatsverletzungen sind sehr schwer nachzuweisen. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten Jahren alle möglichen EZB- und Euro-Programme geprüft: Anleihekäufe, Rettungsschirme usw. – bisher wurde keine Mandatsverletzung festgestellt. Gleichwohl ist wichtig zu diskutieren, wie weit das Mandat Draghis überhaupt gehen darf. Beim OMT-Programm 2012 – «Whatever it takes» – hatte ich meine Zweifel.

Konkret?
Ich war mir unsicher, ob Draghi damit noch Geld- oder schon Finanzpolitik macht, denn OMT würde ja gezielt die Refinanzierung eines einzelnen Mitgliedsstaates verbessern. Hingegen würde ich sagen, der aktuelle Staatsanleihekauf im Rahmen des Quantitative Easing ist eher Geldpolitik als das OMT. Die Menge der Käufe von Staatsanleihen ist zwar enorm, aber es wird immerhin nach einem festen Schlüssel eingekauft, nicht aufgrund eines Sonderfalls. Es geht also nicht darum, die Refinanzierungsbedingungen eines Mitgliedsstaates zu drücken – sondern um Liquidität. Aber eben: das alles unter rein ökonomischen Gesichtspunkten! Wenn wir den Fall nach juristischen Gesichtspunkten anschauen, können wir zu einem ganz anderen Ergebnis kommen.

Gibt es eigentlich in der Makroökonomie einen Fortschritt beim Thema Geldpolitik? Man hört weiterhin von der Angelsächsischen Schule und der Deutschen Schule, von Austrians und Keynesianern, der «Financial Times» ist Draghi viel zu restriktiv, den Deutschen ist er viel zu lasch.
Es gibt in der Makroökonomie methodische Fortschritte, am Ende haben wir es aber mit denselben Lagern wie vor 50 Jahren zu tun: die einen wollen möglichst viel Liquidität und lockeres Geld – man sollte sie redlicherweise nicht mehr als «Keynesianer» bezeichnen, ich nenne sie: Expansionisten –, die anderen achten auf Solidität und Stabilität. Mit der Finanzkrise hat es aber eine andere, mächtigere Zäsur im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung gegeben: Ökonomen geraten seither weltweit unter Druck, man glaubt ihnen in der wirtschaftspolitischen Diskussion weniger. Manche alte Idee, die wir in der ideologischen Mottenkiste glaubten, wird wieder salonfähig: der Marxismus, der Vulgärkeynesianismus, der mehr Staatsverschuldung fordert…

Apropos: war es aus Ihrer Sicht notwendig, das Bankensystem mit Steuergeldern zu retten?
Das fragt der Steuerzahler zu Recht. Wer in einer akuten Notlage das Bankensystem auffängt, tut historisch gesehen – und im Sinne der Stabilität – nicht schlecht daran. Ist die Stabilität aber wieder hergestellt, müssen die Anreize korrigiert werden. Die Banken dürfen sich nicht dauerhaft darauf verlassen können, dass sie bei Schieflagen vom Staat rausgehauen werden. Finanzpolitisch muss man am Ende die Rechnung aufmachen und schauen, wie der Saldo der Bankenrettung gewesen ist. Die Schweden haben mit ihrer Bankenrettung «Geld verdient», Deutschland wird wohl einen Verlust machen, in der Schweiz sieht es ziemlich gut aus.

Aber haben die Banken auch etwas gelernt?
Leider nicht in dem Masse, wie es wünschenswert wäre. Im Gegenteil: viele Institute im Euroraum haben ihre Bilanzen immer noch nicht bereinigt. Es braucht offenbar einen enorm langen Atem, um bei der Entschuldung die Weichen richtig zu stellen und die Eigenkapitalquoten so hochzufahren, dass sich 2008 nicht wiederholt. Die Lockerung des Nexus zwischen Staaten und Banken wird noch Jahre dauern.

In der Schweiz stimmen wir bald über die sogenannte Vollgeldinitiative ab, die den «Nexus zwischen Staaten und Banken» auf eine eher spezielle Weise zerschlagen will: Ihr Ziel ist es, die Zentral- und Nationalbanken noch stärker zu monopolisieren, als sie es heute schon sind. Was halten Sie davon?
Nichts. Über die Monopolisierung der Geldschöpfung bei den Notenbanken schaffen Sie kein stabileres System. Diese Annahme ist naiv. Zudem sind die Gefahren eines Wirtschaftseinbruchs bei der Umstellung viel zu hoch. Es entstehen einfach viel zu grosse Unsicherheiten im Übergang: Geld wird abgezogen. Kapital fliesst ab. Und das ist exakt das, was der Schweizer Finanz- und Wirtschaftsplatz überhaupt nicht gebrauchen kann.

Apropos Unsicherheit: könnten Kryptowährungen die Konsolidierung des Bankensystems beschleunigen – oder sorgen sie bloss für noch mehr ungewollte Unsicherheit? Selbst Christine Lagarde geht davon aus, dass die Zentralbanken «nur» noch bis 2040 sicher vor der Algorithmierung sein dürften.  
Kryptowährungen bringen zunächst die Geschäftsbanken unter Druck. Zentralbanken sind dann betroffen, wenn Bitcoin und Co. als gesetzliches Zahlungsmittel anerkannt würden. Ausser in Venezuela ist dies noch in keinem Staat der Fall – und das nährt durchaus Skepsis. Letztlich ist es eine Frage des Vertrauens in die eigene Währung und der damit einhergehenden Kultur: selbst wenn Sie in Zug Ihre Steuern in Bitcoins zahlen können: wer macht das, wenn er auch in Franken zahlen kann?

 

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Die meisten Menschen haben ein gespaltenes Verhältnis zu Mathematik und Statistik, gleichwohl erkennen sie an, dass Zahlen eine enorme Bedeutung für unser Verständnis der Welt haben. Auch – und: vor allem – die grösste Null in Mathe sollte wissen: Zahlen machen vor allem Sinn, wenn man sie richtig interpretiert.

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