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An der letzten Grenze

Kann ehrlichen Herzens ein Buch gelobt werden, das etwas behandelt, vor dem man sich fürchtet? Etwas, das uns mit unserer tiefsten Ohnmacht konfrontiert? Etwas, das «unser Vorstellungsvermögen … übersteigt», «vor dem alles menschliche Denken an sein Ende kommt»? Das eine Bereitschaft verlangt, um die wir uns, in der westlichen Zivilisation jedenfalls, heute ebenso allgemein wie […]

Kann ehrlichen Herzens ein Buch gelobt werden, das etwas

behandelt, vor dem man sich fürchtet? Etwas, das uns mit

unserer tiefsten Ohnmacht konfrontiert? Etwas, das «unser

Vorstellungsvermögen … übersteigt», «vor dem alles menschliche

Denken an sein Ende kommt»? Das eine Bereitschaft verlangt,

um die wir uns, in der westlichen Zivilisation jedenfalls, heute

ebenso allgemein wie grundsätzlich drücken – diejenige

zur Konfrontation mit unserer Endlichkeit, mit der Tatsache

und dem Prozess unserer Auslöschung? So sehr wir uns statt

dessen mit brüchigen Phantasmen unablässigen Fortschritts

beschwichtigen: irgendwann einmal, ganz plötzlich oder

nach langen Qualen vielleicht, werden wir nicht mehr sein.

Zu diesem thematischen Umfeld hat Klara Obermüller

neun Vorträge und Aufsätze aus über zwei Jahrzehnten zusammengestellt und mit einem langen Vorwort versehen.

Nicht ohne Grund datiert der älteste dieser Texte von 1979,

dem Todesjahr ihres Mannes, des Schriftstellers Walter

Matthias Diggelmann, der an Krebs starb. Das unmittelbare

Miterleben seines langsamen Abschieds aus dem Leben

kerbte sich bleibend in ihr Bewusstsein ein. Sterben und

Tod, als Herausforderungen nicht nur des Denkens, haben

sie seither nicht mehr losgelassen. Beeindruckend ist die

Unauslöschlichkeit erfahrener Nähe über das Grab hinaus

– um so mehr angesichts einer Gegenwart, in der die Halbwertszeit

menschlicher Beziehungen immer geringer wird.

Nicht systematisierend, sondern in Form persönlicher

Erinnerungen, der Reportage über ein Hospiz, der Auseinandersetzung mit Büchern von Fritz Zorn und Elisabeth

Kübler-Ross, Verena Kast, Peter Noll und anderen, der Interpretation eines Rilke-Gedichts schliesslich, macht Klara

Obermüller verschiedene Facetten ihres Titels sichtbar.

Was auf diese Weise entsteht, ist ein faszinierendes Ineinander

intimster Befi ndlichkeiten und öff entlicher Strukturen.

Schlaglichter fallen auf die Sinnfragen der Überlebenden

wie auf gewandelte gesellschaftliche Bedingungen, innerhalb

derer heute gestorben wird, angesichts sich zersetzender

Familienstrukturen und fehlender Rituale, unter den

Bedingungen der Professionalisierung. Der Massentod vor

dem Hintergrund politischer Katastrophen gerät ebenso in

den Blick wie kulturell-religiöse Versprachlichungs- und

Deutungsversuche. Bei alledem verliert sich die Darstellung

nie ins Abstrakte. Immer gibt sich eine Person als beteiligt

zu erkennen, die «Ich» sagt. Bemerkenswert die Haltung, in

der jene sich den mit dem Th ema verbundenen Schrecken

aussetzt. Sie scheuert sich nicht wund an Fragen ohne Antwort,

sondern begnügt sich mit dem Einverständnis in das

unabänderlich «Unheimliche» und nennt dies im ausserreligiösen

Sinne «Gnade». Gleichwohl ist Klara Obermüllers

Standort jenseits der Resignation. Sie wütet nicht, hadert

nicht und tröstet nicht. Vielmehr bleibt sie gefasst, hellwach,

präzise und diskret zugleich, teilweise ganz pragmatisch.

«Wenn es denn überhaupt so etwas wie eine Ars moriendi,

eine Kunst zu sterben gibt», heisst es unter Anspielung

auf eine alte Kulturtechnik, die wir erfolgreich hinter uns

gelassen haben, «dann müsste es dies sein: zu lernen, wie wir

leben müssen, im Wissen, dass dieses Leben jeden Tag und jede

Minute zu Ende sein kann». Das ist der nicht hintergehbare

Anspruch der Existenz. Und deshalb kann, ja muss dieses

Buch gelobt werden, mag es auch nicht behagen, dass es uns

so eindringlich mit der letzten Grenze konfrontiert.

besprochen von Hans-Rüdiger Schwab, Münster

Klara Obermüller: «Weder Tag noch Stunde. Nachdenken über Sterben

und Tod». Frauenfeld: Huber, 2007.

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