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Das I-Wort neu denken

Was haben Mikrokredite, die SBB-App und Carsharing gemeinsam? Es sind soziale Innovationen. Welches Potenzial steckt in ihnen? Und was haben die Hochschulen damit zu tun?

Das I-Wort neu denken
Bild: G. M. B. Akash / Panos Pictures / Visum.

Innovation ist in den letzten Jahrzehnten immer mehr zu einem Leitbegriff moderner Gesellschaften geworden. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehen dabei häufig die Potenziale technologischer Innovationen. Allerdings wird zunehmend deutlich, dass wir mit technologischen Innovationen allein den weltweit gewaltigen Herausforderungen (demographischer Wandel, soziale Ungleichheit, Digitalisierung, Klimawandel) nicht gerecht werden können. Zudem bringen sie eine Reihe von ungewünschten Nebeneffekten und sozialen Problemen mit sich. Vor dem Hintergrund einer beschleunigten Veränderungsdynamik wächst in Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur das Bewusstsein, dass etablierte Steuerungs- und Problemlösungsroutinen und wirtschaftlich-technologische Innovationen allein nicht ausreichen werden, um genannte Probleme zu lösen. Weltweit wird inzwischen über ein verändertes Innovationsverständnis diskutiert, das verstärkt auch soziale Dimensionen in den Blick nimmt. Was aber meint der Begriff der «sozialen Innovation»? Wie unterscheiden sich soziale Innovationen von wirtschaftlichen und technologischen Innovationen? Und welche Rolle spielen Hochschulen in diesem Kontext?

Ein neues Innovationsverständnis

Ideen und Anstösse für ein neues Innovationsverständnis kamen in den letzten Jahren vor allem aus der Zivilgesellschaft. So haben sich zahlreiche Projekte und Initiativen entwickelt, die mit innovativen Methoden und Konzepten einen Beitrag zur Lösung sozialer und ökologischer Probleme erbringen. Eines der international bekannten Beispiele für eine soziale Innovation mit grosser Durchschlagskraft ist der Mikrokredit als neues Instrument zur Armutsbekämpfung. Durch das Verleihen geringer Geldbeträge gegen moderate Zinsen sollen Kreditnehmer(innen) befähigt werden, ihre Existenz zu sichern. Zwar ist dieses Modell nicht gänzlich neu, doch erhielt es durch ein von Muhammad Yunus in Bangladesch initiiertes Programm, aus dem 1983 die Grameen Bank hervorging, neuen Schwung. So sind Mikrokredite inzwischen – trotz vieler Kritiker – weltweit präsent. Auch Konzepte wie Carsharing oder genossenschaftliche Formen der Energieversorgung sind zum Teil aus kommunalen Initiativen hervorgegangen – allesamt soziale Innovationen, die inzwischen national wie international grosse Verbreitung finden.

Zunehmend engagieren sich aber auch Unternehmen, Politik und Hochschulen im Bereich sozialer Innovation. Dabei werden die Konturen eines neuen umfassenderen Innovationsverständnisses erkennbar1, in deren Folge soziale Innovationen immer mehr an Bedeutung gewinnen. Es sind drei Elemente, die das neue Innovationsverständnis kennzeichnen:

Dabei geht es zum einen um die Öffnung des Innovationsprozesses zur Gesellschaft und damit um die umfassende Erschliessung der gesellschaftlichen Innovationspotenziale. Das heisst: nicht nur Unternehmen, Hochschulen oder Forschungseinrichtungen sind relevante Akteure im Innovationsprozess, sondern auch Bürger, Kunden, NGOs oder soziale Bewegungen. Letztere Gruppe spielt eine stetig wachsende Rolle und dient nicht länger nur als Lieferant für «Bedürfnisinformationen» (wie im klassischen Innovationsmanagement), sondern trägt im Entwicklungsprozess neuer Produkte und Verfahren aktiv zur Problemlösung bei. Konzepte wie «Open Innovation» – bei der es um die Öffnung des Innovationsprozesses zur Gesellschaft und die Nutzung des Wissens von Bürgern und Klienten geht –, Kundenintegration und internationale Netzwerkbildung spiegeln wichtige Aspekte dieser Entwicklung wider. Gleichzeitig wird Innovation ein allgemein gesellschaftliches Phänomen, das immer stärker alle Lebensbereiche von der Arbeitswelt bis zum heimischen Esstisch berührt und durchdringt.

Ein zweites zentrales Element des neuen Innovationsparadigmas ist die Orientierung an den grossen gesellschaftlichen Herausforderungen, etwa des demographischen Wandels in den Industrieländern. Diese Entwicklungen sind seit Beginn der 1990er Jahre auch auf der programmatischen Ebene, etwa in der europäischen Forschungs- und Innovationspolitik, erkennbar. Inzwischen sind weite Teile der europäischen Förderprogramme ebenso wie verschiedene forschungs- und wirtschaftspolitische Strategien entlang dieser Herausforderungen strukturiert.

Mit der Herausbildung eines neuen Innovationsparadigmas verändert sich aber nicht nur der Blick auf die Innovationsprozesse und -ziele. Gleichzeitig erweitert sich auch der Gegenstand der Innovationen. Im Zentrum des alten industriegesellschaftlichen Innovationsverständnisses standen lange Zeit technische Neuerungen im Sinne von Produkt- und Verfahrensinnovationen, die «zum (fast) alleinigen Hoffnungsträger gesellschaftlicher Entwicklung stilisiert»2 wurden. Innovationen im Sinne kreativer und zielgerichteter Veränderungen sozialer Praktiken gewinnen demgegenüber immer weiter an Bedeutung. Sie beziehen sich auf die Art und Weise, wie wir (zusammen)leben, arbeiten und konsumieren, wie wir uns organisieren und unsere politischen Prozesse gestalten. Die Potenziale neuer Technologien können sich schliesslich nur dann entfalten, wenn diese in die Veränderungen sozialer Praktiken und Verbrauchsgewohnheiten eingebettet sind. Das bedeutet im Alltag: die vielen sinnvollen Funktionen der neuen App der Schweizerischen Bundesbahnen etwa setzen sich nur durch, wenn a) genügend Passagiere ein aktuelles Smartphone besitzen und b) die entsprechenden Kompetenzen haben, das Smartphone bzw. die entsprechende App zu nutzen, und c) bei ihrer Fahrplanabstimmung dieses Smartphone auch dem Anschlag am Bahnhof, dem Billettschalter oder der SBB-Website vorziehen wollen. Was vor 15 Jahren noch undenkbar war, ist heute technisch und praktisch die Regel, und was für den persönlichen Bürgeralltag gilt, gilt auch im internationalen Massstab: Es existieren zahlreiche Ansätze und erfolgreiche Initiativen, die die Stärken und Potenziale sozialer Innovationen im Bereich gesellschaftlicher Integration durch Bildung bei der Armutsbekämpfung, bei der Durchsetzung nachhaltiger Konsummuster3 oder bei der Bewältigung des demographischen Wandels aufzeigen4.

Vor diesem Hintergrund wird soziale Innovation auch immer stärker zum Gegenstand staatlicher Innovationspolitik5. Der Schweizer Nationalfonds beschäftigt sich bereits seit längerem mit dem Thema, die 2014 verabschiedete neue Hightech-Strategie der deutschen Bundesregierung verankert das Thema in der Innovationspolitik und Barack Obama richtete bereits 2009 – zu Beginn seiner ersten Amtszeit – das «Office of Social Innovation and Civic Participation» im Weissen Haus ein. Der Blick vom reinen Marktpotenzial einzelner Technologiefelder verschiebt sich hin zum gesellschaftlichen Bedarf an zukunftsfähigen Lösungen und deren Realisierung.

Festzuhalten ist aber: viele Projekte und Initiativen entfalteten bisher nicht die gewünschte gesellschaftliche Durchschlagskraft, sondern verblieben oft auf lokaler, experimenteller Ebene. Woran liegt das? Schon früh haben Pioniere der sozialen Innovationsforschung wie James Phills, Kriss Deiglmeier und Dale Miller auf die grosse Bedeutung von sektorübergreifenden Netzwerken und Kooperationen bei der Entfaltung der Innovationspotenziale verwiesen6.

Was hinsichtlich der Entwicklung technologischer Innovationen seit vielen Jahrzehnten hinreichend erforscht ist, bestätigen auch die Ergebnisse der sozialen Innovationsforschung: die Entwicklung und Verbreitung sozialer Innovationen benötigt den Aufbau entsprechender Ökosysteme oder Plattformen, die das Zusammenspiel von Akteuren aus den unterschiedlichen Teilsystemen erst ermöglichen. Wenn soziale Innovationen also einen grösseren Beitrag zur Bewältigung der grossen gesellschaftlichen Herausforderungen leisten sollen, dann sind verstärkte Kooperationen zwischen Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Politik unerlässlich. Wie könnte das konkret aussehen?

Eine Herausforderung für die Hochschulen

Soziale Innovationen entstehen häufig an den Schnittstellen zwischen den ausdifferenzierten gesellschaftlichen Sektoren – und die Scharnierfunktion dazwischen übernehmen heute vorwiegend einzelne Organisationen, Initiativen, Stiftungen und Think Tanks. Viele dieser Institutionen verstehen sich selbst als Grenzgänger zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen und bilden neue, miteinander eng verbundene Praktiken des Forschens, Beratens, Förderns und Finanzierens heraus. Die wohl wichtigste Rolle bei der Entwicklung, Erprobung und Verbreitung sozialer Innovationen kommt aber heute der Wissenschaft – und zwar im Hinblick auf Forschung und Lehre – zu. Hochschulen und Forschungseinrichtungen sind bereits bestehende und prädestinierte Plattformen, um den intensiveren Austausch verschiedener Disziplinen, Branchen und Kulturen voranzutreiben. Im internationalen Kontext haben viele auch bereits damit begonnen: Führende Universitäten wie Stanford, Oxford und Cambridge haben Forschungszentren zum Thema soziale Innovation aufgebaut, und auch in Deutschland und der Schweiz integrieren Universitäten und Fachhochschulen das Thema zunehmend in ihre Strategien. Bei all diesen Aktivitäten geht es um die Integration in Forschung und Lehre sowie um die Kooperation mit der gesellschaftlichen Praxis. Nur durch Sensibilisierung von Lernenden zur Wahrnehmung sozialer Problemlagen und möglicher Lösungsansätze kann die Lehre die Entwicklung von sozialen Innovationen aus der Bevölkerung heraus befördern. Im «Service Learning» oder beim «forschenden Lernen» etwa werden die Erkenntnisse und Erfahrungen der Studierenden aufgegriffen und Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Bildung und gesellschaftlicher Praxis geschaffen. Neben der Wirtschaft wird dabei die Zivilgesellschaft zu einem bedeutenden Partner.

Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse des globalen Mappings des SI-Drive-Projektes7, dass Hochschulen und Forschungseinrichtungen sich bisher nicht systematisch im Feld sozialer Innovation engagierten. In weniger als 20 Prozent der untersuchten Initiativen waren etwa Einrichtungen aus dem Bereich Forschung und Erziehung eingebunden. So spielt die Wissenschaft bei der Entwicklung, Erprobung und gesellschaftlichen Verbreitung sozialer Innovationen bisher nur eine marginale Rolle8.

Obwohl die Initiativen also im internationalen Kontext zur stärkeren öffentlichen Wahrnehmung des Themas beitragen, haben sie in ihrer Impulswirkung noch nicht die Breite und Dynamik der Technologieförderung entfaltet. Offensichtlich ist aber: neben traditioneller grundlagenorientierter Forschung werden Konzepte wie die transformative Forschung zukünftig an Bedeutung gewinnen9. Als transformative Forschung zielt Wissenschaft zunehmend auf die Lösung gesellschaftlicher Schlüsselherausforderungen durch Anstoss konkreter Veränderungsprozesse. Der Aufbau von entsprechenden Infrastrukturen (Reallaboren, Living Labs oder Explorations- und Lernräumen für handlungsnahes Wissen zur Etablierung neuer sozialer Praktiken) rückt somit immer mehr in den Fokus.

Gerade Fachhochschulen sind hier mit ihrer Praxisnähe und ihrem Anwendungsbezug prädestiniert, die damit verbundenen Chancen zu nutzen. Während die naturwissenschaftlich-technischen Fachbereiche seit vielen Jahren nachweislich die Innovationen fördern und entsprechende Fachkräfte ausbilden, sind die Potenziale in den künstlerischen und sozialen Bereichen weder in Deutschland noch in der Schweiz ausgeschöpft. Auch die Zusammenarbeit mit Praxispartnern aus der Zivilgesellschaft gestaltet sich weiterhin schwierig. Vor diesem Hintergrund ist die Förderlinie «Soziale Innovationen für Lebensqualität im Alter» des deutschen Bundesministeriums für Bildung und Forschung ein schönes Beispiel, wie dem demographischen Wandel auch begegnet werden kann. Sie versucht, gezielt das Potenzial der Fachhochschulen bei der Entwicklung und Durchsetzung sozialer Innovationen zu fördern: Durch praxisnahe Konzepte sowie anwendungsorientierte Strategieentwicklungen soll die Teilhabe von -älteren Menschen im Arbeits- und gesellschaftlichen Leben erhalten und so ihre Lebensqualität verbessert werden.

Ausblick

In der Nutzung der Potenziale der Hochschulen liegt die grosse Herausforderung für eine zeitgemässe Innovationspolitik. Wie in der Mitte des vergangenen Jahrhunderts die Bedingungen geschaffen wurden, um – gestützt auf eine systematische Innovationspolitik – die Potenziale der Natur- und Ingenieurwissenschaften zu erkunden und für die Gesellschaft nutzbar zu machen, so brauchen wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts einen ebenso grossen Pioniergeist bei der Suche nach neuen sozialen Praktiken, die uns ermöglichen, die Zukunft zu sichern und uns «ein reichhaltigeres und erfüllteres menschliches Leben [zu] ermöglichen»10.


 

1 Jürgen Howaldt und Michael Schwarz: Soziale Innovation im Fokus: Skizze eines gesellschaftstheoretisch inspirierten Forschungskonzepts. Bielefeld: transcript, 2010.
2 Karin Gillwald: Konzepte sozialer Innovation. WZB Paper: Querschnittsgruppe Arbeit und Ökologie. Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (2000). Web: http://stages-online.info/pdfs/soziale-innovationen.pdf
3 Die Schweiz war und ist beispielsweise seit den 1990er Jahren Vorreiter in Sachen Recycling, teilweise Weltspitze – und das ganz ohne Flaschen- oder Dosenpfandsystem.
4 Vgl. Jürgen Howaldt, Antonius Schröder, Christoph Kaletka, Dieter Rehfeld und Judith Terstriep: Mapping the World of Social Innovation. Key Results of a Comparative Analysis of 1.005 Social Innovation Initiatives at a Glance. Dortmund: TU, 2016. / Muhammad Yunus: Social Business. Von der Vision zur Tat. München: Hanser, 2010.
5 Nicholas Bornstein, Stefan Pabst und Stephan Sigrist: Zur Bedeutung von sozialer Innovation in Wissenschaft und Praxis. Weshalb soziale Innovationen in Gesellschaft und Wirtschaft wichtiger werden und wie der SNF dazu beitragen kann, das Thema in der Schweiz zu positionieren. W.I.R.E., 2014. Web: www.snf.ch/SiteCollectionDocuments/Soziale_Innovation_Studie_SNF_W_I_R_E_2014.pdf
6 James Phills, Kriss Deiglmeier und Dale T. Miller: Rediscovering Social Innovation. In: Stanford Social Innovation Review (6) 3, 2008.
7 https://www.si-drive.eu/
8 Vgl. Howaldt et al. (2016).
9 Uwe Schneidewind und Mandy Singer-Brodowski. Transformative Wissenschaft. Klimawandel im deutschen Wissenschafts- und Hochschulsystem. Marburg: Metropolis, 2013.
10 Richard Rorty: Philosophie als Kulturpolitik. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 2008.

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