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Angela Merkels nukleares Solo

Die Zeit der AKW ist abgelaufen! Die Politiker sind sich verdächtig einig, die Medien jubeln, und doch wird uns die Energiewende teuer zu stehen kommen. Es droht eine neue Subventionsorgie. Was es endlich braucht, ist der Mut zu Klarheit.

Angela Merkels nukleares Solo

Günther Öttinger, Energiekommissar der EU, hat kürzlich sehr deutlich darauf hingewiesen, dass wir uns «in einer Phase der Europäisierung der Energiepolitik» befinden und dass diese Entwicklung weitergehen müsse. Damit hat er Recht, denn es ist unter den Erfordernissen der Klimaverträglichkeit wie der Energieversorgungssicherheit dringend, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu erweitern und zu vertiefen. Ein paar Fortschritte sind auch erkennbar, weitere sollten rasch folgen. Öttingers Problem ist allerdings, dass in seinem Heimatland weder die Bundesregierung noch die politischen Parteien seinen Ruf aufgenommen, geschweige denn umgesetzt haben. Im Gegenteil, in einer atemberaubenden energiepolitischen Volte, für die es hierzulande im politisch-parlamentarischen Leben kein Beispiel gibt, und ohne irgendeine Absprache mit den europäischen Nachbarn haben die Bundesregierung unter der Führung von Kanzlerin Merkel und der Deutsche Bundestag mit einer gewaltigen Stimmenmehrheit aus CDU/CSU, FDP, SPD und Grünen soeben das Ende der Kernkraft für Deutschland auf das Jahr 2022 termininert.

Die von der deutschen Kanzlerin in Szene gesetzte Energiewende, die die ein Jahr zuvor beschlossene Verlängerung der Nutzung der Atomenergie ohne viel Federlesens wieder streicht und stattdessen in den umgehend eingeleiteten kompletten Ausstieg mündet, ist fürwahr an Tempo, um nicht zu sagen: an Hektik und damit auch an Fehleranfälligkeit nicht zu überbieten. So mancher in Deutschland hat deshalb in diesen Tagen neidvoll die Beschlusslage des Schweizer Bundesrates zitiert, der jetzt ebenfalls, allerdings besonnener als die deutsche Bundesregierung, den Ausstieg aus der Atomenergie eingeleitet hat. Bekanntlich sollen deshalb die Betriebszeiten der fünf bestehenden Schweizer Atomkraftwerke nicht mehr verlängert werden, wobei die Regierung von einer Laufzeit von je 50 Jahren ausgeht. Das erste Atomkraftwerk in der Schweiz würde demnach 2019, das letzte 2034 vom Netz gehen.

Erste Konsequenz: höhere CO2-Emissionen
Die deutsche Bundesregierung hat sich demgegenüber in einem weltweit beispiellosen Akt für sofortige scharfe Schnitte entschieden und nur vier Tage nach der schrecklichen Katastrophe von Fukushima, d.h. noch ohne jede Kenntnis der genauen Ursachen dieser Katastrophe, zunächst 7, sodann 8 der 17 in diesem Land in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke endgültig stilllegen lassen. Dies geschah mutmasslich ohne zureichende Rechtsgrundlage – entsprechende Verfassungsrechtsstreitigkeiten sind bereits angekündigt. Mit dem solchermassen eingeleiteten nuklearen «phase out» ist schon jetzt – Warnungen der zuständigen deutschen Regulierungsbehörde zufolge – die für eine sichere Stromversorgung in allen Teilen des Landes erforderliche Netzstabilität nicht mehr hundertprozentig gewährleistet. An der Leipziger Strombörse entwickelte der Strompreis prompt den Dreh nach oben, in Deutschland registrierte man die ersten Atomstrom-Importe aus Nachbarländern. Etwa zur selben Zeit stellte die deutsche Reaktorsicherheitskommission fest, dass in Fukushima eine zu geringe Auslegung des Reaktors gegen einen Tsunami vorgelegen habe. Für alle relevanten Themenfelder wie Erdbeben, Tsunami bzw. Hochwasser und den Ausfall der Stromversorgung wiesen sämtliche deutschen Atomanlagen durchweg ein höheres Sicherheitsniveau auf und somit eine grössere Robustheit. Nach den Erkenntnissen der Sicherheitsüberprüfung, so die Kommission, gebe es für Deutschland keine Notwendigkeit, Kernkraftwerke vom Netz zu nehmen. Die Katastrophe von Fukushima war, so darf gefolgert werden, nicht die Realisierung eines «Restrisikos», sondern – gemessen an erforderlichen höchsten Anforderungen – die Folge einer unzureichenden Auslegung gegen in Japan schon zuvor erlebte und gemessene  Naturkatastrophen.

Eine Berechnung von Trendresearch kommt zum Ergebnis, dass ein kompletter, kalendermässig festgelegter und Kraftwerk für Kraftwerk in Stufen zu realisierender  Atomausstieg bis zum Jahr 2022 in Deutschland eine Stromlücke von rund 10‘000 Megawatt verursachen würde. Sie entspricht etwa zehn grossen Gas- oder Kohlekraftwerken. Wer sie – zusätzlich zu einem Dutzend laufenden Kraftwerks-Neubauprojekten – zum Einsatz bringen will, wird zugleich für eine Anwendung der CCS-(Carbon-Capture-and-Storage-)Technologie eintreten müssen, mit deren Hilfe das bei Verbrennungsprozessen austretende CO2 abgefangen werden kann, um es zu speichern oder anderweitig der Atmosphäre zu entziehen. Die Kohle haben wir in Deutschland. Mehr Gas gibt es vor allem aus Russland. Die Technologie haben wir auch. Woran es fehlt, sind jedoch der politische Wille und die Kraft, um gesellschaftliche Akzeptanz für diese Technologie zu werben. So aber wird der Atomausstieg Hand in Hand mit mehr Kohle- und/oder Gaskraftwerken nicht etwa zu der zuvor als unabdingbar notwendig  bezeichneten Minderung von CO2-Emissionen führen, sondern sogar zu deren Anstieg. Deutschland wird mit grosser Sicherheit seine nationalen, wahrscheinlich sogar die europäischen CO2-Minderungsziele verfehlen.

Zweite Konsequenz: höhere Energiepreise
In Deutschland gelten bereits heute – nach Dänemark – die zweithöchsten Energiepreise in Europa. Die französischen Industriestrompreise liegen um beinahe 50 Prozent niedriger als in Deutschland. Präsident Sarkozy hat sich entsprechend wohlwollend über den neuen energiepolitischen Kurs im Nachbarland geäussert. Auch in der Tschechischen Republik ist die Werbung um die Gunst internationaler Investoren mit dem kostengünstigeren Atomstrom bereits angelaufen. Die Energiewende wird Deutschland – und zwar nicht nur über höhere Staatsausgaben, sondern vor allem über höhere Energiepreise – teuer zu stehen kommen. Wesentliche andere öffentliche Reformaufgaben – mehr Investitionen in Kindergärten, Schulen und Hochschulen – werden zurückstehen müssen. Der Industriestandort gerät mehr und mehr unter Druck. Was droht, ist eine regelrechte Subventionsorgie. Sie beginnt mit den von den Tarifkunden zu zahlenden und demnächst mit Sicherheit weiter ansteigenden Einspeisevergütungen für die Erneuerbaren (derzeitiges durchschnittliches Jahresaufkommen: rund 13 Milliarden Euro); sie setzt sich fort mit steuerlichen Freibeträgen für Hauseigentümer, die ihre Gebäude energetisch sanieren, und mit höheren Kosten für die Mieter; sie führt hin zu höheren finanziellen Anreizen (und entsprechend höheren Strompreisen bei den Tarifkunden) für Netzbetreiber, weil die den dringend erforderlichen Netzausbau realisieren sollen, und endet nicht bei den Energieversorgern, die animiert werden müssen, noch in fossile Kraftwerke zu investieren, obgleich diese aufgrund des zunehmenden Einsatzes von erneuerbaren Energien nicht mehr voll und betriebswirtschaftlich immer weniger sinnvoll einsetzbar sind. Eine dauerhafte Subventionspraxis breitet sich in einer Volkswirtschaft aus wie ein Ölfleck im Meer, lehrt uns die Erfahrung. Doch inzwischen wird in Berlin auch erwogen, die Lieferung von Öl und anderen klimaschädlichen Brennstoffen an Privatkunden davon abhängig zu machen, dass der Händler über die entsprechenden CO2-Verschmutzungsrechte verfügt, wobei er die Zertifikate entweder selbst trägt oder aber auf die Kunden abwälzt. Energie-Subventionen und Energiepreise werden in Deutschland zum Politikum erster Güte.

Vernünftiger Energie-Mix statt Quick-Fix
Bei alldem wissen wir: ja, wir müssen umsteuern. Die Endzeit verschiedener fossiler Energiequellen wird sichtbar. Die Märkte nicht nur für Öl werden immer umkämpfter, immer enger. Die zunehmende Erderwärmung ist real, wenn auch wohl nicht mit jener menschenverursachten Stringenz, wie sie von einer Reihe von Forschern beschrieben wird. Also: wir brauchen die erneuerbaren Energien – und natürlich auch andere, weiterführende technologische Möglichkeiten. Warum sonst investieren wichtige Staaten der Welt weiterhin Milliarden in die Kernfusionsforschung? Auch Deutschland ist mit immerhin rund 130 Millionen Euro pro Jahr dabei.

Doch worum es geht, das ist ein Umsteuern mit klarem Blick und praktischer Erfahrung. Es geht, kurz gesagt, um eine Energiepolitik, die nicht unter apokalyptischen Ahnungen zustande kommt, sondern die in dem Bewusstsein handelt, dass Energie die Grundvoraussetzung allen wirtschaftlichen Handelns ist. Es geht dabei auch keineswegs um Verzicht. Es geht um die Gestaltung eines neuen, eines nachhaltigen, die nächsten Generationen nicht belastenden Energiesystems. Dieses neue System zu entwickeln, verlangt Mass und Ziel zugleich. Denn der Umbau, den es zu bewerkstelligen gilt, weg von den Kohlenstoffintensität unserer Energieversorgung, der kann nur Schritt für Schritt erfolgen. Er darf weder die Verträglichkeit der Erde noch die Versorgungssicherheit von Ländern und Völkern noch die Wettbewerbsfähigkeit von Volkswirtschaften aufs Spiel setzen. Wir werden deshalb noch über einige Jahrzehnte, vielleicht dauerhaft, auf einen vernünftigen Mix aus Energiesparen und Energieeffizienz, aus fossilen Energien und – zunehmend – aus erneuerbaren Energien und aus neuen Energietechnologien benötigen.

Wir in Deutschland haben die Wasserkraft, aber kaum noch ausbaubar. Wir haben die Biomasse, aber auch eine zunehmend schlechte Ernährungslage auf der Welt. Wir haben viel Wind in der Nordsee, aber wenig Sonneneinstrahlung – kaum mehr als Alaska. Und noch ist die Windenergie doppelt so teuer wie der Börsenpreis und die Fotovoltaik fünfmal zu teuer. Wir haben die «grundlastfähige», also rund um die Uhr verfügbare und dezentral einsetzbare Geothermie – aber wir brauchen noch bessere Förderinstrumente, wenn wir das in der Erdwärme steckende energetische Potential wirklich voll nutzen wollen. Und wir haben einige visionäre Grossprojekte vor Augen wie Desertec in der Wüste Nordafrikas oder geothermische Anlagen bis in 10‘000 Meter Tiefe in der Türkei. Kein Land kann dies für sich allein stemmen.

Wenn wir dies und vermutlich vieles mehr, das noch zu erforschen und zu entwickeln ist, Wirklichkeit werden lassen wollen, dann brauchen wir auf all diesen Feldern keine nationalen Alleingänge, dann brauchen wir grosse, gemeinsame europäische Anstrengungen. Dann brauchen wir gewaltige Investitionen in den grenzüberschreitenden Netzausbau und die weitere Entwicklung der digitalen Infrastrukturen zu intelligenten Netzen, damit die Verbraucher ihren Energieverbrauch selbst genau steuern können. Und über all dem brauchen wir eine funktionierende Regulierung der europäischen Energiemärkte. Auf diesen Feldern – gemeinsamer Netzausbau und gemeinsame Regulierung – besteht derzeit der grösste Handlungsbedarf für Politik und Wirtschaft in Europa.

So machen auch die Offshore-Aktivitäten von Frankreich, Deutschland und Benelux in der Nordsee letztlich nur Sinn, wenn sie mit denen von Grossbritannien, Irland, Dänemark und Norwegen in einem gewaltigen gemeinsamen Hochspannungsnetz gebündelt und mit den Wasser- und Gezeitenkraftwerken am Festland verbunden werden. So könnte Windstrom in einiger Grössenordnung stetig, plan- und berechenbar, also «grundlastfähig» zur Verfügung stehen. Und so könnte in einigen Jahrzehnten – ein Abschnitt Leitungsbau dauert bisher in Deutschland von der Planung bis zur Realisierung mehr als ein Jahrzehnt(!) – einige zigtausend Kilometer Hightech-Kabel auch Windstrom in weite Teile Europas transportieren.

Realistische Ziele mit Blick auf internationalen Wettbewerb
Das ist eine realistische Vision. Aber eine Vision von erheblichen Dimensionen, in den Kosten, in den Risiken, in den Chancen. Sie verlangt eine ganz und gar ungewöhnliche Kraftanstrengung und einen langen Atem. Und natürlich ist es auch eine ausserordentliche Herausforderung finanzieller Art. Energie wird teurer. Viel teurer. Auch das ist ein Grund, mit Bedacht und Umsicht vorzugehen.

EU-Kommissar Öttinger hat kürzlich mit Nachdruck zu Investitionen in unsere Energiesysteme aufgerufen. Es werde geschätzt, so Öttinger, dass bis 2030 fast 1 Billion Euro in die europäische Stromerzeugung und in grenzüberschreitende Stromnetze investiert werden müssten. Und zudem 150 Milliarden Euro in die Gasnetze. Wer soll die Investitionen und Innovationen, die nötig sind, eigentlich tragen, wenn nicht die Energieversorger und private Investoren? Die Steuerzahler? Oder besonders die Tarifkunden? Die Industrie? Wer sagt wem wann die ganze Wahrheit?

Wenn wir alle Kräfte zusammen nehmen, kann es gelingen, bis 2050 in einem vernünftigen Energiemix etwa 50 Prozent des bei uns in Deutschland benötigten Stroms – statt 85 Prozent, wie die Bundesregierung meint – aus erneuerbaren Energien zu beziehen. Ein ehrgeiziges Ziel. Es verträgt keine Alleingänge mehr. Und es verlangt den Mut zu Klarheit und Wahrheit – denn die Verbraucher und erst recht die Industrie, die Wirtschaft insgesamt  brauchen klare, realistische, rechenbare, d.h. auch im internationalen Wettbewerb vertretbare Zielsetzungen.

 

Wolfgang Clement war von 2002 bis 2005 Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit in der Regierung Gerhard Schröders (SPD). Er gehört zu den Unterzeichnern des energiepolitischen Appells von August 2010, in dem 40 Politiker und Manager begründen, warum Deutschland auf die Nutzung von Kernenergie und Kohle vorderhand nicht verzichten kann. Clement ist u.a. Aufsichstrat der RWE Power AG, einer Konzerntocher der Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerks AG.

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