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Anrufung der Melancholie

Andreas Neeser könnte ein Minimalist sein. Aus lyrischen Bezügen kommend, monogrammiert er die Welt auch in seiner Prosa. Für die acht Erzählungen in seinem neuen schmalen Band «Unsicherer Grund» beansprucht er gerade einmal hundert Druckseiten. Das kennt man von den prosaschreibenden Lyrikern, dieses Anwenden des lyrischen Prinzips auf Prosatexte, das Vermengen lyrischer Momente mit prosaischer […]

Andreas Neeser könnte ein Minimalist sein. Aus lyrischen Bezügen kommend, monogrammiert er die Welt auch in seiner Prosa. Für die acht Erzählungen in seinem neuen schmalen Band «Unsicherer Grund» beansprucht er gerade einmal hundert Druckseiten. Das kennt man von den prosaschreibenden Lyrikern, dieses Anwenden des lyrischen Prinzips auf Prosatexte, das Vermengen lyrischer Momente mit prosaischer Narration, und man kennt das übliche Ergebnis: Verkappung. Neeser aber ist kein Minimalist, bei ihm kann von verkapptem Erzählen keine Rede sein.

In den acht ruhigen, genau gearbeiteten Erzählungen des schmalen Bandes geht es um in jeder Hinsicht einzelne. Einzelgänger wäre hier das falsche Wort, denn Neeser zielt mit der Figur des einzelnen nicht auf ein Eigenbrötlertum, sondern auf nichts Geringeres als das Alleinsein mit sich und der Welt. Darauf rekurriert auch der Titel «Unsicherer Grund», der einerseits sich auf den Boden unter den Füssen beziehen, anderseits im Sinne einer mangelnden Begründung verstanden werden kann, als Markierung unbekannten Verlusts. Neeser ruft in seinen atmosphärischen Erzählungen die Melancholie an, und er tut das meisterlich. Er kommt ohne jedes Raunen aus, vermeidet das Bedeutungsschwere mit leichter Hand.

«Bei der Haltestelle U-Bahnhof steige ich aus dem Bus der Linie 32 aus. Ebensogut hätte ich weiterfahren können oder die Linie wechseln, aus der Stadt hinaus, in eine weitere Nacht nach einem weiteren Tag. Es hätte keine Rolle gespielt.» Der Ich-Erzähler in «Damals an Ostern» leidet unter Bandscheibenschmerzen und an der Trennung von Stefanie und deren Kind. In dieser Erzählung entscheidet sich Neeser für eine Situationsbeschreibung, während er in den anderen sieben gekonnt Wendepunkte setzt und seine Figuren eben auf sicheren Grund stellt. Zwar verwendet er stets das Mittel der Introspektion und fügt dabei erzählerische Versatzstücke nach und nach zu einer Erzählung. Aber die Puzzles gehen stets auf; etwa in «So viel Leben», worin ein Büchersammler von seiner Obsession geheilt wird, als er sich vor einem liquidierten Buchantiquariat wiederfindet; oder in «Gran Partita», worin der Schrei einer Möwe den Wendepunkt in der Befindlichkeit des Ich-Erzählers auf einem Strandspaziergang markiert: «Ein erster, ein einziger, ein Ton aus dem voranfänglichen Sturm am Meer, voller Absicht und Bewusstsein. Es ist der Ton einer Klarinette, hoch, spitz und kurz. Vielleicht ein Gruss, ein Scherz im Übermut. Zu entscheiden ist es nicht, und sicher ist nur: Am Anfang der Welt ist die Klarinette im Wind.»

Andreas Neesers einzelne sind einzelne auch deshalb, weil sie um ihre Situation wissen. In «Einsame Magier», der vielleicht schönsten Erzählung des Bandes, bringt das der Ich-Erzähler auf den Punkt: «Man kann nicht stehenbleiben, wo man nicht mehr ist.» Neeser selbst ist als Erzähler weit gegangen – zu unserem Genuss.

Andreas Neeser: «Unsicherer Grund». Innsbruck: Haymon, 2010

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