Apostel der Freiheit
Papst Benedikt XVI hat das Paulus-Jahr ausgerufen, das noch bis im Juni dauert. Er hat damit das Geschenk besonderer Ablässe an die Gläubigen verknüpft. Passt das zusammen?
Die Basilika des Apostels heisst sinnigerweise «St. Paul vor den Mauern». Sankt Paul scheint sich wohl zu fühlen dort draussen. Offenbar hat er extra muros die Freiheit gefunden, die er im Zentrum vergeblich gesucht hatte.
Christus, heisst es im Hebräerbrief, habe «draussen vor dem Tor gelitten» (Hebr. 13,12). Paulus befand sich vor seiner Umkehr, symbolisch gesprochen, innerhalb des Tores, umgeben von den Mauern des Gesetzes. Dann drang jener Nazarener, der «draussen» gelitten hatte und am Kreuzgalgen gestorben war, in seine Existenz ein. Die geschlossene Gesellschaft, innerhalb derer er bislang sein Leben geführt hatte, wurde aufgebrochen. Paulus war frei.
Diese Freiheit sollte nach dem Willen des Apostels nie wieder verlorengehen. «Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So stehet nun fest und lasset euch nicht wiederum in das knechtische Joch fangen!», schrieb er an Zeitgenossen, die zum alten Heilsweg des Gesetzes zurückkehren wollten (Gal. 5,1). Es sind gemäss Paulus nicht primär Laster, Lüste und Süchte, aus denen uns der Christus befreit hat. Nicht Gesetzlosigkeit ist seiner Meinung nach das Joch, das uns knechtet, sondern – das Gesetz!
Vor seiner Begegnung mit dem Christus war Paulus Pharisäer, was «Abgesonderter» bedeutet. Er unterschied sich von der Masse durch minutiöse Beachtung des Gesetzes. Darauf baute er seine Identität. Das Gesetz bildete die Mauer, die Reines von Unreinem, Erwähltes von Verfluchtem trennt. Gemäss dem Gesetz hängt über der Todesart, der Jesus zum Opfer fiel, Gottes Fluch. «Verflucht ist jeder, der am Holze hängt», steht in der Bibel geschrieben (Dtn. 21,23, vgl. Gal. 3,13).
In seiner Christusvision nun sah Paulus, dass dieser Verfluchte der Messias sei, die menschliche Manifestation Gottes. Diese umstürzende Erfahrung reflektierte er, der Schriftgelehrte, der als erster Theologe des Christentums gilt, mit paradoxen Formulierungen: Christus habe uns vom Fluch des Gesetzes erlöst, indem er selber für uns zum Fluch geworden sei (Gal. 3,13). Er habe sich seines göttlichen Glanzes entledigt, sei aus der Stadt hinaus zur Schädelstätte gegangen, zum Galgen von Golgatha, hinab in die düsteren Sphären der Hölle (vgl. Phil. 2,6ff.). Der Christus also – tot! Der Messias – verflucht! Man könnte, Paulus paraphrasierend, sagen: im Messias Jesus befreite sich Gott von seiner Identität. Der Allmächtige wurde ohnmächtig, der Vollkommene unvollkommen, der Allumfassende begrenzt.
All dies, sagt Paulus, hat Gott pro nobis, für uns getan. Die Transformation Gottes hat mithin Konsequenzen für den Menschen, der sich davon in Anspruch nehmen lässt. Auch diese Konsequenzen sind paradox. Christförmig werden heisst nämlich nicht, fortan fromm, heilig, «christlich» zu leben. Christförmig werden bedeutet vielmehr, sich seinerseits – wie Gott – von seiner Identität zu befreien. Für den pharisäischen Juden Paulus waren die Identifikatoren, deren es sich zu entledigen galt, u.a.: Beschneidung am achten Tag. Zugehörigkeit zu einem israelitischen Stamm. Gesetzestreue. (Vgl. Phil. 3,5) All dies erschien ihm aus der neuen Perspektive – sit venia verbo – als «Scheisse» (Phil. 3,8).
Auch an anderer Stelle artikuliert sich der Apostel im Trashjargon: «Wir sind geworden wie der Abschaum der Welt, jedermanns Kehricht» (1 Kor. 4,13). Dasselbe paradoxe Prinzip bringt er auch mit existenziellen Begriffen zur Sprache: was das alte Ich ausgemacht hat, lebt nicht mehr. Das Ego ist tot: «Ich lebe; doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir» (Gal. 2,20).
Die Vernichtung des alten Ichs führt zu neuer Gelassenheit gegenüber den Umständen des Lebens. Der Gebrauch weltlicher Gegenstände erfolgt nun in innerer Freiheit, die Bindung an Emotionen ist gelöst: «Fortan müssen, die da weinen, sein, als weinten sie nicht; und die sich freuen, als freuten sie sich nicht; und die da kaufen, als besässen sie es nicht; und die diese Welt gebrauchen, als gebrauchten sie sie nicht» (1 Kor. 7,29f.). Der Stand ist irrelevant: «Denn wer als Sklave berufen ist in dem Herrn, der ist ein Freigelassener des Herrn; desgleichen, wer als Freier berufen ist, der ist ein Knecht Christi. Ihr seid teuer erkauft worden; werdet nicht der Menschen Knechte» (1 Kor. 7,22f.).
Man hat Paulus vorgeworfen, dass diese Haltung zu politischem Fatalismus führe: wo die Umstände gleichgültig seien, würden sie auch nicht verändert. Doch ist eine sanftere und zugleich schärfere Auflösung jeglicher Form von Ständedenken denkbar als jene, die aus der Einheitserfahrung fliesst? Das von Paulus postulierte Ende des Gesetzes bedeutet das Ende jedes Egoismus: «Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Knecht noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allzumal einer in Christus Jesus» (Gal. 3,28).
Die Freiheit vom Ich macht es – auch diese Folge sei abschliessend noch angedeutet – dem Christenmenschen möglich, sich situativ neu zu erfinden. Gleich Paulus kann er den Griechen ein Grieche, den Juden ein Jude, den Gesetzlosen ein Gesetzloser, den Schwachen ein Schwacher sein (vgl. 1 Kor. 9,19ff.).
Nun ist auf der Website zum Paulusjahr zu lesen, der Papst gewähre anlässlich des Jubiläums den Gläubigen das Geschenk besonderer Ablässe, mitunter für arme Seelen im Fegefeurer (Details siehe www.paulusjahr.info). Auch hier geht es um Befreiung: der Sünder wird von «zeitlichen Sündenstrafen», die er zur Genugtuung Gottes leisten müsste, mittels eines besonderen Gnadenaktes entbunden. Doch hat diese Art der Befreiung nichts zu tun mit jener, die Paulus erlebt und gelehrt hat. Im Gegenteil: unter dem Vorwand der Befreiung führt dieser Ablasshandel direkt unters Joch der Knechtschaft zurück. Denn die Freiheit des Paulus ist nicht quantifizierbar.
Sünden sind nicht wägbar, ebensowenig die Strafen, Busstaten und Guttaten. All dies hat in der befreiten Existenz kein Gewicht mehr. Es ist zur Illusion geworden, zum Schatten und Schemen. Wie sollte eine vernichtete Identität die guten Werke leisten, die das Gesetz fordert? Sie wäre ja Nichts, wäre da nicht die Gnade, die Zuneigung Gottes, der in freiwilliger Selbstvernichtung Mensch geworden ist und noch den letzten Verfluchten zu sich selbst befreit hat. So jedenfalls die Meinung des Paulus.
Deshalb möchte man den Papst veranlassen, von Paulus abzulassen, wenn’s um Ablass geht. Und den Apostel den Apostaten zu überlassen. Deren grösster, Martin Luther, hat «von der Freiheit eines Christenmenschen» im Anschluss an Paulus folgendes gesagt: Ein Christenmensch ist frei «von allen Dingen und über alle Dinge, also dass er keiner guten Werke dazu bedarf, dass er fromm und selig sei… Und wo er so töricht wäre und meinte, durch ein gutes Werk fromm, frei, selig oder ein Christ zu werden, so verlöre er den Glauben mit allen Dingen, gleich wie der Hund, der ein Stück Fleisch im Munde trug und nach dem Schemen im Wasser schnappte, damit Fleisch und Schemen verlor.»
Andreas Fischer, geboren 1966, ist evangelisch-reformierter Pfarrer in Zürich Schwamendingen.