Armut für alle!
Die «Degrowth»-Bewegung legitimiert die Herrschaft einer selbsternannten Elite. Und bezieht sich dabei fälschlicherweise auf Marx.
Das philosophische Projekt Immanuel Kants bestand bekanntlich in der These, der Mensch solle sich aus seiner «selbstverschuldeten Unmündigkeit» befreien und den Mut besitzen, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen. Seit Corona wissen wir, dass es mit diesen aufklärerischen Grundsätzen nicht weit her ist: Nichts wäre Kants Verständnis von Aufklärung fremder, als einer Gruppe «Experten» den individuellen menschlichen Verstand zu überantworten. Ähnlich erging es dem Vermächtnis des fest in der Tradition der Aufklärung verankerten Karl Marx, von dessen Gesellschaftsideal, in dem «die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist», wohl noch weniger übriggeblieben ist. Marx’ politisches Projekt, ähnlich jenem Kants, bestand in der Befreiung aus «selbstverschuldeten» Verhältnissen, allerdings meinte Marx damit in erster Linie die Befreiung des Menschen aus dem Zwang materieller Not. Marx bewunderte die grossartigen Fortschritte der bürgerlichen Gesellschaft – formelle Gleichheit vor dem Gesetz, Freiheit des Eigentums, demokratische Partizipation, die Anfänge der Presse- und Meinungsfreiheit, freie Berufswahl, Versammlungsfreiheit. Aber wie Adam Smith in seiner Kritik der Landbesitzer befand Marx, dass die Herrschaft einer kleinen gesellschaftlichen Klasse über andere und die Orientierung der Produktion am Profit die wirkliche Befreiung aller Menschen verunmöglichen würden. In diesem Sinne war Marx ein konsequenter Liberaler, der davon überzeugt war, dass die Entwicklung der Produktivkräfte allen Menschen dienen könne, nicht nur einer kleinen Elite. Befreiung von materiellem Zwang heisst demnach auch, den technologischen Fortschritt sinnvoll zu gestalten – Marx zufolge ein Gebot der Vernunft. Wenig zugetraut hat Marx der Menschheit jedenfalls nicht.
Heute will uns die «Degrowth»-Bewegung weismachen, dass all das nicht mehr zeitgemäss sei: «Der Mensch» sei nicht nur schuld am Klimawandel, er sei selbst das grösste Hindernis im Kampf gegen die Erhaltung von Ressourcen. Der «Kapitalismus» sei das Problem, nicht die Klassenherrschaft. Von Klassen, von Eliten oder von politischen und ökonomischen Interessen wird in diesem Milieu tatsächlich fast gar nicht gesprochen. Eine, vorsichtig ausgedrückt, unscharfe Verwendung des Kapitalismusbegriffs muss für alles Übel in der Welt herhalten: Umweltzerstörung, Ausbeutung, Rassismus, Sexismus, Homo- und Transphobie, Ableismus, Ageismus und so weiter. Marx hätte sich über diesen Pauschalangriff auf den Kapitalismus sehr gewundert: Hat nicht erst der Kapitalismus die formelle Gleichheit aller Menschen ermöglicht, die im Feudalismus noch völlig undenkbar gewesen wäre?
Gegen den Menschen
Das wirklich Skurrile an der Degrowth-Bewegung ist aber, dass sie sich allen Verdrehungen der Marx’schen Ideen zum Trotz zum Erbe des grossen Trierers erklärt. Die deutlich menschenfeindlichen Ausfälle von Les Knight, dem Gründer des Voluntary Human Extinction Movement – «schaut, was wir diesem Planeten angetan haben; wir sind keine gute Spezies!»1 –, sind leider nur die Spitze des antihumanistischen Eisbergs, der das ideologische Gerüst der Degrowth-Bewegung ist und mit Marx so viel zu tun hat wie die Spanische Inquisition mit Religionsfreiheit. Darüber kann auch der deutlich intellektuellere Ansatz des japanischen marxistischen Ökonomen Kōhei Saitō nicht hinwegtäuschen, der mit seinen theoretisch anspruchsvollen Werken «Capital in the Anthropocene» (2020) und «Karl Marx’s Ecosocialism» (2017, auf Deutsch: «Natur gegen Kapital») allein in Japan über 500 000 Exemplare verkaufen konnte. Es ist zu erwarten, dass sein neues Buch «Marx in the Anthropocene – Towards Degrowth Communism» kaum weniger erfolgreich sein wird, spricht Saitō der heutigen Konsensszene um den menschengemachten Klimawandel doch aus der Seele: «Das Profitstreben des Kapitalismus» zerstöre den Planeten, und nur der «Degrowth-Kommunismus» könne den Schaden beheben, indem er die «gesellschaftliche Produktion drosselt und dazu führt, dass Wohlstand geteilt» werden müsse. Die Menschen müssten eine «neue Art zu leben» finden, und das bedeute, den Kapitalismus zu überwinden.
Also Armut statt Luxus für alle? Nicht ganz. Statt Malthusianismus – also gezielte Bevölkerungsreduktion – lautet sein Programm Ökosozialismus: Demzufolge soll die Natur als modifizierbare, aber primär den Menschen dienende Ressource des Wohlstands dem «genossenschaftlichen Reichtum» weichen, der die Natur nicht länger als «verfügbare» Ressource betrachte und darüber hinaus kollektivistisch organisiert werde. Das kollektive Ideal, das mit der Preisgabe von Individualrechten einhergeht, läutet demnach nicht nur eine postwachsende, sondern auch eine postbürgerliche Gesellschaft ein. Ansätze dazu konnte man bereits vor einem Jahr im Zuge der deutschen Diskussion einer allgemeinen Impfpflicht erkennen, in der die Interessen des «Kollektivs» diejenigen des Individuums übertrumpfen sollten, und somit auch die Geltung der Errungenschaften der bürgerlichen Zivilgesellschaft, in deren Zentrum das Individuum und sein Schutz vor staatlicher – «kollektiver» – Übergriffigkeit steht. Es scheint, dass die kollektivistische Ideologie heutiger Grünlinker mit geltenden Machtverhältnissen ihren Frieden gemacht habe.
«Es scheint, dass die kollektivistische Ideologie heutiger
Grünlinker mit geltenden Machtverhältnissen ihren
Frieden gemacht habe.»
Konsolidierung der Elitenherrschaft
Dazu passt, dass in Saitōs Welt gesellschaftliche Klassen und ihre Interessen ebenso wenig vorkommen wie im Rest der grünen Klimabewegung und ihrer alarmistischen Weggänger. Sein Unwissen über reale Lebensverhältnisse gibt er in einem Interview mit dem britischen «Guardian» preis: Saitō zufolge habe sich durch Verzicht auf Flugreisen, Restaurantbesuche und Konsum «unsere ganze Lebensweise über Nacht» geändert – ein besseres Leben wurde durch die Covidkrise angeblich erst möglich.
Man fragt sich, ob «systemrelevante» Arbeiter, Kleinunternehmer, die wegen des Lockdowns ihre Geschäfte aufgeben mussten, Kinder aus ärmeren Familien, denen während der Schulschliessungen kein Laptop zur Verfügung stand, oder Menschen, die wegen der Äusserung coronakritischer Positionen ihre Jobs verloren haben, die Pandemie als ebenso angenehm erleben konnten wie der inzwischen zum Professor der renommierten Universität Tokio avancierte «Marxist» Saitō. Die Blindheit für Menschen, die nicht wie er zur Laptop-Klasse gehören, ist repräsentativ für die Weltfremdheit und den Hohn gegenüber ärmeren Schichten, der die klimaaktivistische Szene als ganze charakterisiert. Weiterhin zu behaupten, Klimaideologie hätte etwas mit Marx und nicht etwa mit der Konsolidierung von Elitenherrschaft zu tun, ist im besten Falle ignorant, im schlimmsten unaufrichtig.
Ehrlicher ist da «taz»-Redaktorin Ulrike Herrmann, die ebenfalls den «Kapitalismus» überwinden will und dazu ein programmatisches Werk verfasst hat.2 Die Autorin propagiert, ganz im Sinne neoliberaler Austerität, die sie als Linke ja eigentlich zu bekämpfen vorgibt, «grünes Schrumpfen» statt «grünem Wachstum». Auch für sie ist Enteignung von Menschen- und Zivilrechten, Prekarität und Gütermangel ein Desideratum, nicht – wie noch für Marx – etwas zu Beseitigendes. Freilich stellt sich Herrmann gar nicht erst in die emanzipatorische Tradition, sondern propagiert im Gegenteil ein bislang wenig naheliegendes Vorbild – die britische Kriegswirtschaft ab 1939: «Fast über Nacht entstand eine Planwirtschaft, die bemerkenswert gut funktionierte. Die Fabriken blieben in privater Hand, aber der Staat steuerte die Produktion – und organisierte die Verteilung der knappen Güter. Es wurde rationiert, aber es gab keinen Mangel.» Wenn «Rationierung, aber kein Mangel» das Kriterium ist, warum dann die britische Kriegswirtschaft als Vorbild anführen, und nicht etwa die Naturalwirtschaft südpazifischer Inselbewohner? Diese ist ebenso weit entfernt von aktueller Produktivkraftentwicklung wie Churchills War Economy. Zumal die Forderung nach der Einsparung von Ressourcen, zumindest im durch gesellschaftliche Enteignung geprägten Deutschland, schon längst von der Realität eingeholt wurde: Mehr als 13 Millionen Menschen in Deutschland sind armutsgefährdet und müssen sich überlegen, ob sie heizen oder essen wollen, während «grüne Spitzenpolitiker hilfreiche Tips zur Körperhygiene oder Essgewohnheiten geben», wie der «Welt»-Autor Jörg Wimalasena treffend bemerkte. Soll eine allgemeine Vernichtung von Wohlstand das Ziel sein, lässt sich bei den heutigen Linksintellektuellen kaum ein Unterschied zur ideologischen Losung des WEF – «you will own nothing and you will be happy» – erkennen. Marxisten Seite an Seite mit dem globalen Kapital, im Gleichschritt für allgemeine Enteignung: Wenn das der Autor des «Kommunistischen Manifests» noch hätte erleben dürfen!
Was soll gerettet werden?
Am Ende fragt man sich, für wen der Planet eigentlich gerettet werden soll. Ähnlich wie die biopolitische Reduktion auf das «nackte Leben» (Giorgio Agamben) während der Coronazeit macht sich hier ein vitalistischer Reduktionismus bemerkbar: Leben retten, auch gern auf Kosten des Wohlstands, der Würde und aller Errungenschaften der bürgerlichen Zivilisation. Die Frage, «für was es sich zu leben lohnt» (Robert Pfaller), wird nicht gestellt. Und auch die genuin politische Frage, wie wir eigentlich leben wollen, führt in der Degrowth-Bewegung ein trauriges Schattendasein. Wie bei Corona hat «die» Wissenschaft die Deutungshoheit übernommen. «Experten» sind zu alleinigen Entscheidungsträgern geworden, bis ins Detail der Frage, wie viele Menschen ich treffen oder wie weit ich mit dem Auto fahren darf.3 Auffallend ist die merkwürdige Absenz der Klassenfrage bei Degrowth-Marxisten wie Saitō. Ihm scheint nicht aufzufallen, dass die Klimadebatte in erster Linie eine Herrschaftsdebatte ist – gesellschaftliche Enteignung ist eine Frage von Macht- und Klassenverhältnissen, keine der Natur. Ebenso wenig wie «das Virus» für Lockdowns verantwortlich war, sondern die Politiker, die sie anordneten, ist es in der Klimafrage die «Natur» (welche meist auf nichtmenschliche Natur reduziert wird), die uns vorschreibt, wie wir leben sollen. Es sind Menschen in staatlichen Institutionen, die über bedeutende Einschnitte in unseren Wohlstand entscheiden, nicht das «Klima».
Marx, der die (Selbst-)Darstellung bestimmter menschlicher Entscheidungen als «naturgegeben» vielmehr als Motiv zur Sicherung von Herrschaft entlarvte, hätte sich über die Degrowth-Bewegung sehr gewundert. Dass die Zurückdrängung demokratischer Anliegen durch einen technokratischen Autoritarismus ausgerechnet von heutigen «Marxisten» propagiert wird, hätte ihn hingegen weniger gewundert: Noch zu Lebzeiten erkannte er, dass seine angeblichen Fürsprecher seine Lehre kaum verstanden hatten. Sein Kommentar: «Alles, was ich weiss, ist, dass ich kein Marxist bin!»
http://www.nytimes.com/2022/11/23/climate/voluntary-human-extinction.html ↩
Ulrike Herrmann: «Das Ende des Kapitalismus. Warum Wachstum und Klimaschutz nicht vereinbar sind und wie wir in Zukunft leben werden» (Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2022). ↩
http://www.theguardian.com/us-news/2023/jan/25/15-minute-city-urban-planning-future-us-cities ↩