Angst vor dem Absturz
Scheitern ist verpönt – politisch wie pädagogisch. Dabei sind es Misserfolge, die Wachstum erst ermöglichen.
Es ist kein Zufall, dass «Too Big to Fail» zum Schlagwort der Finanzkrise wurde. Doch Bail-outs und Subventionen gewährt der Staat nicht nur Banken, sondern auch Bürgern und Familien. Egal, ob es um zusätzliches Arbeitslosengeld, Zückerchen für die Landwirtschaft oder Rettungsgelder für taumelnde Unternehmen geht: die vorherrschende politische Meinung scheint heute zu sein, dass Scheitern ein ganz grosses Übel sei. Erfolg ist nur gut, Scheitern ist nur schlecht – folgerichtig sollte die Gesellschaft alles tun, um letzteres zu verhindern oder jegliche Folgen davon sofort aufzufangen. Doch stimmt das: hat Scheitern wirklich keinerlei Wert? Gibt es nichts Gutes darüber zu sagen? Gutes, das legitimieren würde, es vielleicht wieder öfter zuzulassen?
Nun, ich bin überzeugt davon, dass das Scheitern für Menschen essenziell ist. Wir brauchen es, um zu lernen und uns zu entwickeln. Das ist im Persönlichen für jeden offensichtlich, oder sollte es zumindest sein. Misserfolge zeigen uns immer wieder Grenzen auf und lassen uns nachdenken über das, was wir tun. Genauso gilt das aber auch für die ökonomische Welt. Menschen und Organisationen lernen durch Fehlversuche, was im Markt funktioniert und was nicht. Mit anderen Worten: Scheitern hat sehr wohl einen Sinn. Es hat einen sozialen und ökonomischen Wert, und wenn wir es ständig abblocken, schaden wir auf lange Frist nicht nur den betreffenden Akteuren, sondern der Gesellschaft als Ganzes. Ohne Scheitern, so meine These, kann es weder menschliches noch wirtschaftliches Wachstum geben.
Dabei lässt sich das Private nicht vom Politischen trennen. Der Grund dafür ist, dass die Überzeugung, dass Scheitern dazugehört, in einer bestimmten Werthaltung wurzelt. Solche Werthaltungen werden von Generation zu Generation weitergegeben – zuallererst in der Familie, aber auch in Schulen und religiösen Institutionen. Beginnt man an diesen Orten eine Kultur zu pflegen, die Scheitern um jeden Preis vermeiden will, untergräbt man damit Werte, die für eine freie, fortschrittliche Gesellschaft unerlässlich sind. Darum müssen wir auch darüber sprechen: Das Private ist hier tatsächlich politisch.
Von der Ökonomie und Politik des Scheiterns
Wenden wir uns erst etwas vertiefter der Ökonomie zu. Warum ist hier das Scheitern so wichtig? Ökonomen, insbesondere jene der Österreichischen Schule, lehren uns, dass Unternehmer Erkenntnisgewinne vorantreiben und effizientere Produktionsarten ertüfteln. Sie sorgen für Fortschritt und letztlich auch für Wohlstand. Doch auf dem Weg dorthin scheitern unternehmerische Unterfangen mindestens so oft, wie sie Erfolg haben. In den USA geht jedes zweite Unternehmen innerhalb der ersten fünf Jahre wieder vom Markt, in der Schweiz genauso. Der wichtige Punkt ist nun aber: diese missglückten Aktivitäten sind ebenso bedeutend wie jene, die reüssieren. Ökonomen finden Marktwirtschaft nicht deshalb sinnvoll, weil sie etwa besonders schnell und geradlinig zu neuem Wissen und besserer Zusammenarbeit führen würde – das tut sie nicht. Sie bietet vielmehr einen Prozess, der es Menschen ermöglicht, aus Fehlern zu lernen, und der Anreize schafft, diese zu korrigieren. Unternehmer haben keinesfalls immer recht. Aber in einer gut funktionierenden Marktwirtschaft bekommen sie zu spüren, wenn sie falsch liegen, und sie erhalten Informationen, wie sie es das nächste Mal besser machen könnten.
So gründete etwa der junge Walt Disney, dies nur ein Beispiel von vielen, 1921 ein Unternehmen mit dem Namen Laugh-O-Gram. Innerhalb von zwei Jahren war es bankrott – gescheitert. Hätten damals der Staat oder irgendein Freund eingegriffen und damit Laugh-O-Grams Scheitern verhindert – Disney, 1923 gegründet, wäre wohl nie zu dem geworden, als das wir es heute kennen.
Treibstoff des Wandels
Durch diese Brille betrachtet, wird Scheitern zum essenziellen Treibstoff für Wandel. Es ist zwar die Aussicht auf Erfolg, die uns anspornt, uns Ziele zu setzen und darauf zuzugehen. Doch erst das Scheitern zeigt uns auf, welche Ziele sich tatsächlich lohnen und welche nicht. Hat man diesen Zusammenhang verstanden, wird auch klar, warum eine Gesellschaft ein Umfeld schaffen sollte, in dem es einem nicht nur freisteht, Erfolg zu haben, sondern auch zu scheitern.
Lassen Sie mich etwas ausholen, um das noch deutlicher zu machen. Was wir brauchen, ist ein vertiefteres Verständnis davon, wie der vielzitierte Markt eigentlich funktioniert. Für die Ökonomen der Österreichischen Schule besteht die fundamentalste ökonomische Aufgabe nicht in einer möglichst effizienten Ressourcenallokation zu einem bestimmten Zeitpunkt, sondern darin, eine Lösung für das sogenannte «Wissensproblem» zu finden – also die Tatsache, dass Wissen in einer sozialen Welt zersplittert und verteilt ist. Das muss uns zuallererst beschäftigen, denn es ist der Wissensfortschritt, aus dem wirtschaftliches Wachstum und damit Wohlstand entstehen. Ginge es in der Ökonomie nur darum, bereits bekannte Ressourcen möglichst effizient einzusetzen, wären wir in einer stagnierenden, statischen Welt gefangen. Wäre beispielsweise der Pflug zu einem bestimmten Zeitpunkt der effizienteste Wirkungsort für Metall, würden wir einfach massenweise nur noch Metall in Fabriken schicken, um Pflüge zu produzieren. Wo bleibt in diesem Modell Raum für Innovation und Wandel? Am Anfang jeglichen Fortschritts steht nicht Effizienz, sondern eine Idee. Etwa die, statt Pflügen – so effizient die bisherige Pflugproduktion auch sein mag – künftig Traktoren zu bauen. Entdeckungen und Erfindungen sind der springende Punkt: Unternehmer verändern, was der aktuell effizienteste Ressourceneinsatz ist, indem sie neue Einsatzmöglichkeiten entdecken. Es geht um Wissensfortschritt – und damit um Austausch.
Wir neigen dazu, Wissen als ein objektives Stück Information zu sehen, das sich über Worte oder Zahlen weitervermitteln lässt. Das gilt in manchen Fällen. Doch oft zeigt sich menschliches Wissen in anderer Form: es ist verteilt, kontextabhängig und oft nur implizit vorhanden. Menschen wissen unterschiedliche Dinge. Manches wissen sie nur, weil es überhaupt einen Kontext gibt dafür: Vieles, was etwa Konsumenten und Produzenten wissen, hängt daran, dass es überhaupt einen Markt mit der entsprechenden Sprache gibt. Und sehr vieles Wissen haben Menschen unausgesprochen. Wir wissen sehr vieles, was nicht in Worte oder Statistiken gefasst werden kann. Radfahrer können sich fortbewegen – aber versuchen Sie einmal, jemandem zu erklären, was Sie dabei ganz genau tun. Damit Menschen auch implizites Wissen voneinander erfahren können, braucht es andere Möglichkeiten als Worte, um es sichtbar zu machen.
Aus all diesen Gründen braucht es einen Markt. Erstens schafft er einen Ort, an dem Menschen ihr verteiltes Wissen austauschen können. Zweitens schafft er einen Kontext, auf den sich Konsumenten und Produzenten beziehen können. Und drittens schafft er einen Prozess, der die oft nur implizit vorhandenen Erfahrungen und Vorlieben der Menschen sichtbar macht, ohne dass sie sie offiziell erklären müssen. Das tut die Konkurrenzsituation des Marktes: Er lässt die Menschen einfach handeln – und Preise, Gewinne und Verluste liefern uns und ihnen selber als sogenannte Signale Informationen darüber, was sie tatsächlich wollen.
Mensch als Abenteurer
Die Konkurrenzsituation des Marktes treibt die Entdeckung neuen Wissens und unternehmerische Aktivität voran. Sie ermöglicht es einer Vielzahl von Akteuren, sowohl über einen besseren Ressourceneinsatz als auch über neue potenzielle Ziele nachzudenken. Eigentumsrechte und die Freiheit, Entscheidungen zu treffen, müssen auf viele Menschen verteilt sein – eben weil auch Wissen verteilt ist. Es braucht die Verteilung, damit das, was F. A. Hayek von Zeit und Ort abhängiges «lokales Wissen» nannte, möglichst gut wirken kann.
Diese Art des Denkens eröffnet uns ein völlig neues Verständnis davon, was ein Markt ist. Im Grunde nämlich dies: ein Experiment, in dem zahlreiche Leute immer wieder ihren persönlichen Annahmen zu den besten Produkten und Produktionsprozessen zu folgen versuchen. Das ist Innovation im Wirklichkeitstest, und zwar ohne dass irgendjemand dafür um Erlaubnis gebeten werden müsste. Zentralisierte Planwirtschaft hingegen stützt sich zwingend auf das Wissen einiger weniger Menschen ab – und schränkt auf diese Weise die Entdeckung und das Teilen von Wissen stark ein. Indem wir Menschen mit ihren eigenen Ressourcen experimentieren lassen, innerhalb des Prozesses mit Preisen, Gewinnen und Verlusten, lernen wir, was anderen Menschen dient. Wir lernen auch, was sie nicht schätzen. Und genau hier kommt das Scheitern ins Spiel.
Reise ins Ungewisse
Ludwig von Mises vertrat die Ansicht, dass alle menschlichen Aktionen darauf hinarbeiteten, ein «gefühltes Unbehagen» abzubauen. Wir streben danach, uns weiterzuentwickeln, unseren wichtigsten Zielen möglichst nahe zu kommen. Das wird uns jedoch nie vollständig gelingen – niemand wird dem Unbehagen ganz entkommen. Es gibt immer etwas, das unerfüllt bleibt. Und das treibt die Menschen an. Israel Kirzner spricht in diesem Zusammenhang von einer «Aufmerksamkeit», die menschlicher unternehmerischer Aktivität eigen ist. Damit sie aktiv werden, müssen potenzielle Unternehmen zuerst überhaupt auf mögliche Geschäftsideen aufmerksam werden. Und das werden sie, weil andere vor ihnen daran gescheitert sind, «gefühltes Unbehagen» abzubauen. Also machen sie sich daran, es auf einem besseren Weg zu versuchen oder überhaupt das Ziel neu zu definieren. Mit anderen Worten: das Scheitern anderer vor uns ist ein Katalysator für Innovation. Unternehmerische Aktivität gedeiht auf der Rückseite des Scheiterns.
Es kann ohne Scheitern keinen Fortschritt geben. Erst die misslungenen Versuche anderer machen Unternehmer auf Geschäftsmöglichkeiten aufmerksam. Firmen, die Verluste schreiben und vom Markt gehen, eröffnen neue Chancen für andere. Konkurse sind kurzfristig schmerzhaft für alle Beteiligten. Sie sind aber essenzielle Erfahrungen für jegliche unternehmerische Aktivität: Sie zeigen uns an, wo es sich lohnen könnte, weiterhin Zeit und Geld zu investieren – und wo eher nicht. Gewinne und Verluste sind Signale, die Marktteilnehmer auf ihrem Weg leiten.
Dieser Weg ist in einer Marktwirtschaft immer eine Reise ins Ungewisse. Was funktioniert und was nicht, wissen wir immer erst im Nachhinein. Gescheiterte Versuche sehen darum nur in der Rückschau überflüssig oder unnötig aus – niemand weiss jeweils, welche Entscheide sich als klug herausstellen werden und welche nicht. Scheitern bedeutet Lernen. Darum mögen wir Scheitern vielleicht im individuellen Fall und im Nachhinein als ärgerliche Verschwendung empfinden. Als grundsätzliches Phänomen und mit Blick in die Zukunft aber ist Scheitern unerlässlich, damit Neues entstehen kann.
Warum Bail-outs so schädlich sind
Kommen wir zu der heutigen Situation und der Frage, warum die verbreitete politische Aversion gegen das Scheitern so schädlich ist. Nun: die Subventionen, Bail-outs, Wachstumsspritzen und anderen Instrumente, die westliche Staaten zunehmend einsetzen, unterbrechen den oben beschriebenen essenziellen Lernprozess. Sie berauben die Marktakteure der für ihre Navigation so wichtigen Signale.
Agrarsubventionen beispielsweise verhindern, dass Landwirte in der Vergangenheit begangene Fehler erkennen, geschweige denn aus ihnen lernen können. Möglicherweise gäbe es längst neue und bessere Arten als die heute etablierten, um Nahrung herzustellen. Nur: wie sollen Unternehmer das überhaupt ahnen können, wenn die Regierung Landwirte über Wasser hält? Es kann sehr gut sein, dass dezentralisierter und lokaler Nahrungsanbau eigentlich viel profitabler wäre als das heutige Modell der grossen Monokulturen – wenn man denn die Landwirtschaft nicht mit billigem Wasser und Preisstützen subventionieren würde. Möglicherweise könnten auch Landwirte in Entwicklungsländern längst bessere Produkte anbieten und mehr Geld verdienen, wenn Europa und die USA ihre Bauern nicht mit Subventionen vor internationaler Konkurrenz schützen würden. Indem sie verhindern, dass ineffiziente Produktionsmethoden auch tatsächlich zu Verlusten führen, bewahren Subventionen die Landwirtschaft vor dem Scheitern. Und damit davor, sich zu entwickeln.
Ähnliches lässt sich auch über die staatliche Rettungsaktion von Chrysler und General Motors während der letzten grossen Rezession sagen. Dieses Eingreifen verhinderte nicht nur den Bankrott der beiden Unternehmen, sondern verunmöglichte damit gleichzeitig auch wichtige Erkenntnisse darüber, was falsch gelaufen war. Damit schafft man zweierlei negative Anreize. Erstens ermuntert man die Unternehmen, weiterhin Autos zu bauen – obwohl doch ihre Verluste belegen, dass investiertes Geld und Arbeitskraft tendenziell besser woanders eingesetzt würden. Zweitens hält die Aktion neue und bestehende Unternehmer davon ab, die Ressourcen von Chrysler und General Motors aufzukaufen und das Geschäft allenfalls anders und besser als diese zu führen. Viele Politiker haben sich hinter den Bail-out gestellt, um zu verhindern, dass hunderttausende Angestellte der Autoindustrie ihre Arbeit verlieren. Aber Menschen verschwinden nicht, wenn sie arbeitslos werden. Sie haben die Chance, andere Jobs zu finden, in denen sie möglicherweise mehr an die Gesellschaft beitragen können als in einer Firma, die Wert vernichtet. Damit das aber überhaupt eine Option ist, müssen wir zulassen, dass Unternehmen scheitern.
Das keynesianische Argument für Arbeitsprogramme von Regierungen lautet, dass jedwede Art von Arbeit in einer Rezession die Wirtschaft ankurbelt – selbst wenn man Leute dazu anheuert, Gruben auszuheben und sie anschliessend wieder zu füllen. Nur: bedeuten ein höheres Bruttoinlandsprodukt und die Tatsache, dass Leute einfach grundsätzlich irgendeinen Job haben, tatsächlich, dass es einer Gesellschaft besser geht? Es ist relativ einfach, das BIP in die Höhe zu treiben und Erwerbslosigkeit zu reduzieren, wenn es einem denn darum geht. Man könnte beispielsweise einfach alle Agrarmaschinen zerstören und stattdessen wieder sehr viel mehr Menschen anstellen, um Felder zu bewirtschaften. Das würde möglicherweise das BIP erhöhen, sicherlich aber die Arbeitslosigkeit abbauen. Aber ginge es uns tatsächlich besser? Wir wissen ja gerade wegen des grossen Erfolgs von Farmmaschinen, dass sich das Bauern mit viel menschlicher Arbeitskraft offenbar nicht gelohnt hat.
Wenn wir künstlich Arbeit schaffen, von der wir bereits wissen, dass sie eigentlich gesellschaftlich nicht gebraucht wird, subventionieren wir bereits gescheiterte Ideen. Es hält uns davon ab herauszufinden, wie wir etwas herstellen können, das die Menschen wirklich brauchen. Und auch Jobs dort entstehen zu lassen, wo sie sich um tatsächliche menschliche Bedürfnisse kümmern.
Natürlich ist ein solcher Wandel nicht einfach. Menschen, deren bisherige Arbeit nicht mehr wertgeschätzt wird, empfinden das als ihr individuelles Scheitern. Aber auch für jeden einzelnen gilt, was für ganze Unternehmen gilt: den Wandel zu akzeptieren, gibt ihnen die Chance, einen anderen Weg einzuschlagen. Das ist kein neues Phänomen. 1941 arbeiteten 41 Prozent der amerikanischen Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, in der Schweiz rund 20 Prozent. Heute ist der Anteil in den USA auf weniger als 3 Prozent und in der Schweiz auf rund 4 Prozent geschrumpft. Stellen Sie sich vor: Wie würden diese Länder heute aussehen, wenn der Staat verhindert hätte, dass all diese Beschäftigten ihre Arbeit verloren und sich neu orientieren mussten? Es war richtig, diese Art des Umbruchs zuzulassen. Auf dem Weg von einer Agrargesellschaft zu einer Industrie- und schliesslich zu einer Dienstleistungsgesellschaft entstanden laufend neue Arten von Arbeit und immer neue Jobs.
Autopoiesis, der ständige Prozess der Selbsterneuerung, ist eines der wichtigsten Merkmale des Lebens. Leben bedeutet konstanter Wandel. Auch wenn wir nicht gerne scheitern und auch wenn es uns schmerzt, wenn es anderen geschieht: Scheitern gehört unvermeidlich zu einer freien und fortschrittlichen Gesellschaft. Fehlbar und unvollkommen, wie wir Menschen nun einmal sind, werden wir immer wieder scheitern. Die bedeutende Frage ist die, ob eine Gesellschaft politische und ökonomische Institutionen hat, die es zulassen, dass Menschen aus dem Scheitern lernen, Institutionen, die jene Signale, Anreize und bürgerlichen Freiheiten garantieren, die Kurskorrekturen möglich machen. Und das beginnt eben nicht erst im öffentlichen System, sondern bereits in Erziehung und Bildung.
Über die Erziehung und die Bedeutung des Scheiterns
Ich habe es zu Anfang dieses Essays erwähnt: Ich glaube, dass das aktuelle politische Widerstreben gegen das Scheitern damit zusammenhängt, wie wir persönlich mit Scheitern umzugehen begonnen haben. Ob Kinder zu Erwachsenen werden, die mit Frustration im Politischen und Ökonomischen umgehen können, hat mit ihrer Erziehung zu tun, konkret: damit, ob Eltern es zulassen, dass Kinder manchmal scheitern und sie die Folgen dieses Scheiterns selber tragen lassen – oder ob sie sie ständig vor jeder Frustration und jedem Misserfolg zu bewahren versuchen.
Die Entwicklungspsychologie lehrt uns, dass eine sinnvolle Erziehung Kindern beibringt, «sich sicher dabei zu fühlen, Risiken einzugehen». Das hört sich widersprüchlich an, ist es aber nicht. Kinder müssen lernen, dass sie Neues ausprobieren können und dass sowohl Erfolg als auch Misserfolg ihnen zugeschrieben werden. Dieses Grundgefühl, «sich sicher dabei zu fühlen, Risiken einzugehen», ist das, was der wichtige Begriff einer «gefestigten Bindung» wirklich meint, auch wenn der Ausdruck in der Poppsychologie gerne für allerlei anderes missbraucht wird.
Unglücklicherweise entwickelt sich die heutige Erziehung in eine ganz andere Richtung. Eltern greifen auf zahlreiche Arten in das Leben ihrer Kinder ein, um sie vor Risiken und Scheitern zu bewahren – ein Verhalten, das häufig als «Helicoptering» beschrieben wird. Insbesondere in den USA gibt es dazu zahlreiche Anschauungsbeispiele: Eltern fürchten sich ständig vor all den fürchterlichen Dingen, die ihren Kindern geschehen könnten. Sie verlangen, dass traditionelle Spielgeräte von öffentlichen Plätzen entfernt werden, dass an jeder Ecke Desinfektionssprays aufgestellt werden, sie fahren ihre Kinder direkt vor das Schulzimmer aus Angst, es könnte ihnen etwas zustossen. Es werden Ängste zelebriert von angeblich vergifteten Halloween-Süssigkeiten über omnipräsente Kinderschänder im Netz – die amerikanischen Medien nennen sie «Predators», Raubtiere – bis zu Zusatzstoffen in Trinkbechern. Das Ergebnis ist eine ganze Generation von Kindern, die in Luftpolsterfolien verpackt aufwachsen, damit ihnen auch ja nichts widerfährt.
Diese Art der Erziehung beraubt Kinder der Möglichkeit, aus eigenen Erfolgen und insbesondere Misserfolgen zu lernen und so ihren eigenen Weg durch die Welt zu finden. Eltern, die ihren Kindern jedes Hindernis aus dem Weg räumen, nehmen den jungen Menschen die elementar wichtige Erfahrung, Schwierigkeiten selber bewältigen zu können. Aktionen wie ständige Trostpreise für unterlegene Sportteams oder, schwerwiegender, Interventionen in den Schulen wegen ungenügender Noten verweigern Kindern die Möglichkeit, Niederlagen aushalten und für die Zukunft lernen zu können. Bail-outs im Privaten haben unter dem Strich dieselben Folgen wie Bail-outs in einer Volkswirtschaft: sie verhindern Entwicklung. Aus überbehüteten Kindern werden Erwachsene, die sich vor jeglichen Risiken fürchten oder die, noch schlimmer, allerlei Risiken völlig sorglos eingehen – weil sie davon ausgehen, dass jemand sie schon herausschlagen wird.
Wir laufen heute Gefahr, eine Generation junger Menschen heranzuziehen, die mehr und mehr Freiheiten einfordert, gleichzeitig aber immer weniger Verantwortung tragen will. Menschen, die völlig sorglos Risiken eingehen, allfällige Folgen aber ständig zu externalisieren suchen – andere Menschen oder Institutionen sollen sie bitte an ihrer Stelle tragen. Um wieder auf die ökonomische Ebene zu wechseln: Werden solche Menschen noch akzeptieren können, dass manche unternehmerische Unterfangen scheitern müssen? Oder wird diese Nation von Bail-out-Kids eine Nation von Bail-out-Unternehmen bauen? Und was bedeutet das für eine offene, fortschrittliche Gesellschaft?
Eine Welt ohne Scheitern ist nicht erstrebenswert, und es wird eine solche auch nie geben. Darum braucht es jene Institutionen der Marktwirtschaft, die stetige Weiterentwicklung ermöglichen – die aufzeigen, was funktioniert und was nicht, und die Anreize dazu schaffen, Fehlversuche zu korrigieren. Und es braucht Menschen, die persönlich gelernt haben, mit Scheitern umzugehen. Diese Kompetenz im Umgang mit dem Scheitern ist heute auf beiden Ebenen, politisch wie persönlich, in Gefahr. Ob es gelingt, den Fortschritt der letzten paar hundert Jahre in Zukunft fortzusetzen, mag sehr wohl genau von dieser Frage abhängen: wie gut wir, sowohl persönlich als auch als Gesellschaft, mit Scheitern umgehen können.
Der vorliegende Essay ist eine für den «Schweizer Monat» ausgebaute und aktualisierte Version einer früheren Publikation mit dem Titel «The Importance of Failure», verfasst von Steven Horwitz und Jack Knych im Magazin «The Freeman», V. 61, No. 9, November 2011, Seiten 33–35. Der Text ist zu finden unter: https://fee.org/articles/the-importance-of-failure/. Teile des Essays stützen sich ausserdem auf das Paper «Cooperation over Coercion: The Importance of Unsupervised Childhood Play for Democracy and Liberalism» von Steven Horwitz, erschienen in: Cosmos + Taxis, 3 (1), November 2015, Seiten 3–16. Erhältlich unter: https://cosmosandtaxis.files.wordpress.com/2015/11/horwitz.pdf.