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Am Sechseläuten schlüpfen Anzugträger in Handwerkerkluft – und erinnern an die Tugenden, die Zürich gross gemacht haben

Die wenigsten, die am Sechseläuten als Schneider, Metzger oder Bäcker durch die Bahnhofstrasse marschieren, sind Handwerker. Aber es hat seinen guten Sinn, dass sie sich in diese Tradition stellen.

Am Sechseläuten schlüpfen Anzugträger in Handwerkerkluft – und erinnern an die Tugenden, die Zürich gross gemacht haben
Sechseläuten in Zürich 1980. Foto: ETH-Bibliothek, Patrick Lüthy.

Zürich ist eine Dienstleistungsstadt. Mehr als achtzig Prozent der erwerbstätigen Bewohner sind im tertiären Sektor tätig. Banken, Versicherungen, Finanzberatungen, Anwaltskanzleien, IT- und Kommunikationsbetriebe, Medien, Immobilienagenturen, Forschungs- und Entwicklungsunternehmungen, Firmen wie UBS, Google, Swiss Life, Microsoft, IBM & Co. erarbeiten in Zürich jedes Jahr rund hundertfünfzig Milliarden Franken. Mehr als zwanzig Prozent des Bruttoinlandsprodukts der Schweiz.

Das prägt die Stadt. Zürich ist international. Rund jeder dritte Einwohner ist ein Expat, Englisch ist zur Umgangssprache geworden, und die Zürcher geniessen das. Man gibt sich gern weltläufig. Hadert damit, keine Grossstadt zu sein. Und fürchtet sich zugleich davor, eine zu werden. Man pflegt liebevoll das Image, anders zu sein als die Städte, zu denen man heimlich aufschaut: London, New York, Tokio, Berlin. Anders, das heisst: überschaubar, persönlich. Elegant, aber mit Bodenhaftung. Cool, aber trotzdem gemütlich.

Keine Schnörkel

«Downtown Switzerland», «Little Big City», «World Class. Swiss Made» – die Slogans, mit denen Zürich in den vergangenen Jahrzehnten für sich geworben hat, zeigen das Dilemma, in dem Kommunikationsstrategen stecken, wenn sie etwas vermarkten sollen, von dem die, die es vermarkten wollen, selbst nicht so genau wissen, was es sein soll. Beim letzten Relaunch wurde das Problem so schlicht wie brachial gelöst: «Zürich, Schweiz» heisst es jetzt. Oder «Zurich, Switzerland». Ein bisschen nach grosser, weiter Welt soll es schliesslich klingen.

«Zürich, Schweiz»: alles, was es braucht. Nichts Unnötiges, keine Schnörkel. Wie solide Handarbeit, die man nicht als etwas verkauft, was sie nicht ist. Ein Slogan, der eigentlich keiner ist. Aber vielleicht steckt in ihm genau die Mischung von unerschütterlichem Selbstbewusstsein und demonstrativer Bescheidenheit, mit der Zürich gern kokettiert. Nicht erst seit gestern. Schon in den sechziger, siebziger Jahren, als noch niemand von Globalisierung sprach, die Kellnerinnen noch Serviertöchter hiessen und man die Rasenflächen in den Parkanlagen nicht betreten durfte.

In Zürich komme der Direktor mit dem Tram zur Arbeit und sei eine Stunde vor der Sekretärin im Büro, hiess es damals. Und das sollte heissen: Man zeigt nicht, was man hat. Wer es weiss, weiss es. Das genügt. Es hiess aber auch noch etwas anderes: Die Zürcher wissen, dass nichts von nichts kommt. Dass nur solide Arbeit zum Ziel führt. Auch wenn man in Teppichetagen arbeitet und im Haus am Zürichberg einen Mercedes in der Garage stehen hat.

Handwerk ist auch Gottesdienst

Das protestantische Arbeitsethos halt. Zwingli, der Bauernsohn aus dem Toggenburg, der die Zürcher gelehrt hat, dass man nicht durch gute Werke, sondern nur durch die Gnade Gottes in den Himmel kommt. Aber ohne ein gottgefälliges Leben eben auch nicht. Und das besteht aus Mässigung, Fleiss, Arbeit. Die klassischen Tugenden. Sie zeigen sich Zwinglis Ansicht nach am ehrlichsten in der Landarbeit. Und im Handwerk.

«In Zürich komme der Direktor mit dem Tram zur Arbeit und sei eine Stunde vor der Sekretärin im Büro, hiess es damals.»

Zürchern, die es gern gesehen hätten, wenn ihre Söhne Pfarrer und «hohe Herren» geworden wären, riet Zwingli, sie einen «rechten» Beruf lernen zu lassen. Im Handwerk liege mehr für eine christliche Zukunft als am geistlichen Beruf, war er überzeugt. Arbeit gab es in der schon damals aufstrebenden Stadt mehr als genug. Mehr, als man in einem Menschenleben erledigen kann. Das duldete kein Nachlassen. Rund siebzig Feiertage schaffte Zwingli ab. Um Gott zu loben, war immer noch genug Zeit. Und Handwerk war auch eine Art Gottesdienst.

Jubel über längere Arbeitszeit

Nur folgerichtig entschied der Zürcher Rat 1525, dass die Feierabendglocke, die während der Wintermonate abends um fünf Uhr geschlagen hatte, ab dem ersten Montag nach der Tagundnachtgleiche eine Stunde später schlagen sollte, also um sechs Uhr. Die Feierabendglocke legte verbindlich den Schluss des Arbeitstags fest. Im Frühling und Sommer dauerte die Arbeitszeit also per sofort eine Stunde länger. Wenn es länger hell ist, kann man länger arbeiten. Und das soll man auch tun. Gott ist mit den Tüchtigen.

Die Verlängerung der Arbeitszeit wurde von den Behörden verfügt. Und vom Volk gefeiert. Der Montag im Frühling wurde mit einem Fest begangen, an dem freilich nicht nur die Mehrarbeit begrüsst, sondern auch der Winter verabschiedet wurde. Spätestens im 18. Jahrhundert bürgerte sich dafür der Begriff Sechseläuten ein, und als sich die Zünfte im 19. Jahrhundert neu erfanden, machten sie das Fest der Arbeitszeitverlängerung zu dem ihren.

Umzüge hatte es am Sechseläuten vereinzelt schon gegeben; dass Jugendliche den Winter in Gestalt eines Schneemanns auf einem Scheiterhaufen verbrannten, war schon fast so etwas wie eine Tradition geworden, auch wenn die Obrigkeit sie zunächst mehr duldete als schätzte. Es gab ein Sechseläuten vor dem Sechseläuten, wie wir es heute kennen. Aber erst mit der Initiative der Zünfte fand es im Lauf des 19. Jahrhunderts zu der Form, in der es noch heute gefeiert wird.

«Wenn es länger hell ist, kann man länger arbeiten. Und das soll man auch tun. Gott ist mit den Tüchtigen.»

Dass die Zünfte ein für das Handwerk zentrales Fest für sich übernahmen, war kein Zufall. Als sie sich nach dem Untergang des Stadtstaates entschlossen, die Zunfttradition nicht aufzugeben (was nahegelegen wäre), sondern in einer neuen Form weiterzuführen, orientierten sie sich in den Repräsentationsformen an der Handwerkstradition der Zünfte. Dies allerdings war nicht selbstverständlich. Die Zünfte waren im 14. Jahrhundert als Handwerksgilden gegründet worden. Doch im 19. Jahrhundert war dieser Aspekt bedeutungslos geworden. Die Zünfte boten da in erster Linie den Rahmen für die Durchführung von Wahlen. Und waren Orte des gesellschaftlichen Lebens.

Die Stunde der Unternehmer

Das war umso wichtiger, als sich Zürich stark veränderte. Politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich. Innert weniger Jahrzehnte entwickelte es sich vom etwas biederen Stadtstaat zur führenden Stadt des jungen Bundesstaates. Zum Wirtschaftsstandort, der der ganzen Schweiz den Puls vorgab. Banken, Versicherungen, Industriefirmen, die über die Schweiz hinaus von Bedeutung waren, der Eisenbahnbau: In Zürich entstand die Schweiz der Zukunft. Es gab Arbeit, man konnte verdienen, die Stadt wuchs. Und das rascher als je zuvor.

Es war die Stunde der Unternehmer. Derjenigen, die bereit waren, Risiken einzugehen, in Innovation zu investieren, neue Technologien zu fördern. Und sich bewusst waren, dass Fortschritt nicht einfach ein Schicksal ist, das über uns kommt wie ein Schneesturm, sondern eine Kraft, die wir in uns wachrufen müssen. Es war die Stunde der Eschers & Co., die sich bewusst waren, dass sich Fortschritt nur in einer Gesellschaft entfalten kann, die dem Einzelnen möglichst weitgehende Freiheiten gewährt. Und dass die Zukunft nicht entsteht, sondern gestaltet wird. Von denen, die an sie glauben.

«Die Zünfte waren im 14. Jahrhundert als Handwerksgilden gegründet worden. Doch im 19. Jahrhundert war dieser Aspekt bedeutungslos geworden.»

Dass sich das Bürgertum in den Zünften in diesem Augenblick ausgerechnet da auf die Handwerkstradition besann, mag auf den ersten Blick erstaunen. Schon damals waren von den Zünftern, die sich am Sechseläuten als Bäcker, Schmiede, Tuchmacher oder Metzger, als Weinbauern, Schneider, Zimmerleute oder Fischer zeigten, längst nicht mehr alle in einem handwerklichen Beruf tätig. Die meisten waren Anwälte, Lehrer, Geschäftsführer, Ingenieure, Ärzte. Aber sie verstanden das, was sie taten, als Handwerk im besten Sinn des Wortes, auch wenn es mit Handarbeit nicht mehr viel zu tun hatte.

Bäckerschürze statt Anzug

Sie waren sich bewusst, was Zürich gross gemacht hatte: Pflichtgefühl, Verantwortungsbewusstsein und ja, durchaus auch der Stolz auf die eigene Arbeit. Sie wussten, dass genau diese Eigenschaften entscheidend waren, um die Stadt in die Zukunft zu führen. Sie hätten nicht von Eigenschaften gesprochen, sondern von Tugenden. Das getrauen wir uns heute nicht mehr. Doch die meisten Zünfter, die heute am Sechseläutenmontag als Schmiede, Schneider, Weinbauern oder Zimmerleute durch die Bahnhofstrasse marschieren, wissen recht genau, was sie mit den Handwerkern verbindet, in deren Tradition sie sich stellen, wenn sie für einen Tag den dunklen Anzug mit dem Gewand des Schmieds, Zimmermanns oder Bäckers tauschen.

Sie verstehen auch, was Zwingli meinte, als er von einem «rechten» Beruf sprach. «Banking ist unser Handwerk», lautet der Claim, mit dem die UBS im vergangenen Jahr ihre Markenkampagne lanciert hat. Klar, das ist demonstrative Bescheidenheit. Aber darin steckt eben auch ein Stück gutes altes Zürcher Selbstbewusstsein. Und ein Anspruch, dem es gerecht zu werden gilt.

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Das Licht brennt, das Gebäude steht, das Auto läuft wieder: Manuelle Arbeit hat etwas Befriedigendes. Bild: Keystone / Ennio Leanza
Resultate statt Identitätskrise

Ich wuchs in einer Sekte auf. Mein Job als Hilfselektriker lehrte mich, Verantwortung zu übernehmen. Die Klarheit des Tuns führt zu einer Klarheit des Denkens.

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