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Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist

Kunstausstellung? Ort der bunten Völkerverständigung? Profane Touristenattraktion? Geldwaschmaschine für den globalen Art-Jetset? Ein Mangel an Definitionen für die Biennale dʼArte di Venezia herrscht nicht. Grund genug für ein wenig kunsthistorische Aufklärung.

Alles muss sich ändern, damit alles bleibt, wie es ist
Kunstprotest ist keine Erfindung von Pussy Riot – eine italienische Künstlergruppe agitiert 1899 gegen die Ausstellungspolitik der Biennale di Venezia. Bild: ANB.

Da schau her, vier alte Bekannte haben sich in Venedig eingefunden! Theorie, Kritik, Politik und Ökonomie sind dieses Jahr die Ehrengäste bei der von Okwui Enwezor verantworteten Hauptausstellung der 56. Biennale dʼArte di Venezia. Nach allenfalls homöopathisch-kritischen Biennalen wie Bice Curigers «ILLUMInazioni» (2011) oder Massimiliano Gionis auf Wunderlichkeiten kapriziertem «Encyclopedic Palace» (2013) fährt der Direktor des Münchner Kunsthauses mit Karl-Marx-Lesungen und Reminiszenzen an die sogenannte «Dissidenten-Biennale» von 1974 noch einmal die schweren Geschütze politischer Bewusstseinsbildung auf. Es ist schon ulkig: Während der Autor Philipp Felsch in seinem lesenswerten Abgesang auf den «Langen Sommer der Theorie» die «intellektuellen Energien von ʼ68 in schwach glimmende Substanzen zerfallen» sieht, tischt Enwezor den in sommerlicher Leichtigkeit sich ergehenden Biennale-Besuchern einen Haufen bleischwerer Diskurskunst auf.

Argwöhnischen Kunstkritikern kommt dieses Manöver angesichts des Biennale-typischen champagnerseligen, seine «Art-Händler» ausbeutenden und Steilvorlagen zur Geldwäsche bietenden Kunst-Jetsets und der mit ihren Phallusschiffen das Pier am Ausstellungsgelände penetrierenden Globalkapitänen völlig zu Recht bizarr vor. Nach der celebritygesättigten Eröffnungswoche wird es, herrje, übrigens auch nicht besser – es folgen mit Sicherheit die beflipflopt durch den Exponatendschungel irrenden Touristen, derem Andrang auch die bereits seltsam antik wirkenden Bildungsbürger aus süddeutschen Speckgürtelregionen nicht standhalten können. Doch die Kritik an der Scheinheiligkeit der 1895 gegründeten, ältesten noch bestehenden Kunstbiennale ist so alt wie diese selbst. Sie ist berechtigt, hat aber den kleinen Nachteil, dass sie offenbar nichts bewirkt. Die Biennale ist wie der Kapitalismus: Sie kommt mit allem klar, ausser mit Nichtbeachtung und Nichtbeteiligung. Womit die Komplizenschaft dieses Textes eingestanden wäre.

 

Die Anfänge in Fifa-Rhetorik

In ihren Anfängen schmückte sich die Biennale mit humanistischen Völkerverständigung-durch-Kunst-Floskeln, obschon sie primär als neuer Touristenmagnet der im adriatischen Meeresbusen vor sich hinfaulenden «Serenissima» konzipiert worden war. Wenn man so will, setzten ihre Erfinder auf Fifa-Rhetorik avant la lettre: kryptoreligiöse Oden an die veredelnde Kraft der Künste – wahlweise: Sport – und trockene Geschäftemacherei bildeten die zwei Seiten einer Medaille. Man köderte den europäischen Adel mit prähistorisch anmutenden Akademie- und Salonschinken (etwa 1897 mit Henryk Siemiradzkis dramatischem Blockbustergemälde «Christliche Dirke»), umwarb das moderat progressive Bürgertum mit moderat modernistischer Kunst aus dem Dunstkreis der École de Paris (der in Paris ausgebildete US-Amerikaner James McNeill Whistler war ein gern gesehener Gast der frühen Biennalen), gab beflissen ein wenig Religiöses bei oder sorgte mit Schockern wie Giacomo Grossos morbidem Gangbang in Öl («Il Supreme Convegno», 1895) für Schlagzeilen.

Schon 1895 druckte das italienische Satiremagazin «Sior Tonin Bonagrazi» Karikaturen, die die Biennale-Macher, darunter Venedigs Bürgermeister Riccardo Selvatico, als Scharlatane und Krämerseelen zeigten. 1899 sahen sich junge Künstler genötigt, für mehr kuratorischen Wagemut, gegen Kommerzialisierung und gegen akademischen Mief zu protestieren. Doch avantgardistisch wurde das Ausstellungsprogramm – von wenigen Ausnahmen wie James Ensor (1914) oder Alexander Archipenko (1920) abgesehen – erst nach 1945, als das von der Biennale willfährig mitgetragene faschistisch-totalitäre Intermezzo zumindest offiziell Vergangenheit war. Nun galt es, qua kuratorischer Kehrtwende Wiedergutmachung für die vormals verfemten Künstler wie Pablo Picasso oder Künstlergruppen wie den Blauen Reiter zu leisten.

 

Der Führer im Pavillon

Die antifaschistische Avantgarde – ja, es gab auch eine faschistische – hatte es vor allem in den 1930er und ʼ40er Jahren, gelinde gesagt, schwer. 1930 wurde die Biennale per königliches Dekret von einer unabhängigen städtischen Organisation in eine «autonome Einheit» (Ente Autonomo) umgewandelt. Der Begriff war ein Euphemismus sondergleichen. Denn mit dem neuen Gesetz unterstand die Biennale fortan direkt dem Staat – und dieser nahm dazumal bekanntlich totalitäre Züge an. Der eiserne Zeitgeist wurde nun auch mit Blick auf die Exponate unübersehbar. So waren die von faschistischen Idealen geleiteten Futuristen unter anderem 1934 und 1940 mit von der Partie, Adolf Hitlers Lieblingsbildhauer Arno Breker erhielt für seine schleimigen Herrenmenschenstatuen bei der Biennale von 1940 den Mussolini-Preis. Der Führer höchstpersönlich wandelte 1934 durch die Giardini oder besser gesagt stramm auf den deutschen Pavillon zu – eine der wenigen Auslandserfahrungen des ansonsten eher provinziell aufgestellten Diktators und gescheiterten Kunstmalers. Dass Kunstgenuss eine unmittelbar pazifizierende und zivilisierende Wirkung per se habe, darf seitdem getrost bestritten werden.

 

Konformismus, getarnt als Radical Chic

Ein paar Jahrzehnte später, in den 1970er Jahren, war die Avantgarde bereits zur neuen Salonkunst des Westens geworden, mit der man sich komfortabel vom Monumentalkitsch des Sozialistischen Realismus abzugrenzen vermochte. So konnte die Biennale ihren Juste-milieu-Kurs ganz einfach im Gewand des Radical Chic fortsetzen. Viscontis Fürst von Salina aus «Der Leopard» lässt grüssen: «Alles muss sich ändern, damit alles so bleibt, wie es ist.»

Zwei Ausgaben der 1970er Jahre fielen nicht dem Biennale-Konformismus und der Ästhetisierung oder Normalisierung der Avantgarden anheim: 1974 organisierte der sozialistische Biennale-Präsident Carlo Ripa di Meana eine Solidaritätsbiennale für Chile. Oder besser gesagt: eine Biennale gegen den Diktator Augusto Pinochet. 1977 folgte, erneut unter Ripa di Meanas Ägide, die von Enrico Crispolti and Gabriella Moncada Di Milia kuratierte Hauptausstellung «La Nuova Arte Sovietica: una Prospettiva non ufficiale». Das Team um den gewieften Politiker Ripa di Meana setzte nicht auf marktgefällige Einzel- oder Gruppenausstellungen, sondern auf Bewusstseinsbildung, Workshops, Forschung, Experiment, Aktion und Partizipation. Man wollte weg von einer selbstgefällig-selbstbezüglichen, Kritik nur mehr symbolisierenden Ästhetik, wollte zurück ins Leben. Auch Auszeichnungen wie der Gran Premio wurden abgeschafft – nur um in den 1980er Jahren wieder eingeführt zu werden, als man zum Business as usual zurückkehrte. An die Stelle von «politisch-kritisch» trat nun das Prädikat «jung-interessant». So etablierten der italienische Kunstkritiker Achille Bonito Oliva und der Schweizer Kurator Harald Szeemann 1980 in den Magazzini del Sale die Biennale-Sektion «Aperto». Sie war jener Kunst gewidmet, die man heute als «emerging» bezeichnet – noch nicht ganz, aber bald schon ziemlich bekannt.

Die Reaktionen der Kunstkritik auf die kunstkritischen Biennalen der 1970er Jahre fielen erwartungsgemäss verhalten aus. So hiess es in einer Rezension des «Spiegels», die 1977er-Dissidenten-Ausstellung sei unter ästhetischen Gesichtspunkten «einer internationalen Resonanz kaum wert». Überhaupt sei der Dissens nicht immer glaubwürdig: «Dissens, so viel wird vor diesen Werken deutlich, ist keineswegs immer politischer Protest, sondern oft genug ein blosses Abseits, in das ein Künstler auf der Suche nach Freiräumen für das Experiment gerät, einer Suche auf eigenes Risiko und jenseits erstarrter Staatskunst.» Unabhängig davon, wie man die Interventionen der 1970er bewertet, muss doch zugestanden werden, dass hier versucht wurde, die Biennale einmal gründlich, nicht nur symbolisch, gegen den Strich zu bürsten. Allein: die Wirkung war nicht von langer Dauer.

 

Nation Building im Namen der Kunst

Als beständiger erwiesen sich die Nationalpavillons – «only the good die young, all the evil seem to live forever», wie schon die Altrocker von Iron Maiden wussten. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden die ersten, auch heute noch für Landeskunstnabelschauen genutzten Bauten in den Giardini errichtet. Das verlieh dem weiland in Europa grassierenden Nationalismus auch im Kunstfeld eine angemessene symbolische Form. Die bescheidenen Dimensionen der gleichsam als Botschaftsgebäude der jeweiligen Länder gedachten Ausstellungspavillons – man denke nur an die possierliche belgische Brotdosenarchitektur von 1907 – wirken auf heutige, an gigantomanische Signature Architecture gewöhnte Augen jedoch eher schlumpfig. Ungewollt künden sie dergestalt von der Kleingeistigkeit der Grossmannssüchtigen. Doch so überkommen der Hurrapatriotismus der damaligen Zeit auch wirken mag, muss daran erinnert werden, dass ungeachtet der Hochkonjunktur des Supranationalen heute mehr (formelle) Nationalstaaten existieren als jemals zuvor. In diesem Sinne stellt sich das Pavillonsystem als überkommen und zeitgemäss zugleich heraus.

Mit seinen Biennalen von 1999 und 2001 konterkarierte Harald Szeemann die hartnäckigen Nationalatavismen der Biennale. Auf dem an die Giardini angrenzenden Arsenale-Areal, einer stillgelegten Schiffswerft, inszenierte er weltumspannende, so hybride wie nebulöse Themenausstellungen. Geordnet wurden die Exponate nicht entlang nationaler Grenzen, sondern nach dem Gusto Szeemanns, des prototypischen «kartesianischen Kurators» (Beat Wyss). Alles fliesst im Arsenale. Die Werke sind Teil eines barrierefreien grossen Ganzen, nicht länger Perlen in nationalen Schatzkästchen. Ironie der Geschichte: in den Arsenale-Ausstellungen begegnet man seitdem zwar einem unhierarchischen Globalpluralismus der Exponate, doch ist dieser einem Kurator als aufgeklärtem Absolutisten zu verdanken.

Sind die Pavillons weiterhin ein Dorn im Auge von international, transnational, global, mondial oder gar «planetarisch» (Gayatri Spivak) gesinnten Zeitgenossen, so müssen sich zumindest die Antikapitalisten nicht mehr mit dem Ärgernis der Biennale als Kunstbasar herumschlagen. Zur Zeit der Studentenunruhen gingen die 68er auch in Venedig auf die Barrikaden und setzten durch, dass auf der Biennale keine Kunst mehr verkauft werden durfte. Bis anhin war das Usus gewesen. Das hehre Unterfangen der 68er verfing jedoch nicht. Zwar kleben weiterhin keine Preisschildchen an den Werken. Doch seit der 68er Revolte finden die Deals einfach im Verborgenen statt, werden die Absprachen in Hinterzimmern getroffen. Am Einfluss kapitalstarker Galerien, Sammler und Sponsoren hat sich nichts geändert, er hat sich im Gegenteil verstärkt – ganz abgesehen vom Transparenzverlust.

Ihrer langen, konformistisch-konsumistischen Geschichte zum Trotz wurde auf der Biennale immer schon Politik gemacht, allerdings weniger im Sinne vollbärtiger Kulturkritiker des 19. Jahrhunderts oder linksintellektueller Gegenkultureller des 20. Jahrhunderts. Vielmehr ist die Biennale, nebst ihrer Funktion als Drehscheibe des globalen Kunstmarkts, ein Miniaturforum der Macht- und Geopolitik im traditionellen Sinne. An ihrem Beispiel zeigt sich, dass Grossausstellungen mitnichten nur Zerrspiegel politischer und sozialer Verhältnisse sind, sondern diese konkret mitgestalten. Auf der Biennale werden Nation Building und Interessenpolitik wenn auch durch die Blume der Künste, so doch im handfesten Sinne betrieben. Nehmen wir als Beispiel den 1909 eingeweihten ungarischen Pavillon. Er wurde errichtet, obwohl es noch keine Nation gab. Ungarn war zu dieser Zeit ein Teil des moribunden Habsburgerreiches. Mit seiner folkloristischen Art-Nouveau-Architektur – die unter anderem patriotische Mosaiken von Aladár Körösfői-Kriesch und ebensolche Buntglasfenster von Sándor Nagy beinhaltete – antizipierte der von Géza Maróti entworfene Pavillon Ungarns Unabhängigkeit und damit ein Ziel, mit dem das aus dem Risorgimento entstandene moderne Italien sympathisierte. Wir haben es hier, in den Worten Ernst Blochs, mit einer «Ontologie des Nochnicht» zu tun, mit einer Wirklichkeit des Noch-nicht-Wirklichen. Der Pavillon schuf Fakten, welche die, wie üblich, etwas bummelige Wirklichkeit nur noch einzuholen brauchte.

 

Kunst und Aktivismus

An diese Tradition der Ontologisierung des Nochnicht knüpfte die israelische Künstlerin Yael Bartana 2011 auf subversive Weise zumindest temporär an, als sie im polnischen Pavillon ihr zwischen Kunst und Aktivismus angesiedeltes Projekt «Jewish Renaissance Movement in Poland: And Europe Will Be Stunned» präsentierte. Vermittels Filmprojektionen im Stile totalitärer Propaganda zeigte Bartana, wie eine halbfiktive Bewegung für die Wiederansiedlung von Millionen Juden in Polen agitiert – vor dem Zweiten Weltkrieg lebten dort viele Juden – oder diese in Warschau via Kibbuzbau in die Realität umsetzt. «Halbfiktiv», weil man tatsächlich Mitglied der Bewegung werden und sich einen entsprechenden Ausweis ausstellen lassen konnte. Verwies der ungarische Pavillon zwar auf ein Nochnicht, aber ganz im Sinne des nationalistischen Zeitgeists, so hatte Bartanas Projekt eine weitaus provokativere, rebellischere Dimension. Es ist ein gutes Beispiel dafür, wie einzelne Künstlerinnen und Künstler immer wieder den die Biennale als Organisation kennzeichnenden Mangel an utopischem Geist und Radikalität kompensieren.

 

Hingehen oder nicht?

Abschliessend stellt sich mehr denn je die Frage: Sollte man heute überhaupt noch zur Biennale di Venezia fahren, zumal es weltweit viele zeitgemässere, historisch weniger belastete Biennalen gibt? Ja, doch, man sollte – gerade wegen der Geschichte der Biennale. Denn was in Venedig jeweils ausgestellt wird, ob glaubhaft oder lächerlich, redundant oder relevant, kritisch oder affirmativ, das ist eigentlich gar nicht so wichtig. Unabhängig von den jeweiligen Themen der Hauptausstellungen, den Nationalausstellungen und den Collateral Events ist die Biennale zuvorderst eine Ausstellung über die Geschichte des 20. Jahrhunderts und eine Ausstellung über Ausstellungsgeschichte. Hier begegnet man architektonischen Restbeständen des Kolonialismus (belgischer Pavillon), des Faschismus (die Pavillons auf der Insel Sant’Elena) und des Nationalsozialismus (deutscher Pavillon), versteht man plötzlich, was postmoderner Pluralismus und postmodernes Anything Goes bedeuten (die Arsenale-Ausstellungen), und erlebt man den Übergang von der mono- zur polyzentrischen Welt des 21. Jahrhunderts, wenn man überall in der Stadt neue Ausstellungsräume von Staaten wie Angola oder Armenien entdeckt. Somit nivelliert oder verheimlicht die Biennale ihre eigene und die Geschichte des 20. Jahrhunderts nicht, sondern macht sie in Form eines «Chronotopos» (Mikhail Mikhailovich Bakhtin), als verräumlichte Geschichte, anschaulich. Es ist seit jeher ratsam gewesen, die historischen Wurzeln, aus denen die Gegenwart erwächst, nicht zu kappen. Wird Geschichte vergessen, so kehrt sie wieder. Nicht nur als Farce, wie es bei Marx heisst. Sondern auch als Force

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