Angst!
Immer wieder erliegen Medien und Politik der Versuchung, den Erfolg über die Bewirtschaftung von Ängsten zu suchen. Statt vernachlässigbare Gefahren heraufzubeschwören, sollten sie die Bürger ermutigen, die Initiative zu ergreifen.
Gewalt, Arbeitsplatzverlust, Epidemien, Pulverisierung des Mittelstands, Klimawandel, Migration – diese und andere Bedrohungen klopfen zwar nicht täglich an ihre Tür, gleichwohl haben Herr und Frau Schweizer Angst davor. Das ist nicht verwunderlich, denn diese Bedrohungen sind Hauptgegenstand der meisten Medienaufmacher. Täglich stehen die Schweiz und die Welt am Abgrund, sonst, so befürchten die Medienmacher, sinken Auflage und Quote. Dahin geführt haben sie wahlweise linke Lehrer, Journalisten, Professoren oder rechte Politiker, Polizisten, Firmenchefs. Unheil droht auch von übergriffigen Männern, übertreibenden Frauen und vom dritten Geschlecht. Nicht nur US-Präsident Trump bringt den sicheren Untergang, sondern auch Gentechnik, Glutamat, Glyphosat, der Borkenkäfer, das Waldsterben, die Vogelgrippe, die Hühnergrippe, der Feinstaub, der saure Regen und das Alu-Deodorant. Um diese Gefährdungen zu bewältigen, benötigen wir – so ist weiter zu lesen – immer neue Gesetze, Medikamente, Verhaltensregeln, Konzepte, Leitlinien, Gebote, Verbote. Und starke Männer und Frauen, die diese durchsetzen.
Wer Boulevardmedien konsumiert und opportunistischen Politikern zuhört, findet sich in der unangenehmen Lage wieder, plötzlich anzunehmen, der Herr mit dem Bart in der S-Bahn neben uns könnte ein Terrorist mit Sprengstoffgürtel sein. Ja, doch, möglich ist das. Allerdings verhält es sich mit dieser Bedrohung wie mit vielen anderen vorgängig genannten: die gefühlte Gefahr hat sich von der tatsächlichen abgekoppelt. Trotz einzelner spektakulärer Anschläge gibt es in Westeuropa seit 2000 nicht nur weniger Terror als in den Jahrzehnten zuvor, sondern auch weniger Opfer. Während von 1971 bis 1994 jedes Jahr mehr als 100 Personen aufgrund von Terroranschlägen starben, so waren es 2003, 2010 und 2014 nur je 5, 2008 gar nur 3.1 Überhaupt wenden Menschen weniger tödliche Gewalt gegen andere Menschen an, dafür mehr gegen sich selbst. 2002 etwa starben weltweit 57 Millionen Menschen. Während 172 000 von ihnen durch Kriegsfolgen und 569 000 durch sonstige Gewalteinwirkung ums Leben kamen, begingen 873 000 von ihnen Selbstmord.2
Was Gewalttaten angeht, haben Sie also mehr Grund, sich vor sich selbst zu fürchten als vor Ihrem Nachbarn in der S-Bahn. Prozentual stärker angestiegen als die Bevölkerung ist allerdings die Kriminalität im Inland, und das hat auch zu tun mit der Erweiterung des Straftatbestands, also mit neuen Gesetzen, für die man verurteilt werden kann: Wurden in den 1980er Jahren etwas über 45 000 Verurteilungen gegen Erwachsene gezählt, so hat sich deren Zahl bis heute mehr als verdoppelt und liegt nun seit 2012 bei um die 110 000 Verurteilungen jährlich.3
Gewalttaten als mediale Events
Besonders furchtbare Gewalttaten werden, man kann es kaum anders ausdrücken, von den Medien als Megaereignisse gefeiert. Einen kaltblütigen Massenmörder wie Anders Breivik haben Boulevardzeitungen wie der «Berliner Kurier», die «Hamburger Morgenpost» oder die «Abendzeitung» direkt nach der Tat im Juli 2011 ganzseitig auf der Titelseite abgebildet. Und zwar wie einen Actionhelden, mit den von ihm selbst zur Verfügung gestellten Pressefotos, auf denen er mit einem Scharfschützengewehr im Anschlag posiert. Ein schöneres Geschenk hätte man diesem mörderischen Narzissten, der seine Tat inklusive Medienkampagne geplant hat, nicht machen können.
Medienkonsumenten ist angeraten, die puren Aufregermedien zu ignorieren und auch nicht zu finanzieren. Dazu gehören aber längst nicht nur die klassischen Boulevardmedien: Ereignet sich etwas Aussergewöhnliches, sprechen TV- und Radiokorrespondenten in sofort organisierten Liveschaltungen in den ersten Stunden nach der Tat vor allem darüber, dass die Lage bisher unklar sei und man noch nicht genau wisse, was vorgefallen sei. Im Internet werden Vermutungen und Spekulationen derweil wild geteilt, als handle es sich um bestätigte Tatsachen; auch Zeitungen analysieren die bruchstückhafte Informationslage. Stellt sich der Vorfall in der Folge als nicht existent oder anders gewickelt heraus, wird die Nachricht meist heimlich, still und leise vergessen – der nächste Aufreger wartet schliesslich bereits. Der kluge Medienkonsument macht es wie der kluge Medienproduzent: er hält sich zurück, bis die Lage klar ist – keine Informationen sind schliesslich verzichtbare Informationen.
Journalismus, der verängstigt, fällt am Ende der Gemeinschaft zur Last, stellte auch der Journalist Constantin Seibt fest: «Das politische Resultat von Empörungsjournalismus ist primär Angst: die Angst, einen Fehler zu machen. Und zu deren Abwehr mehr Bürokratie.»4 Seibt hat die Konsequenzen gezogen und beim «Tages-Anzeiger» die Kündigung eingereicht. Er geht nun als Unternehmer das Risiko ein, ein neues Medium mit dem Titel «Republik» zum Erfolg zu führen.
Angstkampagnen in der Politik
Hierzulande sind die Plakatkampagnen der SVP altbekannt, die Partei ist eine Schweizer Pionierin in dieser Hinsicht. Die Wirkung ihrer Sujets hat sich aber mit der Zeit abgenützt: die Abstimmung über das Energiegesetz etwa war nicht zu gewinnen mit dem verbreiteten Schreckensszenario, bald kalt duschen zu müssen. Hier zeigt sich, dass Angstkampagnen nur funktionieren können, wenn sie Ängste aufnehmen, die tatsächlich existieren, und gleichzeitig Szenarien ausmalen, die auch glaubhaft eintreffen könnten. Angstplakate macht aber auch die Partei am anderen Ende des politischen Spektrums: so liess ein SP-Plakat 2007 unter dem Schlagwort «Nein zum Atomrisiko» ein brennendes Flugzeug in einen Kernkraftwerk-Kühlturm fliegen. Neu ist, dass nun auch jene, die sich als liberal verkaufen, Angstkampagnen fahren. Die Operation Libero etwa fordert Spenden «gegen den Anschlag auf unsere Demokratie». Dabei geht es lediglich um eine Volksinitiative, die staatlich finanzierten Medien untersagen will, Gebühren zu verlangen. Der «Verein Nein zum Sendeschluss» behauptet auf Plakaten, die fragliche Initiative «No Billag» sei ein «Angriff auf unabhängige Medien und die direkte Demokratie», und zeigt einen Stiefel, der die auf einer Schweizer Karte aufgeführten vielfältigen Angebote zu zertreten droht.
Verängstigte Wähler sind für die Politik reizvoll, weil sie viel leichter zu überzeugen sind, ihre Freiheiten für unerfüllbare Versprechungen wie absolute Sicherheit oder eine Welt ohne Veränderungen aufzugeben. Offensichtlich ist jedenfalls, dass Angst genau zu jener Vermeidungskultur führt, wie sie Michael Kres hier beschreibt: die Furcht, einen Fehler zu machen und damit vor allen anderen ausgestellt zu werden, verhindert das Eingehen von Wagnissen. Und wer Wagnisse eingeht, verwirklicht sie lieber abseits aller Öffentlichkeit. Interessierte Journalisten werden abgewimmelt, stattdessen werkelt man lieber in aller Heimlichkeit vor sich hin und geht nur mit völlig abgesicherten Informationen an die Öffentlichkeit. Dabei ginge es auch so: aktiv über die eigenen Projekte reden, früh publizieren, Fehler nach und nach korrigieren. Awards für Leute, die in ihrem Leben nie einen Fehler gemacht haben, gibt es schliesslich nicht. Respekt verdient dagegen haben Leute, die Leistungen erbringen und die Grösse haben, Fehlleistungen einzugestehen.
Eine stolpersensibilisierte Welt
Je weniger Gefahren uns bedrohen, desto stärker werden wir für jene, die es tatsächlich noch gibt, sensibilisiert. Es ist eine Aufgabe, die der Staatsapparat für sich entdeckt hat. Bundesämter verwenden Steuergelder, weil sie glauben, dass der Bürger für so ungefähr jedes Thema sensibilisiert werden muss. Das Bundesamt für Gesundheit BAG macht derzeit Präventionskampagnen gegen Alkohol, Tabak, HIV/STI sowie für die Grippeimpfung und Organspenden. Wie gefährlich es etwa im Büro sein kann, vermittelt die Eidgenössische Koordinationskommission für Arbeitssicherheit EKAS: Via Apps und auf Websites wie praevention-im-buero.ch, safeatwork.ch, ekas-box.ch, ekas-checkbox.ch oder besmart-worksafe.ch erfahren Bürger, wie sie unbeschadet durch den Arbeitsalltag kommen. Wer nicht sicher ist, wie er unfallfrei geradeaus geht, kann unter stolpern.ch von der Suva Präventionsmodule beziehen und Gleichgewichtsprogramme absolvieren: «Gehen scheint ungefährlich. Doch die Realität sieht anders aus: Die Unfallgefahr beim Gehen wird massiv unterschätzt. Stolpern und Stürzen ist Unfallursache Nummer eins in der Schweiz.»5
Mit Sicherheit birgt auch das Geradeausgehen Gefahren. Stolpern aber gehört zum Leben. Und wer sich schon vor einer Bodenunebenheit fürchtet, wird Ziele, die weit darüber hinausgehen, als unerreichbar betrachten. Was die Schweiz braucht, sind Menschen, die visionär denken und – ohne sich und andere zu gefährden – das Schwierige, das vermeintlich Unmögliche wagen und umsetzen. Sie gilt es zu ermutigen und nicht mit einem täglichen Strauss an möglichen Gefahren zu ängstigen und zu verunsichern.
1 Global Terrorism Database. Web: start.umd.edu/gtd
2 Yuval Noah Harari: Eine kurze Geschichte der Menschheit. München: DVA, 2013.
3 Auch die zunehmende Kriminalität von Ausländern ist kein Mythos: Standen im Jahr 1984 29 824 verurteilte Schweizer 13 608 verurteilten Ausländern gegenüber, so waren es 2015 43 051 Schweizer und 58 497 Ausländer – so die BfS-Strafurteilsstatistik 1984 – 2016 vom 6.6.2017.
4 Constantin Seibt: Die Produktion von Angst. In: Tages-Anzeiger vom 28.5.2015.
5 www.suva.ch/de-ch/praevention/sachthemen/stolpern