Ameti übt symbolische
Gewalt aus
Der Beitrag «Freiheit für Sanija Ameti!» verkennt die Symbolik ihrer Handlung. Diese wendet sich nämlich gegen die westliche Zivilisation und Kultur. Eine Replik.
Lesen Sie den Beitrag von Fabian Gull hier.
Shitstorms haben immer einen unangenehmen Geruch, auch dann, wenn sie inhaltlich berechtigt sind. Sie haben den Geruch von Lynchmob, von Pranger, von Selbstgerechtigkeit und Schadenfreude. Sie erinnern uns daran, dass, getragen von der Masse, auch der grösste Feigling den Mut aufbringt, ein faules Ei zu werfen. Darüber hinaus geben Shitstorms gerade dann, wenn sie berechtigt sind, der verwerflichen Tat Reichweite ohne Ende. Meine Replik ist darum keineswegs ein Plädoyer für den Shitstorm gegen Sanija Ameti. Der Shitstorm war hässlich und da, wo er über berechtigte Kritik hinausging, moralisch verwerflich.
Widersprechen möchte ich in einem anderen Punkt: Fabian Gull handelt in seinem Kommentar die Tat, die zum Shitstorm geführt hat, im Wesentlichen unter dem Stichwort Meinungsfreiheit ab und deutet sie als Meinungsäusserung über das Christentum. Er schreibt:
«Das eigentliche interessante Thema ist, warum diese Geschichte, diese scheinbare Lappalie, so hohe Wellen wirft. Leben wir nicht in einer Gesellschaft, in der Religion, das Christentum im Speziellen, seit Jahrzehnten kontinuierlich an Bedeutung verliert?»
Ich stimme zu, dass dies das eigentlich interessante Thema ist, aber der Beitrag von Gull geht dem nicht weiter nach und bietet keine schlüssige Erklärung dafür. Als Antwort darauf, warum diese Aktion so hohe Wellen wirft in einer Gesellschaft, wo Spott über das Christentum schon längst abgedroschen ist und der aufgeklärte Mensch sich in lustiger Gesellschaft abschätzig über die Kirche äussert und sich dann beifallheischend umschaut, kann es nicht überzeugen, den Shitstorm mit verletzten religiösen Gefühlen von «empörten Superchristen» (Viktor Giacobbo) zu erklären.
Wer auf Kunst schiesst, verbrennt auch Bücher
Es geht viel tiefer. Es geht um die Symbolik der ganzen Handlung. Ein Symbol ist ein Faktum (ein Zeichen, ein Wort, eine Tat etc.), das eine höhere Bedeutung verkörpert. Anders gesagt: Wie in einem winzigen Samenkorn enthält ein Symbol eine grössere Wirklichkeit als es der äusseren Erscheinung entspricht. Dem durch «Schindlers Liste» bekannt gewordenen Talmud-Spruch «Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt» liegt diese Logik zugrunde, die im Einzelnen das Ganze sieht.
Natürlich ist es auf der faktischen Ebene ein Unterschied, ob man ein wirkliches Leben rettet oder zerstört und damit in nuce die ganze Welt rettet oder zerstört, oder ob der Akt selber symbolisch ist. Sanja Ameti hat ja nur auf ein Bild von Mutter und Kind, nicht auf wirkliche Menschen geschossen. Materialistisch gesehen hat sie ein farbiges Papier durchlöchert, keine Menschen. Doch die Geschichte wirft gerade darum so hohe Wellen, weil das Papier eben für mehr steht als nur für die materielle Seite und durch die stark verdichtete Symbolik die Fantasie anregt, den Satz «Wer mit einer Pistole mehrfach die Köpfe einer Mutter und ihres Babys auf einem Bild durchlöchert, …» zu ergänzen.
Lässt man die religiöse Komponente (von der Frau Ameti in ihrer Entschuldigung behauptet, sie sei ihr nicht bewusst gewesen) ausser Acht, so ist das die fundamentalste Ebene. Die Symbolik dieser Tat entspricht der des Terrorangriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, wo eben Frauen und Babys ausgewählte Ziele waren. Es ist etwas anderes, als wenn man in der Rekrutenschule auf einen menschlichen Umriss zielt. Nicht die materielle Handlung, sondern das Symbol macht den Unterschied. Die Zielscheiben im Militär dürfen seit Jahrzehnten aus ethischen Gründen nur noch abstrakt an menschliche Formen erinnern und stehen nicht für das Schiessen auf Menschen an sich, sondern repräsentieren Soldaten der angreifenden gegnerischen Armee. Ametis Tat symbolisiert das Schiessen auf Mutter und Kind. Die Schiessübungen im Militär symbolisieren Schiessen auf angreifende Soldaten zur Verteidigung von Mutter und Kind.
«Ametis Tat symbolisiert das Schiessen auf Mutter und Kind.
Die Schiessübungen im Militär symbolisieren Schiessen auf angreifende Soldaten zur Verteidigung von Mutter und Kind.»
Die nächste Ebene ist die Kunst: Ameti hat symbolisch ein Kunstwerk zerstört. Regula Stämpfli argumentiert auf X symbolisch: «Wer auf Kunst schiesst, verbrennt auch Bücher.» Die Kunst verweist über sich selbst hinaus auf die Ebene der Religion: Das Kunstwerk stellt die Mutter Gottes und das Jesus-Kind dar, die der kleinen Schar von tiefgläubigen und meist friedliebenden Menschen heilig sind. Alle drei Ebenen – Menschenleben, Kunst, Religion – spielen eine Rolle bei der Empörung über diesen symbolischen Gewaltakt, der sich gegen die westliche Zivilisation und Kultur wendet, gegen das humanistische, und ja, auch gegen das judäo-christliche Erbe, das untrennbar mit dem Abendland verbunden ist. Seine Wirkung entfaltet das Symbol erst mit der Veröffentlichung dieser Handlung, begleitet von einem lapidaren (und doppeldeutigen) Kommentar: «abschalten».
Freiheit ja, aber auch Verantwortung
Fabian Gull fordert «Freiheit für Sanija Ameti». Einverstanden. Freiheit kann aber nur aufrechterhalten werden, wenn sie mit Verantwortung einhergeht. «Entschuldigung, ich hab’s nicht so gemeint!» hat nichts mit Verantwortung zu tun. Freiheit bedeutet Risiko. Freie Taten haben Folgen zum Guten wie zum Schlechten. Doch welche Folgen sind verhältnismässig und welche nicht? Ein Shitstorm mit Drohungen, die in der Symbolik der Handlung von Ameti in nichts nachstehen, ist nicht verhältnismässig. Eine Strafanzeige wegen Verletzung des für einen säkularen Staat anachronistischen Blasphemieartikels (der wohl sowieso mehr den Islam als das Christentum schützen soll) von Nicolas Rimoldi und der Jungen SVP, ist in einem Rechtsstaat erlaubt, aber nicht besonders schlau. Nimmt ihnen jemand ab, dass sie wirklich um die Ehre Gottes besorgt und zutiefst in ihrem religiösen Empfinden verletzt sind?
Was aber ist verhältnismässig? Ametis Handlung war eine politische Handlung und eine PR-Handlung. Folglich sind politische und PR-Konsequenzen verhältnismässig. Über PR-Konsequenzen muss die PR-Firma, für die sie arbeitet, im Rahmen des Arbeitsrechtes und nach Beurteilung des angerichteten Schadens entscheiden, was sie bereits getan hat. Was das Ausüben politischer Ämter betrifft, so ist Sache der Stimmbürger (wobei Verantwortung übernehmen auch bedeuten kann, dass man zurücktritt). Ob sie politische Ämter weiterhin als Repräsentantin und mit Support der GLP ausüben kann, darf die GLP (im Rahmen der rechtlichen Grundlagen für einen Parteiausschluss) frei entscheiden.
«Ametis Handlung war eine politische Handlung und eine PR-Handlung. Folglich sind politische und PR-Konsequenzen verhältnismässig.»
Freiheit ist ein Geben und Nehmen. Je mehr Verantwortung mündige Menschen in einer offenen Gesellschaft wahrnehmen, desto besser kann sie gewahrt werden.