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Amerika ist ein Traum

Das Streben nach Erfolg hat die USA gross gemacht. Diese Dynamik hat nachgelassen, doch der American Dream lebt noch immer.

Amerika ist ein Traum

Wer Amerikas Seele verstehen will, setzt sich am besten in ein Taxi beziehungsweise ein Uber. Kandis steuert ihren Toyota frühmorgens durch die leeren Strassen von Kansas City. «Wenn ich nicht schlafen kann, gehe ich arbeiten», erklärt sie. Kandis ist eine echte Heldin. Die alleinerziehende Mutter dreier Kinder hat vor drei Jahren ihr eigenes Reinigungsunternehmen gegründet und fährt daneben noch Uber. Ihre Firma schmeisst die Afroamerikanerin derzeit alleine; sie habe ihre Mitarbeiter entlassen müssen, weil sie nicht zuverlässig gewesen seien und gestohlen hätten, erzählt sie. Dennoch arbeitet sie weiter hart. Sie hofft, bald auch Aufträge für Büroräumlichkeiten zu bekommen und dann Herrin über ein Multimillionen-Dollar-Unternehmen zu werden. Der amerikanische Traum lebt in ihr.

Sorgen macht Kandis die hohe Kriminalität. Diese hänge mit der starken Verbreitung von Schusswaffen zusammen. «Früher haben sich die Leute geprügelt, heute erschiessen sie sich.» Doch sei auch die Polizei personell und finanziell zu wenig gut ausgestattet. Wie Kandis denken viele Menschen durchaus differenziert über Politik. In der polarisierten Situation geht das aber oft unter.

Vor dem Nationalfeiertag zeigt sich an einem Baseballspiel
in Kansas City auch das Wetter in Feierlaune.

Kein Chef, kein Supervisor

Alle Uber-Fahrer, mit denen wir sprechen, schätzen die Unabhängigkeit, die ihnen die Plattform gibt. Sie können jederzeit anfangen mit der Arbeit und jederzeit wieder damit aufhören – kein Chef, kein Supervisor. Fast alle haben daneben einen zweiten oder dritten Job.

Prince fährt seit über 15 Jahren Uber, als Zweitjob macht er Reparaturen in Privathaushalten. Während Uber zu Beginn 30 bis 50 Prozent einbehalten hat, sind es heute 50 bis 70 Prozent. Ihm bleibt aber so viel übrig, dass er einmal im Jahr – immer dann, wenn die Flüge gerade billig sind – nach Ghana fliegen und seine Familie besuchen kann.

Jeffrey arbeitete bis vor Kurzem in der Küche und wechselte zu Uber, weil er mit dem täglichen Stress nicht mehr klarkam. Die Herausforderungen auf der Strasse seien leicht dagegen.

Husein schätzt den freien Arbeitsmarkt. Wer einen Job wolle, kriege auch einen. Er selbst fahre zwölf Stunden am Tag, sieben Tage die Woche. Mit dem verdienten Geld könne er dann aber auch mal mehrere Wochen Ferien machen. Husein kommt ursprünglich aus Kenia, ist mit einer Schwedin verheiratet und hat einen amerikanischen Pass. Besonders gutes Englisch spricht er aber nicht.

«Wir müssen nicht das antike Rom sein»

Noch immer sind die USA geprägt vom Spirit des American Dream, von der Idee, dass man es mit harter Arbeit, Geschick und Mut ganz nach oben bringen könne. Doch wie lebendig ist dieser Spirit heute? In der Unterschicht gibt es viele, die zwei, drei Jobs machen, um die immer höheren Lebenshaltungskosten zu bewältigen. Doch ansonsten dominieren Opferdenken und Anspruchshaltung statt Arbeitswille – in der Politik sowieso, aber zunehmend auch an Hochschulen und in der Gesellschaft. Die Folge ist, dass staatliche Interventionen zunehmen und wirtschaftliche sowie persönliche Freiheiten verdrängen.

Der amerikanische Traum bedeutet auch, ganz neu anzufangen:
Ein improvisiertes Heim in den Bergen von Colorado.

Das ist nicht nur für die Dynamik des Landes ein schlechtes Omen. Die USA waren stets eine Pioniernation. Praktisch alle Trends aus Amerika werden in Europa mit etwas Verzögerung und in abgeschwächter Form übernommen. Was heisst es also, wenn die Vereinigten Staaten sich von der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Freiheit, vom Unternehmer- und Gründergeist abwenden? Man fühlt sich erinnert an Luigi Zingales, den italienischen Ökonomen, der in Chicago lehrt. Er sagte im Interview mit uns,1 die USA würden immer mehr wie Italien – ausser beim Essen und beim Wein.

Praktisch alle Trends aus Amerika werden
in Europa mit etwas Verzögerung und
in abgeschwächter Form übernommen.
Was heisst es also, wenn die Vereinigten Staaten sich von
der wirtschaft­lichen und gesellschaftlichen
Freiheit, vom Unternehmer-
und Gründergeist abwenden?

Unausweichlich ist der Abstieg nicht. «Wir müssen nicht das antike Rom sein», rief der Unternehmer und gescheiterte Präsidentschaftsanwärter Vivek Ramaswamy an der republikanischen Parteiversammlung in Milwaukee in den Saal. «Wir müssen nicht eine Nation im Niedergang sein.» Jedoch scheint seine Partei nicht auf Dynamik zu setzen, sondern auf Erhaltung des Status quo. Das Programm der Republikaner ist geprägt von Protektionismus und dem «Schutz» amerikanischer Jobs. An der gleichen Parteiversammlung wettert der Senatskandidat Mike Rogers gegen Elektroautos unter anderem mit dem Argument, dass ihre Herstellung 40 Prozent weniger Arbeit benötige als jene von Verbrennern. Maschinenstürmer mit Krawatte haben politisch Oberwasser.

Von der Politik ist eine Trendwende jedenfalls nicht zu erwarten. Wenn, dann eher von der Gesellschaft. Es gibt immer noch unglaublich viele Amerikaner, die ihr Glück versuchen und etwas Neues wagen. 2022 wurden auf 1000 Einwohner rund 15 neue Firmen gegründet – fast dreimal mehr als in der EU. Trotz aller Unkenrufe ist das Silicon Valley weiterhin an der Spitze des technologischen Fortschritts. Die amerikanische Wirtschaft wächst derzeit trotz der politischen Dysfunktionalität deutlich schneller als die europäische.

Es gibt immer noch unglaublich viele Amerikaner, die ihr Glück
versuchen und etwas Neues wagen. 2022 wurden auf 1000 Einwohner rund 15 neue Firmen gegründet – fast dreimal mehr als in der EU.

Ein offener Geist, offene Märkte und unternehmerische Freiheit: Diese Zutaten haben die USA erfolgreich gemacht. Ohne sie wird der Erfolg schnell wieder verblühen.

Industriepower und Handelskriege

Auf dem Weg zum Harley-Davidson-Museum in Milwaukee ertönen plötzlich Sirenenklänge. Zwischen Polizisten auf Motorrädern und einem Ambulanzfahrzeug fährt ein Tross von mehr als einem Dutzend schwerer SUVs vorbei und biegt auf den Parkplatz des Museums ein. Offensichtlich stattet Donald Trump dem legendären Motorradhersteller einen Besuch ab.

Im Harley-Davidson-Museum in Milwaukee sind die ersten Motorräder
der Kultmarke zu sehen.

«This, our country, is indeed the land of opportunity – the history of the Harley-Davidson company proves that. Only ambition, enterprise, and perseverance are needed for any young man to accomplish what the Harley-Davidson young men have accomplished.» So berichtete «The Milwaukee Journal» 1914 über den Aufstieg des Unternehmens, das ein Jahrzehnt zuvor gegründet worden war. Harley-Davidson steht wie wenige andere Marken für die USA: für Freiheit, Coolness und industrielle Stärke.

In der jüngeren Vergangenheit wurden die Motorräder aber eher mit anderem assoziiert: mit Handelskriegen und dem Niedergang der amerikanischen Industrie. Zwischen 2004 und 2020 halbierte sich die Belegschaft auf noch etwas über 5000, insbesondere im Zuge der Finanz- und Wirtschaftskrise 2008. Nachdem die Trump-Administration neue Zölle auf europäischen Stahl und Aluminium eingeführt hatte, reagierte die EU 2018 mit eigenen Zollerhöhungen, unter anderem auf Motorräder und Bourbon-Whiskey. Daraufhin verlegte Harley-Davidson einen Grossteil der Produktion für Europa nach Thailand. Unter Präsident Biden beendeten die US-Regierung und die EU 2021 ihren Handelskrieg. Die Zahl der Harley-Davidson-Angestellten in den USA ist wieder leicht angestiegen, aber immer noch weit entfernt von den goldenen Zeiten.

Wenig Sympathie für illegale Einwanderer

Spätabends fährt José seinen Uber-Gast durch Chicago. Er lebt schon gegen 30 Jahre in den USA. Gekommen ist er als illegaler Einwanderer aus Mexiko, er hielt sich mit Jobs in der Landwirtschaft oder auf dem Bau über Wasser. Heute hat er eine Aufenthaltserlaubnis, ist verheiratet und hat drei Kinder. Diese sollen, wenn es nach ihm geht, alle studieren. Denn ohne gute Ausbildung, sagt er, werde man in Zukunft nicht mehr über die Runden kommen, wie ihm selber das gelungen sei.

Wenig Sympathie hat José für die illegalen Einwanderer, die heute über die US-mexikanische Grenze kommen. Sie attackierten Grenzpolizisten und lebten danach von staatlichen Unterstützungsleistungen, ohne zu arbeiten. «Die wollen nicht arbeiten, weil man ihnen erzählt, dass sie hierherkommen und Sozialleistungen einstreichen können.» Das sei die Schuld der Regierung.

José glaubt immer noch an den amerikanischen Traum, mit harter Arbeit von ganz unten nach ganz oben zu kommen. «Aber das heisst eben, dass man arbeiten muss.»

Chefredaktor Ronnie Grob (links) und der stellvertretende
Chefredaktor Lukas Leuzinger (rechts) an einem Baseballspiel
in Kansas City.

  1. siehe Q, Ausgabe September 2024.

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