Arbeitsfrei
Um zu überleben, musste der Mensch immer arbeiten. Von Anbeginn stand seine Existenz unter diesem Joch. Tagtäglich folgt er dem Kreislauf der Selbsterhaltung, dem endlosen Wechsel von Verausgabung und Regeneration, von Erzeugen und Verbrauch. Arbeit und Konsum. In diesem Mühlrad fristet er sein Dasein. Von der Notdurft des Lebens sind nur jene befreit, die von […]
Um zu überleben, musste der Mensch immer arbeiten. Von Anbeginn stand seine Existenz unter diesem Joch. Tagtäglich folgt er dem Kreislauf der Selbsterhaltung, dem endlosen Wechsel von Verausgabung und Regeneration, von Erzeugen und Verbrauch. Arbeit und Konsum. In diesem Mühlrad fristet er sein Dasein. Von der Notdurft des Lebens sind nur jene befreit, die von anderer Leute Arbeit oder Abgaben leben. Wer jeden Morgen zur Fronstätte eilt, die ihm das Überleben sichert, hat sich ein Bewusstsein davon erhalten, dass Arbeit mit Mühe, Anstrengung und Unterwerfung verbunden zu sein pflegt. Er zählt die Stunden bis zum Feierabend, die Tage bis zum Wochenende, die Wochen bis zum Urlaub. Wer täglich Zeiten von zehn, zwölf, vierzehn Stunden zu absolvieren hat – und dies ist in der globalen Arbeitsteilung keine Seltenheit –, der erlebt in Leib und Gemüt, dass Arbeit vielfach Leiden, Schmerz und Plackerei heisst. Wer all seinen Ehrgeiz in einen persönlichen Masterplan gesetzt hat, wird nach einigen Karrierejahren nicht selten von der Einsicht ereilt, dass das Leben kaum planbar und Arbeit nicht einmal die Hälfte davon wert ist. Die moderne Ideologie der Arbeitsgesellschaft hat den Fluch jedoch zum Segen, das Reich der Notwendigkeit zum Reich freier Selbstverwirklichung verklärt. Den Zwang hat sie zur Pflicht oder gar zur Tugend umgewidmet. Sie verwarf das antike Ideal des Tätigseins, bekämpfte den Müssiggang der Höflinge und Bettler, lobte die Arbeit als des Bürgers Zierde und erklärte die Faulheit zum Werk des Teufels. In dem Masse, wie Disziplin und Verdichtung der Arbeit zunahmen, wurde der Unterschied zwischen Herstellen und Produktion, zwischen dem Homo faber und dem Animal laborans eingeebnet. Arbeit wurde als Quelle allen Eigentums und Lebenssinns verherrlicht. Der Lebensunterhalt wurde zum Lebensinhalt. Seitdem lebt die Mehrheit der Menschen, um zu arbeiten, anstatt auch zu arbeiten, um gut zu leben. Sogar als Ursprung der Freiheit hat man die Arbeit gepriesen, in populären Traktätchen und hochfliegenden Theorien, zuletzt auch an den Toren der Lager. Je höher man die Arbeit bewertete, desto mehr verlor sich das Sensorium für den Sinn anderer Tätigkeiten. Was immer Menschen tun, alles gilt mittlerweile als Arbeit, ob sie mit ihren Kindern spielen, ob sie das Frühstück zubereiten, miteinander reden, einander lieben, sich gegenseitig helfen, jemandem etwas beibringen oder selbst etwas lernen, ob sie private, öffentliche oder politische Angelegenheiten erörtern, alles ist Arbeit: Erziehungsarbeit, Bildungsarbeit, Beziehungsarbeit, Pflegearbeit, Trainingsarbeit. Für jede Beratung und Betreuung stehen mittlerweile Fachkräfte bereit, deren Arbeit zu entlohnen ist, für den Ehestreit der Therapeut, für die Müdigkeit der Coach, für die Muskeln der Masseur, für die Welterklärung der Priester oder Skribent. Sogar die Freizeit wird nach dem Muster der Arbeit gestaltet; sie wird geplant, organisiert, einem Zweck unterstellt, regelmässig wiederholt, auf Tempo und Effizienz getrimmt, und manche schuften bis zum Umfallen, weil sie eine längere Weile fürchten und sich eine Minute ohne Arbeit gar nicht mehr vorstellen können. Ein Leben frei von Arbeit gehört für viele Menschen zu den schwersten Belastungen, weil mit Einkommen, Status und Anerkennung auch das Gefühl eigener Bedeutung schwindet. Freiheit von Arbeit ist für die Mehrzahl ein Albtraum, sie wünschen sich allenfalls kleine Spielräume bei der Arbeit und eine Verringerung des Arbeitszwangs, aber keine Freiheit von Arbeit. In freiwilliger Knechtschaft fügen sie sich dem Reich vermeintlicher Notwendigkeit. Dabei könnten unzählige stumpfsinnige, auszehrende und repetitive Arbeiten in Fertigung, Verwaltung und Dienstbetrieb längst so technisiert, erleichtert, anders verteilt und organisiert werden, dass die Notwendigkeit aufs sachlich notwendige Minimum begrenzt und das Reich der freien Tätigkeit aufs mögliche Maximum erweitert würde. Dafür jedoch müssten sich die Zeitgenossen daran erinnern, dass nicht jede Tätigkeit Arbeit und dass die Zeit des Tages keineswegs nur Arbeitszeit ist.