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An der Schwelle zum  Übermenschen – oder in die Gegenrichtung?
Illustration von Stephan Schmitz.

An der Schwelle zum Übermenschen – oder in die Gegenrichtung?

Der Traum von der Selbstüberschreitung des Menschen ist alt. Über Nietzsche, den sprichwörtlichen «Schritt zu viel» und einen möglichen Abschied in Würde.

 

In den intensiven Debatten des späten zwanzigsten Jahrhunderts über die Geschichte und das Potenzial der Gattung «Mensch» spielten die Thesen des 1986 verstorbenen franzö­sischen Paläontologen André Leroi-Gourhan zu den Folgen des «aufrechten Gangs» für die Evolution des Gehirns und für das Weltverhältnis der vom Gehen befreiten Hände eine zentrale Rolle. Schon damals hat mich allerdings stärker Leroi-Gourhans heute kaum mehr erinnerte Reflexion zur Beziehung zwischen den verschiedenen Phasen in der Entwicklung des Menschen fasziniert – und zwar wegen ihrer Bedeutung für den Problemkomplex «Human Enhancement». Nach einer im normalen (an anderen Stellen heisst es: im eher langsamen) biologischen Rhythmus ablaufenden Differenzierung des Homo sapiens aus der Gruppe der Primaten habe dessen Evolution seit dem Einsetzen der «Kultur», wo immer man chronologisch genau deren Anfang setzen will, eine enorme Beschleunigung erfahren. Diese Beschleunigung habe sich dann mit der Emergenz der Technologie aus der Kultur seit der frühen Neuzeit noch einmal exponentiell gesteigert. An dieser komplexen Perspektive schätze ich erstens den natur­wissenschaftlich (aber keineswegs mechanistisch) anmutenden Gestus einer Distanz gegenüber euphorischen Selbstfeiern oder moralisierenden Selbstgeisselungen «des Menschen», wie sie jüngst wieder überhandgenommen haben, und zweitens ihre über jeden Anthropozentrismus hinausgehende Offenheit für kosmologische Perspektiven.

Schon bevor erste Versionen des Begriffs von einer natür­lichen «Evolution» überhaupt im weiteren Kontext der Ausformung des historischen Weltbilds während der Jahrzehnte nach 1800 auftauchten, hatten Reflexionsschübe der Aufklärung den Menschen als Kollektiv eine Verantwortung und eine Fähigkeit zur Selbstveränderung übertragen. Als emblematische Illustration dieses Schritts in der Entfaltung menschlicher Selbstreferenz gilt noch immer Immanuel Kants berühmte Formel vom «Heraustreten aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit» in seiner Antwort auf die Frage «Was ist Aufklärung?». Hegels Philosophie vermittelte dann das Moment der Selbststeuerung und des sich eben erst abzeichnenden historischen Weltbilds zur bald nicht mehr allein philosophischen Vision von einem Fortschritt, der zunächst (vor allem in Hegels eigenem Denken) noch auf beschreibbare Zielpunkte ausgerichtet war, um dann bald schon entgrenzt und offen zu werden. Eigentümlich ambivalent wirkt auf uns heute der Status des Menschen in den nun schon bald hervortretenden säkular-mythologischen Diskursen von einem Fortschritt ohne Ende – wie vor allem anhand der Schriften von Karl Marx deutlich wird. Denn der Fortschritt sollte einerseits als «historisch» und zumal «evolutionär» garantiert gelten, andererseits aber doch menschlicher Beiträge bedürfen, um gleichsam auf Touren zu kommen.

Seiltanz über dem Abgrund

So gesehen kann es nicht überraschen, dass schon im Lauf des neunzehnten Jahrhunderts eine Reihe von Vorläufern des heute fast ausschliesslich mit Nietzsche assoziierten Worts vom «Übermenschen» für die Idee eines Hinausgehens über alle stabilen Selbstdefinitionen auftauchten – vor allem, wohl von wirtschaftlicher Expansion und der Rezeption Darwins getrieben, in den angloamerikanischen Kulturen, etwa bei T. H. Carlyle, W. R. Emerson oder R. A. Wallace. Vor diesem Hintergrund eines hoch­optimistischen Zeitgeists wirken Nietzsches einschlägige Reflexionen, zumal die berühmten Passagen aus «Also sprach Zarathustra», durchaus verhalten. Schon im vierten Abschnitt der «Vorrede» taucht «ein Seil» auf, «geknüpft zwischen Thier und Übermensch, – ein Seil über einem Abgrunde». Der «Seiltänzer» – als ein «letzter Mensch» wohl, der über sich hinauswill – unternimmt das Wagnis des Übergangs, wird nervös in der Gegenwart eines behenden «Possenreissers», der ihm folgt, um bald «wie ein Wirbel von Armen und Beinen in die Tiefe» zu stürzen und verzweifelt über sein Scheitern und den anstehenden Tod von Zarathustra getröstet zu werden: «Du hast aus der Gefahr deinen Beruf gemacht, daran ist nichts zu verachten. Nun gehst du an deinem Beruf zu Grunde: dafür will ich dich mit meinen Händen be­graben.» Gerade die hier anklingende Zurückhaltung und Skepsis gegenüber den Gelingenschancen der Selbstüberschreitung scheint mir entscheidend für eine denkbare, aber bisher nur ­selten erwähnte Affinität Nietzsches zur Gegenwart und vorstellbaren Zukunft. Denn diese Einstellung setzt ja einerseits voraus, dass das Festhalten an einem gegebenen Status verachtenswert, wenn nicht unmöglich ist – keinen metahistorisch normativ gesetzten Begriff der einen «Menschlichkeit» soll es geben (und klingt uns nicht das Bestehen auf einem normativ und stabil ­gehaltenen Konzept des Menschseins zunehmend banal?). Andererseits ist Zarathustra weit entfernt von einer derzeit noch manchmal lauten Aufregung angesichts der durch Technologie (als «Enhancement») ermöglichten «Trans-» oder «Posthumanismen» (die aber im Abflauen begriffen ist). Die mit Leroi-Gourhan auf langfristige evolutionäre Tiefenschärfe zugeschnittenen und mit Nietzsche skeptischen Fragen im Blick auf die Gegenwart und für die Zukunft, die ich verfolgen möchte, lauten also: Was sind die spezifischen Schwellen potentieller Selbstüberschreitung, an denen wir derzeit stehen; welche Konsequenzen zeichnen sich für den Vollzug der je nächsten Schritte ab; und welche Reaktion auf solche Hochrechnungen von den Konsequenzen des Überschreitens legt eine kosmologische Sichtweise nahe?

Die Pole schmelzen

Gleichsam in der Mitte unter diesen Szenarien der Gegenwart steht unsere individuelle Wahrnehmung des Alltags, welche sich derzeit global von einem Feld der Kontingenz zu einem Universum der Kontingenz verschiebt. Dabei entspricht die Formel vom «Feld der Kontingenz» der seit den bürgerlichen Revolutionen dem Subjekt zugeschriebenen Form der Freiheit. Sie besteht aus einem Horizont von für je verschiedene Entscheidungen offenen Situationen (Kontingenz), der sich zwischen Situationen ohne Freiheit («Notwendigkeit») und Situationen mit vorgestellter, aber nicht realisierbarer Freiheit («Unmöglichkeit») erstreckt. Die beiden das Feld der Kontingenz begrenzenden Pole von «Notwendigkeit» und «Unmöglichkeit», meine ich, befinden sich derzeit in einem Schmelzprozess. Wenn sich etwa sexuelle Identität früher als Notwendigkeit aus der Anatomie jeweiliger Genitalien ergab, so hat die Transgenderchirurgie mittlerweile begonnen, hier ­einen neuen Bereich der Kontingenz zu eröffnen. Und während Allgegenwart schon immer vorstellbar war, aber als eine für Menschen nicht erreichbare Imagination zum Gottesprädikat wurde, ist inzwischen aus dieser Unmöglichkeit eine ganz normale, sich erweiternde Wirklichkeit geworden (ohne die es uns zum Beispiel viel schwerer gefallen wäre, die Covid-Zeit zu überleben). Das fortschreitende Schmelzen der beiden Kontrastpole des Felds von Kontingenz mit seiner Tendenz, in ein Universum von Kontingenz umzuschlagen, ist gewiss ein enormer Zuwachs an Freiheit. Doch vor allem schlägt das Universum der Kontingenz existentiell in eine zur Panik anschwellende menschliche Angst um, in ­Absenz des Notwendigen und des Unmöglichen vom Anwachsen alltäg­licher Komplexität hoffnungslos überfordert zu werden.

Die zweite Schwelle lässt sich markanter an ein naturwissenschaftliches Ereignis binden, nämlich die Entzifferung des menschlichen Genoms – und an die von ihm untrennbare Utopie, einen in vieler Hinsicht «besseren Menschen» zu züchten. Auf der Hand lagen hier schon immer eine Reihe von – nicht allein historisch – hochproblematischen Affinitäten. Andererseits habe ich die Logik von Peter Sloterdijks intellektuell riskanter Intervention nie vergessen, nach der es sich die Menschheit nicht leisten kann, diese Chance zur Selbstverbesserung ungenutzt zu lassen. Derzeit scheinen die Visionen von Genmanipulation – wohl aufgrund des Aspekts derzeit noch nicht kontrollierbarer langfristiger Nebenwirkungen – unter ein Tabu gefallen zu sein. Rückgängig und ­mithin unschädlich können sie allerdings – ebenso wenig wie das Potenzial einer nuklearen Selbstzerstörung der Menschheit – nie mehr gemacht werden.

Künstliche Intelligenz als dritte Schwelle sollte streng genommen gar nicht mehr zum menschenbetriebenen «Enhancement» gerechnet werden, weil seit einigen Jahren schon die Algorithmen der Software selbst via «Deep Learning» beschleunigend den Vollzug immer neuer Schritte hin zu einer der menschlichen überlegenen Intelligenz vollziehen. Nicht auszuschliessen, dass eine solche machtvollere Intelligenz bereits existiert und die Menschheit ohne deren Wissen steuert (hier konvergieren Covid-ausgelöste und wahrscheinlich paranoide Fantasien von der Menschheitsmanipulation mit der erschreckenden Hochrechnung realistisch denkbarer Entwicklungen). Nachdem sich im Zukunftsblick auf eine solche von Menschen ausgelöste Möglichkeit der Gedanke jedenfalls nicht mehr neutralisieren lässt, dass künstliche Intelligenz die Menschheit unterwerfen oder sogar eliminieren könnte, haben auch hier (vielleicht zu spät) politische Diskussionen zur Unterbindung potentieller Fortschritte eingesetzt, deren je nächster der sprichwörtliche «Schritt zu viel» sein könnte.

Pessimistische Tönung

Am deutlichsten hörbar freilich, vor allem in bezug auf die Konsequenzen (unsere zweite Frage), ist die derzeit durchaus «politische» Rede von einer Schwelle «in Gegenrichtung» sozusagen, von einer Schwelle, die wir schon überschritten haben könnten – ohne dass die Möglichkeit einer Umkehr zurück zum Erhalten des Lebens der Menschheit auf der Erde verbleibt. Es handelt sich um jene Schwelle, die vor allem mit bedrohlichen Syndromen wie dem «Klimawandel» verbunden wird, aber und auch mit dem ab­strakteren Konzept des «Anthropozäns» als der Zeitspanne zwischen den ersten schädlichen Auswirkungen menschlicher Präsenz auf die Biosphäre des Planeten und dem in nähere oder ferne Zukunft projizierten, meist als «selbstverschuldet» gedeuteten Ende dieser Präsenz. Rhetorisch wie politisch haben die Untergangsszenarien solch pessimistischer Tönung – intensiviert durch die Furcht vor den Folgen einer fahrlässigen Überschreitung ­anscheinend noch vor uns liegender Schwellen (wie «Alltag als Universum der Kontingenz», «Genmanipulation», «künstliche Intelligenz») – machtvolle Vorschläge und beginnende Energien zur kollektiven, ökologisch motivierten Selbsteinschränkung der Menschen mit globaler Wirkung auf den Weg gebracht. Ihr gemeinsames Ziel ist die aktive Aufhebung der von Leroi-Gourhan skizzierten Dynamik einer beschleunigenden Evolution in den nichtbiologischen Medien von Kultur und Technologie – mit dem Letztziel einer langfristigen, wenn nicht unbegrenzten Erhaltung menschlichen Lebens auf dem Planeten.

Abschied in Würde?

Wie steht es aus kosmologischer Perspektive um die Chancen und um den Status dieser Selbstrettungsstrategie der Menschheit? Obwohl sie nur die menschengetragene Dimension der Evolution anvisiert, wird der Drang nach kollektiver Selbsterhaltung generell als alternativenlos und mithin als «natürlich» erlebt. Dagegen liesse sich zunächst einwenden, dass nach aller Wahrscheinlichkeit keine andere biologische Gattung auf unserem Planeten je eine Vorstellung von ihrer eigenen Zukunft gehabt hat. Mit anderen Worten: die unbegrenzte Erhaltung der Menschheit ist ein durchaus anthropozentrisches Ziel ohne denkbare ökologische Rechtfertigung. Unter dieser Voraussetzung aber taucht die kaum je diskutierte Frage auf, wie einschneidend die zum langfristigen Erhalt der Menschheit notwendigen Einschränkungen denn wären – und ob wir (die gegenwärtigen und die anstehenden Generationen) tatsächlich bereit sind, einen wohl grundsätzlichen existentiellen Verzicht zugunsten von Menschen einer entfernten ­Zukunft hinzunehmen. Dies einmal ganz abgesehen von der nicht aufzuhebenden Ungewissheit hinsichtlich des Erfolgs solcher ­Opfer.

Kosmologisch gesehen erscheint das Ende der Menschheit ­jedenfalls als der anzunehmende Normalfall, woraus – ganz im Gegensatz zur Alternativenlosigkeit der maximalen Selbsterhaltung – als Alternative die Frage hervorgeht, ob sich die Menschheit auf einen Abschied in Würde vom Planeten einstellen könnte. Wenn immer ich freilich in den vergangenen Jahren diesen Gedanken formuliert habe, bin ich auf Lachen gestossen, ausgelöst offenbar von dem Missverständnis, er sei das Ergebnis eines ­ironischen Impulses. Mich hat diese Reaktion eher an Passagen bei Nietzsche erinnert, wo Zarathustra vom Lachen – und vom Tanzen – als Symptomen der Schwelle zwischen dem Menschen und dem Übermenschen spricht: «Wie vieles ist noch möglich! Lernt über euch selber lachen, wie man lachen muss!» Anders ­gesagt: Könnten wir, ohne es bisher geahnt zu haben, an einer Schwelle zum Übermenschen stehen?

Natürlich kann es nicht im Ernst um die Vermessenheit gehen, einen eigenen Gedanken – als Symptom – in der Nachbarschaft des Begriffs vom «Übermenschen» zu platzieren. Für relevant halte ich an dieser Stelle der Reflexion jedoch die Konvergenz zwischen dem Übermenschen und dem Motiv von der «ewigen Wiederkunft», das Nietzsche ja aus den kosmologischen Überlegungen seiner Zeit übernommen hatte und philosophisch weiterentwickelte. Zur Zeitlichkeit der ewigen Wiederkunft sollen Phasen des Untergangs gehören, und für die Weiterführung dieser Einsicht in die Einsicht von der Möglichkeit oder gar der Unvermeidlichkeit eines Endes der Menschheit als Erfüllung des Übermenschen gibt es Text-Evidenz: «Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: Wie wird der Mensch überwunden? Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Einziges –, und nicht der Mensch: nicht der Nächste, nicht der Ärmste, nicht der Leidenste, nicht der Beste – oh meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, dass er ein Übergang ist und ein Untergang.» Hier erscheint der Übermensch als derjenige, der – im Kontext der ewigen Wiederkunft – um das Verschwinden der Menschen weiss. Offen bleibt, ob der Untergang auch den Übermenschen betreffen wird, der um ihn weiss. Wenige Sätze weiter stösst man auf eine Intuition, welche dies nahezulegen scheint. Sie führt den Gedanken von der Einsicht in den Untergang des Menschen als Teil der ewigen Wiederkunft weiter zu der Vorstellung darüber, wie sich ein Abschied der Menschen vom Planeten Erde «in Würde» vollziehen könnte: «Herz hat, wer Furcht kennt, aber Furcht zwingt, wer den Abgrund sieht, aber mit Stolz.»

Friedrich Nietzsche gehört zu jenen Philosophen, deren Texte ihre – auch entfernten – Leser zu eigenen Gedanken ermutigen, statt ihnen die Übernahme nahtloser Argumente aufzuerlegen. Welche Begriffe und Bilder ihm unsere Gegenwart als eine Zeit vielfältig dramatischer Schwellen abverlangt hätte, werden wir nie wissen. Doch seine Gedanken können Gespräche über diese Gegenwart eröffnen, für die ein Abschied der Menschen vom ­Planeten zur Bejahung des Lebens im kosmologischen Sinn wird. Gerade weil die Evolution der Menschen, wie André Leroi-Gourhan bemerkte, von der biologischen Dynamik abgewichen war und sie durch Kultur und Technologie ersetzt hatte, sind wir grundsätzlich fähig und frei, das Ende des Über-Lebens als Bejahung des biologischen Lebens zu sehen und zu wählen.

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