Am Tropf
Im Kanton Wallis zeigt sich exemplarisch, wie stark die Energiebranche mit dem Staat verbandelt ist. Ein Weg aus dem Subventionsdschungel ist nicht zu erkennen.
Bitsch, 24. März 2017, 14.30 Uhr. Mit einem gelben Helm auf dem Kopf werde ich auf der Ladefläche eines Elektrofahrzeugs 750 Meter in den Berg gefahren. Am Ende des Stollens, der aufgrund aktiven Gesteins immer wieder neu ausbetoniert werden muss, stehen die Fahrräder der Mitarbeiter. Es öffnet sich der Blick auf eine grosse Halle, in der das eigentliche Kraftwerk Electra-Massa steht: hier wird Wasser aus dem Stausee Gibidum zu Strom gemacht. Weil das Kraftwerk noch bis in die Sommermonate in Revision ist, darf ich bis in die Turbinengrube hinuntersteigen. Bei Betrieb treffen hier pro Sekunde 55 000 Liter Wasser auf 15 Tonnen schwere Turbinenräder. Es ist alles hier etwas grösser, als ich es mir vorgestellt habe, die zwei Wassertanks zur Notkühlung etwa fassen je 150 000 Liter. Maschinen längst mehrfach umbenannter Firmen wie der BBC tun hier noch klaglos ihren Dienst, aber auch die Digitalisierung hat längst Einzug gehalten. Läuft die Anlage, dann läuft sie ferngesteuert aus Lausanne, dem Hauptsitz der Besitzerfirma Hydro Exploitation AG.
Die Wasserkraft ist essenziell für die Schweizer Energieversorgung: 59,9 Prozent der Stromproduktion des Landes stammten 2015 aus Wasserkraftwerken, die Kernkraft steuerte weitere 33,5 Prozent bei. Auch wenn die Wasserkraft eine erneuerbare Energie ist, wird sie in der Statistik nicht zusammen mit den diversen erneuerbaren Energien Holz, Biogas, Sonne und Wind aufgeführt, die gemeinsam für nur gerade 2,6 Prozent der Energie sorgten. Wasserkraft funktioniert in der Schweiz hervorragend, denn hier gibt es nicht nur hohe Berge, sondern auch viel Regen: Grosse Mengen an Wasser können also viele Höhenmeter herabfliessen. Wasserkraftwerke sind klima- und umweltfreundlich. Gegenüber anderen erneuerbaren Energien haben sie den bedeutenden Vorteil, dann Strom zu produzieren, wenn er benötigt wird, also zum Beispiel an einem kalten, windstillen Januarabend. Dieser Vorteil wird erst dann verschwinden, wenn es möglich wird, erzeugten Strom zu speichern – das jedoch ist bisher nur in Ansätzen möglich.
Geld für die Staatskasse
Lange Jahre war die Wasserkraft ein Erfolgsmodell. Nicht nur für die stromproduzierenden Unternehmen, die bis heute grösstenteils in öffentlicher Hand sind, sondern auch für Standortkantone wie das Wallis. Wie gross die gegenseitige Abhängigkeit von Kraftwerkbetreibern und Standortkantonen ist, zeigt sich anschaulich am Beispiel der Wasserzinsen, die für viele Bergkantone eine bedeutende Einnahmequelle sind. Im Wallis machen sie rund 150 Millionen Franken im Jahr aus, rund 8,5 Prozent aller Steuereinnahmen: 100 Millionen davon fliessen an den Kanton, 50 an die Gemeinden. Der Wasserzins ist eine Kausalabgabe, die von der öffentlichen Hand eingefordert wird, wenn sie einem Privaten das Recht zur Nutzung einer öffentlichen Ressource einräumt. Heute müssen Kraftwerkbetreiber ihren Standortkantonen 110 Franken pro Kilowatt Bruttoleistung abgeben. Diese aktuelle Regelung gemäss Wasserrechtsgesetz wird 2019 auslaufen. Weil sich die Energieunternehmen und die Kantone nicht einigen können, hat der Bund eine Neuregelung mit einem flexibleren Modell vorgeschlagen, dessen Details noch nicht bekannt sind. Nach Informationen der «NZZ am Sonntag» ist ein fixer Grundtarif von 50 bis 60 Franken geplant und ein Zuschlag, der sich am Geschäftsgang der Kraftwerkbetreiber orientiert und bei schlechten Geschäften ausfallen könnte.
Doch heute geht es der Wasserkraft hundsmiserabel, glaubt man dem Schweizer Wasserwirtschaftsverband: «Die Wasserkraft produziert heute mit Verlusten in der Grössenordnung von einer Milliarde Franken pro Jahr. Die Anlagen werden nur deshalb nicht vom Netz genommen, weil der Betrieb immer noch einen willkommenen Deckungsbeitrag an die sowieso bestehenden Kapitalkosten und öffentlichen Abgaben leistet.» Die angespannte wirtschaftliche Situation der Wasserkraftwerke sei vor allem die Folge politischer Eingriffe in den Markt, schreibt die Axpo, ein Energiedienstleister zu 100 Prozent in öffentlicher Hand, auf Anfrage: «Die massive Subventionierung stellt eine enorme Marktverzerrung dar. Insbesondere Deutschland und Italien fluten den Markt mit stark subventioniertem Solar- und Windstrom.»
Zückerchen für alle
Brig, 24. März 2017, 11.30 Uhr. Das SVP-Referendum gegen das Energiegesetz ist mit 68 390 Unterschriften zustande gekommen. Rund 50 der Unterschriften hat der Walliser SVP-Nationalrat Franz Ruppen gesammelt – aus Loyalität zu seiner Partei, wie er sagt. Bei der Schlussabstimmung im Parlament hat er sich aber zusammen mit dem Unterwalliser SVP-Vertreter Jean-Luc Addor der Stimme enthalten. Was Ruppen nun bei der Referendumsabstimmung stimmen wird, will er an diesem Morgen im Restaurant Augenblick beim Bahnhof Brig noch nicht sagen. Politik sei eben Interessenvertretung, und als Vertreter eines Berggebiets sei er in dieser Frage unentschieden. Das Wallis profitiere nämlich gleich mehrfach, führt er aus: «Die Hauseigentümer durch Steuerabzüge, die Wasserkraft durch den Netzzuschlag, das Gewerbe durch die Förderung der erneuerbaren Energien.»
Zückerchen für alle, finanziert vom Steuerzahler: Die Energiestrategie 2050 will diesen Kurs fortführen, ausbauen, zementieren. 2015 wurden über die kostendeckende Einspeisevergütung (KEV), die Vergütungen für den ins Netz eingespeisten Strom garantiert, bereits 418 Millionen Franken an Hersteller erneuerbarer Energien ausbezahlt (2011 waren es noch 145 Millionen Franken). Eine vom Bundesamt für Energie publizierte Liste1 weist für das Jahr 2015 insgesamt 11 250 verschiedene Subventionsempfänger aus. So wurden beispielsweise 16 Franken für eine Photovoltaikanlage in Gsteig bei Gstaad ausbezahlt – und über 9 Millionen Franken für das Flusskraftwerk Rüchlig der Axpo Power AG in Aarau. Insgesamt zahlte der Staat 147 Millionen Franken für Photovoltaik aus, 143 Millionen für Wasserkraft, 121 Millionen für Biomasse und 12 Millionen für Windenergie.
Das Wallis alleine erhielt mit 46,8 Millionen Franken über 10 Prozent aller Vergütungen. Bei Annahme des Energiegesetzes am 21. Mai wird sich die KEV von 1,5 auf 2,3 Rappen pro Kilowattstunde erhöhen. 0,2 dieser zusätzlichen 0,8 Rappen (nach Schätzung des Bundesrats 120 von zusätzlichen 480 Millionen Franken pro Jahr) sollen künftig an die bestehenden Grosswasserkraftwerke ausbezahlt werden. Es kann nicht erstaunen, dass sich im Wallis kaum Gegner der aktuellen Energiepolitik finden lassen.
Mehr Markt…
Naters, 27. März 2017, 10.30 Uhr. Dass der Staat neue Technologien fördere, sei normal, sagt Matthias Sulzer am Hauptsitz der Firma Lauber Iwisa in Naters: «Neue Technologien benötigen nun mal eine Anschubfinanzierung – neue Firmen benötigen Unterstützung, um in einen bestehenden Markt einzutreten. Mit der Sunset-Klausel im Energiegesetz ist dafür gesorgt, dass diese Finanzierung befristet ist.» Der Schaffhauser Sulzer, der seit März im Auftrag der EMPA die Themen Energieeffizienz und erneuerbare Energien erforscht, ist 2003 ins Wallis gekommen und hat die Haustechnikfirma Lauber Iwisa 2005 übernommen; heute beschäftigt die Gruppe 650 Mitarbeiter und ist ein wichtiger Arbeitgeber in verschiedenen Schweizer Regionen und im Fürstentum Liechtenstein. Ja, er werde dem Energiegesetz zustimmen, sagt Sulzer, aber das sei nicht nur ein opportunistisches Verhalten: «Wir sind seit 15 Jahren in diesem Bereich unterwegs – die Energiewende kommt so oder so und wird unser Geschäftsfeld nicht ändern. Mit dem Energiegesetz können wir an ihrer Gestaltung teilnehmen.»
Trotzdem sagt Sulzer, er würde eine Liberalisierung des Energiemarktes begrüssen – dann aber richtig. «Eine echte Liberalisierung wäre es, wenn alle Energieproduzenten ihre Kosten tragen müssen, und zwar die Vollkosten! Dann würde der Atomstrom nicht 6 Rappen, sondern 12 Rappen kosten. Ausserdem sollte sich der Konsument seinen Stromanbieter selbst aussuchen dürfen.» Die Zukunft im Strommarkt gehört den «Prosumenten», ist Sulzer überzeugt (siehe auch Seite 12). Heute seien die Leute von den grossen Energieunternehmen abhängig. «Wenn aber jeder Private die Chance hat, Strom zu erzeugen, für sich zu nutzen oder minutengenau abgerechnet an den Nachbar oder an den Energiedienstleister zu verkaufen, ergibt sich eine ganz neue Marktdynamik.»
… oder Walliser Protektionismus?
Sion, 27. März 2017, 15.00 Uhr. Der andere Weg ist mehr Protektionismus, also «Schweizer Energie first». Für mehr Massnahmen zum Schutz der einheimischen Wasserkraftwerke setzt sich die Walliser Regierung unter Jean-Michel Cina ein. In einer Rede am Energie-Apéro am 7. März in Brig fand der abtretende CVP-Staatsrat deutliche Worte: «Nötig sind protektionistische Massnahmen zugunsten unserer Schweizer Wasserkraft! Wenn Mitgliedsländer der EU ihre Produktionsformen schützen, ist in keiner Weise einzusehen, weshalb ausgerechnet wir Schweizer, die nicht der EU angehören, unsere Produktion ungeschützt diesem völlig verzerrten Markt aussetzen!» Cinas Mitarbeiter Moritz Steiner steht der Dienststelle für Energie und Wasserkraft im Kanton Wallis vor; ich treffe ihn in seinem Büro in Sion. «Solange wir die Monopole hatten, ging es uns gut», sagt er und spricht eine Wahrheit aus, die so viele Unternehmen und Organisationen kennen. Steiner sieht zwei mögliche gesetzgeberische Massnahmen: «Auch wenn es gemäss Bundesamt für Justiz nicht EU-kompatibel wäre, könnten wir eine hohe CO2-Abgabe auf Dreckstrom einführen. Oder aber wir führen eine Grundversorgungsprämie für erneuerbare Energien ein: ein Ausgleichsmechanismus, der den Endverbraucher in schwierigen Zeiten belastet und in guten Zeiten entlastet. Die Wasserkraft erhält damit verlässliche Rahmenbedingungen, womit wieder Investitionen ausgelöst werden, was der Versorgungssicherheit dient.» SVP-Nationalrat Ruppen dagegen gibt zu bedenken, dass protektionistische Regelungen zum Rohrkrepierer werden könnten: «Wenn wir Industrieunternehmen wie die Alusuisse oder die Lonza dazu zwingen, Wasserkraft aus dem Wallis einzukaufen, dann besteht die Gefahr, dass sie ins Ausland abwandern. Bei solchen Industrien sind die Stromkosten sehr entscheidend.» Der Weg aus dem Subventionsdschungel ist ganz offensichtlich schwierig und schmerzhaft. Und er scheint so schnell nicht in Angriff genommen zu werden.
1 http://www.bfe.admin.ch/themen/00612/02073/index.html?dossier_id=02166&lang=de