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An der Front
Ein Hund bewacht den Eingang des Schützengrabens, fotografiert von Lukas Rühli.

An der Front

Wenige Kilometer vom beschaulichen Alltagstreiben in den Städten und Dörfern wird die Waffenstillstandslinie zu Aserbaidschan Tag und Nacht militärisch gesichert. Ein Besuch bei den Streitkräften.

Ob in den Strassen Stepanakerts oder in den Bergen des Nordens: Der anhaltende Konflikt mit Aserbaidschan ist oberflächlich wenig präsent, wenn man sich durch Arzach bewegt: keine Checkpoints, keine bewaffneten Soldaten, keine tarnfarbenen Versorgungsfahrzeuge. Und doch bleibt der Bergkarabach-Konflikt die hauptsächliche Raison dʼêtre dieser Republik, ja die einzige Grundlage für ein Nationalbewusstsein, das sich vom armenischen unterscheiden könnte. Die Grenze mit Aserbaidschan ist völkerrechtlich gesehen keine Grenze, sondern lediglich eine bewaffnet gesicherte Waffenstillstandslinie oder, so die Terminologie der Minsker Friedensverhandlungen, eine «Line of Contact». Der am 12. Mai 1994 unterzeichnete Waffenstillstand1 wurde damals ausgiebig gefeiert, aber das rund 20 000 Mann starke Militär2 bleibt trotz des Abkommens der grösste Arbeitgeber und Ausgabenposten der Republik.

Heute besuchen wir die arzachischen Streitkräfte im Frontabschnitt Martuni. Der zu unserer Begleitung abgeordnete Offizier Gegham Grigorjan stellt gleich die Regeln klar: Alle Fragen seien erlaubt, zu Zahlen und Orten werde es jedoch keine Antworten geben. Auf der Fahrt sprechen wir dann zunächst eher über Fussball – am nächsten Tag findet in Baku das Finale der Europa League statt, und der armenische Arsenal-Spieler Henrich Mchitarjan kann aus Sicherheitsgründen nicht auflaufen –, über das Wasser als Kapital Arzachs und über Privates: Grigorjan und seine Frau gehörten 2008 zu den 700 Brautpaaren, die auf einer vom karabachstämmigen Milliardär Lewon Hairapetjan finanzierten Massenhochzeit vermählt wurden, um dem Bevölkerungsrückgang in Karabach entgegenzuwirken.3 Bei den Streitkräften arbeitet er vor allem, weil es eine sichere Anstellung ist; markige Sprüche über «the Turks» sind von ihm nicht zu vernehmen.

Am Tisch des Kommandanten

Nach einer Tankstelle biegen wir links auf einen unbefestigten und unbeschilderten Weg ab, leicht ansteigend durch sanfte Hügel gelangen wir nach weiteren Abzweigungen zu einem offensichtlich angejahrten Stützpunkt. Im Gebäude reiht sich, vom dunklen Gang abgehend, beiderseits Büro an Büro, über vielen Türen stattliche Schwalbennester. Einer der Räume ist üppig mit Pflanzen bewachsen, zwei Militärs rauchen hinter Bildschirmen.

Ein Büro des Stützpunkts, fotografiert von Lukas Rühli.

Wir werden zum Kommandanten geführt, der skeptisch hinter einem massiven Holzpult hervorblickt und sich zögernd mit seinem Vornamen vorstellt: Gor. Er seufzt, als wir fragen, ob er Hoffnung habe, dass die bewaffnete Präsenz 25 Jahre nach einem im wesentlichen eingehaltenen Waffenstillstandsabkommen langsam reduziert werden könne: Das habe man sich vor einigen Jahren auch so gedacht – bis man im April 2016 von einer plötzlichen aserbaidschanischen Offensive, bei der dem Gegner kleine Landgewinne gelangen, überrascht worden sei. Man habe feststellen müssen, dass man den Zusagen Aserbaidschans nicht trauen könne. Die bittere Lektion blieb nicht ohne Folgen: Seither haben die Streitkräfte technologisch aufgerüstet und können den Grenzverlauf heute bis 25 Kilometer hinter die Frontlinie detailliert überwachen; anders als vor 2016 nun 24 Stunden täglich und auf ganzer Länge der Konfliktlinie, auch mit Hilfe armenischer Drohnen. Da zudem die Topografie zugunsten Arzachs wirke, ist sich Oberst Gor sicher, dass ein Überraschungsangriff heute ausgeschlossen sei.

Leistungsschau der Milchgesichter

Auf dem Weg zur Front machen wir Halt an einer grossen, abschüssigen Wiese, wo über hundert frisch eingezogene Rekruten Manöver üben – eine Leistungsschau für unsere Kamera. Der Ausbildungsleiter, ein gutmütiger, rotgesichtiger Mittvierziger, stellt sich als David vor. Seine milchgesichtigen Schüler errichten innert Minutenfrist eine improvisierte Funkantenne, rennen mit schwerem Gerät im Zickzack übers Feld oder bauen innert 15 Sekunden eine Maschinengewehrstellung auf. Die Handgriffe scheinen zu sitzen, David aber meint, am Ende der Ausbildung müssten fünf Sekunden ausreichen.

Rekruten in einer Ausbildungsshow, fotografiert von Lukas Rühli.

Jeder männliche Arzachi geht durch diese harte Schule. Zwei Jahre dauert der verpflichtende Militärdienst nach dem 18. Geburtstag, die ersten sechs Monate sind geprägt von den immer gleichen, streng getakteten, von der Sowjetarmee übernommenen Tagesabläufen. Danach folgen, sofern ein Eignungstest bestanden wird, 18 Monate Frontdienst. Pro Jahr erhalten die Soldaten fünf Tage Ferien, Extratage gibt es für besondere Leistungen sowie für Hochzeiten und Beerdigungen4. Bevor wir weitermüssen, tritt ein Junge mit einem Zettel an uns heran: Er möchte, dass wir ihm über Facebook unsere Fotos schicken, um der Familie zeigen zu können, was er macht – die Soldaten können regelmässig nach Hause telefonieren, Smartphones und Fotoapparate sind aber nicht erlaubt.

Im Schützengraben

Für den Besuch im Schützengraben werden die Sicherheitsvorkehrungen erhöht. Nun muss jedes unserer drei Autos mit einem Armeevertreter besetzt sein. Offizier Sewar übernimmt das Steuer des vorausfahrenden Fahrzeugs – und bietet nebenbei ein Muster des lokalen Verständnisses von Männlichkeit: Als der Lada ein Warnsignal von sich gibt, weil Sewar nicht angeschnallt ist, guckt dieser zunächst irritiert – und löst das Problem dann, indem er sich vorbückt und den Gurt hinter seinem Rücken in die Halterung steckt. Dann fährt er zufrieden los – «nur Schwule schnallen sich an».

Ab dem Distriktshauptort Martuni sind es nur noch wenige Kilometer bis zur «Line of Contact» zu Aserbaidschan. Abgesehen von den vermehrten Schlaglochstreifen, die Panzersperren im Strassenbelag hinterlassen haben, dominiert aber auch hier die Normalität: Restaurants werben für ihre Grillspezialitäten, zwei Lenker diskutieren von Fahrersitz zu Fahrersitz und blockieren die Strasse; auf einem strahlend neu aussehenden Sportplatz machen an die 100 Personen auf hellblauem Tartan ein kollektives Aerobic- oder Cheerleading-Training.

Hinter Martuni kurven wir bald holpernd über zunehmend pfützen- und schlaglochversetzte Feldwege, die nach einigen Richtungsänderungen labyrinthartig zwischen fünf Meter hohen Erdwällen durchführen, durchsetzt von parkplatzgrossen Einschnitten: ehemaligen Geschützstellungen. Als wir unvermittelt anhalten und aussteigen, herrscht eine geradezu aufdringliche Ruhe, nur die in Arzach so omnipräsenten Vögel geben auch hier ihr Konzert. Die Offiziere witzeln herum; dass wir uns rund 200 Meter von einer militärischen Konfliktfront befinden, erscheint geradezu absurd. Die Verbindungspfade im Schützengraben sind v-förmig: ein 30 Zentimeter schmales Wegband, zu beiden Seiten aufgeschüttete Erde, darin kleine Fähnchen – manche mit «M» wie Mine beschriftet, andere mit Zahlen. Das klassische Alarmsystem aus gespanntem, mit leeren Konservendosen behängtem Draht diene nur noch als Back-up, versichert man uns. Wir erreichen eine Art Miniaturdorfplatz: links ein Küchenhäuschen mit Herd, der Kühlschrank gut gefüllt, rechts ein Schlafraum, in dem sieben oder acht Federbetten eine fast geschlossene Liegefläche bilden. Geradeaus die «Kirche» mit etwa zwei Quadratmetern Bodenfläche, auf der offenen Fläche ein Tisch, auf dem später ein (hervorragender) Kaffee in Porzellangeschirr serviert wird. Die befestigten Installationen, aber auch dieser kleine Luxus zeigen: Hier bewegt sich nicht viel, man hat sich in der jeweiligen Lauerstellung stabil eingerichtet.

Ein junger Soldat vor dem Eingang eines Ausgucks, fotografiert von Lukas Rühli.

Etwa zehn Soldaten sehen wir auf der Anlage, kaum einer deutlich älter als die gerade erlebten Rekruten. Einer von ihnen ist schon ein Jahr im Militär und möchte nach den zwei Pflichtjahren weitermachen, ein zweiter lieber studieren oder arbeiten, ein dritter heiraten. Im Schützengraben haben sie viel Zeit, ihre Pläne zu konkretisieren, die Tage sind lang: Beobachten, Feindbewegungen notieren, Meldung erstatten. Moderne Technik ist hier nicht zu sehen, die Beobachtung in die Tiefe erfolgt anderswo. Wir gehen geduckt ein Stück weiter, am Ende des Grabens geht es rechts ab in einen Unterstand: den Ausguck. Hier ist nur noch flüstern erlaubt. Ein zwei Zentimeter hoher Schlitz erlaubt den Blick auf die rund 150 Meter entfernte aserbaidschanische Stellung; durchs Fernglas erspähen wir deren Konturen im grasüberwachsenen Hügelland. Mehr als ein paar Sekunden am Stück dürfen wir nicht durch den Spalt schauen, das Fernglas könnte Spiegelungen verursachen. Zu einem zweiten Beobachtungsposten bleibt uns der Zutritt ganz verwehrt – zu gefährlich.

Sind diese Vorsichtsmassnahmen, ja die Aufrechterhaltung einer bewaffneten Sicherung der ganzen Frontlinie und das massive Militärbudget zu rechtfertigen? Wir können diese Frage nicht beantworten. Doch die Bedrohung ist real. In der Nacht vor unserem Frontbesuch gab es in einem weiter nördlich gelegenen Abschnitt ein Feuergefecht mit insgesamt 150 Schüssen. Drei Tage nach unserem Besuch erfahren wir, dass der 19jährige Rekrut Sipan Melkonjan an genau jenem Frontabschnitt, den wir besichtigt haben, getötet wurde – es soll ein Vergeltungsschlag gewesen sein, zwei Tage zuvor starb ein aserbaidschanischer Offizier.5 Wie du mir, so ich dir. Es ist ein Rückschlag, ein kleiner, aber doch: ein weiterer, wieder einmal – in einem Jahr, in dem nach einer Zeit erhöhter Anspannung infolge der Ereignisse von 2016 erst zwei Todesfälle zu verzeichnen waren und die politischen Führungen Armeniens und Aserbaidschans die Gespräche zur Befriedung des Konflikts wiederbelebt haben.

  1. Arzach bezieht sich in seinen offiziellen Stellungnahmen gern auf dieses Abkommen, da es nebst Repräsentanten von Armenien, Aserbaidschan und einem russischen Vertreter der Minsk-Gruppe auch von einem Vertreter Bergkarabachs unterzeichnet wurde und dieses somit als eigenständige Partei im Konflikt anerkennt.

  2. Die bei einer Gesamtbevölkerung von 150 000 Personen enorme Zahl kommt dadurch zustande, dass die armenische Armee zur Verstärkung Soldaten zu den Streitkräften in Arzach abdelegiert.

  3. Die Mitgift des Mäzens beträgt pro Paar 2000 Dollar (sowie – auf dem Land – eine Kuh) für die Heirat und vom ersten bis zum siebten Kind ansteigend Beiträge von 2000 bis 100 000 Dollar (!).

  4. Eine solche «besondere Leistung» ist etwa ein Glanzresultat im Schiesstest nach der Ausbildung, aber auch das Niederstrecken eines Aserbaidschaners – natürlich nur im Verteidigungsfall, wie Offizier Grigorjan schnell hinzufügt.

  5. Die arzachischen Streitkräfte bestreiten, für dessen Tod verantwortlich zu sein.

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