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Am Pfahl gebunden

Eduard Mörike, entstaubt Runde Geburtstage versprechen Dichtern und Denkern oft neue Aufmerksamkeit.
So auch der 200. Geburtstag Eduard Mörikes. Der Rezensent des folgenden Beitrags bespricht eine Auswahl der Neuerscheinungen. Massstäbe zu setzen weiss nur eine.

In seiner schwäbischen Heimat ist Eduard Mörike eine verlässliche Grösse, ein mit Andacht und bisweilen Biedersinn verehrter Dichter, der weder auf klassischem Marmorsockel wie Schiller, noch auf schwankendem Boden wie Hölderlin steht. Manche Verse (etwa aus dem Frühlingsgedicht «Er ists») sind gern zitiertes Gemeingut geworden, und nicht geringen Anteil an Mörikes Popularität hat die Vielzahl von Legenden und Anekdoten, aus denen sich das Bild des vermeintlichen Idyllikers zusammenfügte. Mörikes Mühsal im Studium, sein Leiden am Beruf des Pfarrers (den er bereits als 39jähriger quittierte), seine kompliziert-unglücklichen Liebesbeziehungen, seine Neigung zu skurrilen Steckenpferden und literarischen Spielen – aus diesen Elementen vor allem setzte sich das Klischee des Biedermeier-Repräsentanten zusammen, der es mit seinen ambitionierten Zeitgenossen Heine oder Büchner nicht aufnehmen konnte.

Wer heute über Mörike schreibt, kommt kaum umhin, diese verhängnisvollen Rezeptionslinien nachzuzeichnen und sie gleichzeitig als Irrtum zu brandmarken. Ja, inzwischen scheint es zwingend zur Beschäftigung mit Mörike (wie übrigens auch mit Stifter) zu gehören, hinter dem vordergründig Beschaulichen zuerst das Abgründige und Beklagenswerte zu sehen – gerade so, als liessen sich ernstzunehmende Idyllen denken, die nicht aus dunklen Verhängnissen gespeist wären.

Die Germanistik hat sich konstant und ausführlich mit Mörike befasst; eine monumentale Werkausgabe erscheint in recht gemächlicher Abfolge, und auch an biographischen Darstellungen mangelt es nicht. Wenn es der Kunsthistoriker Ehrenfried Kluckert vor diesem Hintergrund wagt, eine stattliche Biographie vorzulegen, die auch das Werk analysieren will, so muss er damit rechnen, kritisch beäugt zu werden. Und wer die Lektüre des schön ausgestatteten (wenn auch schwach bebilderten) Bandes hinter sich gebracht hat, ist alsbald geneigt, Mitleid für den Porträtierten, für Eduard Mörike, zu empfinden. Kluckerts Herangehensweise leidet unter grosser Schwerfälligkeit; sein Erzählton ergeht sich in angehäuften rhetorischen Fragen, in Vermutungen und Spekulationen. Offenkundig hält der Verfasser seine Leser für simple Naturen, denen er ein Bild Mörikes vermittelt, das in Konventionalität erstarrt. «Massstab setzend» sei, so die Verlagsankündigung, diese Biographie – alle Hoffnung muss darauf gründen, dass diese Werbeprosa von niemandem ernst genommen wird.

Kluckert breitet solide die wichtigsten Lebensstationen aus und versucht – mit bescheidenen Mitteln –, sie erzählerisch aufzubereiten. Sprachbilder aus der Retorte – «In Cleversulzbach schien nur selten die Sonne» – werden aneinandergereiht, und wo immer sich Kluckert Mörikes Poetik und einzelner Werke annimmt, waltet ein Ton, den die professionelle Germanistik längst abgelegt hat. Sätze wie «Er hat seine Gefühle literarisiert» oder «Die Sprachbilder wuchsen ihm aus der Not empor, seinen Zustand zu bewältigen» machen den Handwerkskasten dieses betulichen Biographen aus und erhellen wenig. Das Kluckertsche Fazit «Heute steht fest: Eduard Mörike war ein Künstler» wird in seiner Überraschungslosigkeit Mörike keinen einzigen neuen Leser zuführen.

Wo Ehrenfried Kluckert die Messlatte dessen, was man heute von einer Künstlerbiographie erwarten darf, schon im Ansatz reisst, beschränken sich Irene Ferchl und Wilfried Setzler auf wohltuende Weise. Ihr mit zahlreichen Brief- und Gedichtzitaten angereichertes Mörike-Porträt erfüllt zwei Funktionen: Zum einen lässt es sich trefflich als literarischer Führer nutzen, der die vielen Wohn- und Reiseorte Mörikes beschreibt. Zum anderen erlaubt die unprätentiöse Darstellung, die Grundkonstellation des Menschen und Dichters kennen zu lernen und sich zugleich an den reichhaltigen Illustrationen zu erfreuen. Grundlegend Neues will auch dieses Buch nicht bieten, doch sein sympathischer Duktus gibt eine schärfere Gesamtansicht des unsteten Mörike als Kluckerts anmassende Biographie.

Mörikes Werk erfreut sich heute unterschiedlicher Beliebtheit. Sein Roman «Maler Nolten» wird ausserhalb germanistischer Seminarräume nur selten gelesen, und auch seine psychologisch fein gebaute Novelle «Mozart auf der Reise nach Prag» verschwindet allmählich von den Lehrplänen. Die Gedichte hingegen erfahren regeren Zuspruch, und keine Anthologie zur deutschen Lyrik wird es sich erlauben, auf «Verborgenheit», «Auf eine Lampe» oder «An einem Wintermorgen, vor Sonnenaufgang» zu verzichten. Als Zentrum des lyrischen Werkes gilt der «Peregrina»-Reigen, der in Teilen erstmals im «Maler Nolten» (1832) veröffentlicht wurde und sechs Jahre später in Mörikes erster Gedichtsammlung als fünfteiliger Zyklus erschien.

Verse leidvoller Liebeserfahrung

Seit ihrer ersten Publikation sorgten diese Verse leidvoller Liebeserfahrung für Aufmerksamkeit und Unverständnis. Ihre offenkundige Verknüpfung mit Zäsuren in Mörikes Leben brachte es mit sich, dass Liebhaber und Philologen nie müde wurden, den Zyklus biographisch auszudeuten und oftmals eindimensional zu lesen. Der Augsburger Literaturwissenschafter Mathias Mayer legt nun im Mörike-Jahr eine Studie vor, die die «Peregrina»-Gedichte von verschiedenen Seiten beleuchtet und demonstriert, dass wissenschaftliche Akribie nicht unweigerlich spröde, langweilige Prosa nach sich zieht.

Die biographischen Eckdaten kennt die Mörike-Forschung seit langem. Bereits 1923 hatte Paul Corrodi im «Jahrbuch der Literarischen Vereinigung Winterthur» dem Lebensweg jener Maria Meyer aus Schaffhausen nachgespürt, die den 18jährigen Mörike in grösste Verwirrung gestürzt hatte. In einem Ludwigsburger Wirtshaus lernten Mörike und sein Freund Lohbauer die reizvolle Kellnerin Maria Meyer kennen, die es meisterlich verstand, ihre Herkunft zu verrätseln und nicht nur jungen Studenten den Kopf zu verdrehen. Mörike wurde, obschon sich seine Schwester dem Einfluss der geheimnisvollen Schönen mit moralischem Übereifer entgegenstemmte, in den Bann der zweifelhaft beleumundeten Schweizerin gezogen und sah sein psychisches Gefüge unmittelbar gefährdet.

Mathias Mayer zeichnet das «Seelendrama» ohne spekulativen Ehrgeiz nach und gibt Einblick in die wichtigsten Dokumente dieser einschneidenden Phase in Mörikes Leben. Zum Eklat kam es schliesslich im Sommer 1824, als Maria Meyer versuchte, mit dem Tübinger Theologiestudenten Mörike erneut Kontakt aufzunehmen. Diese Konfrontation war es – wie Mathias Meyer herausarbeitet –, die Mörike aus der Bahn warf. Das «heilige Nachtbild der wandernden Jungfrau» (so der Freund Ludwig Bauer) liess sich angesichts der kruden Realität nicht aufrechterhalten, und da Mörike durch weitere Katastrophen – den Selbstmord seines Bruders – erschüttert wurde, geriet seine ohnehin fragile Psyche vollends aus dem Gleichgewicht.

Es gehört zu Mathias Mayers grössten Verdiensten, die Arbeit an den «Peregrina»-Gedichten auf das Maria-Meyer-Drama zu beziehen, ohne der Versuchung einer oberflächlichen biographistischen Lesart zu erliegen. Mit gelegentlichem Hang zur Wiederholung stellt Mayer heraus, wie raffiniert Mörike für fiktionale Verkleidungen persönlicher Erfahrungen sorgte und diese – etwa im «Maler Nolten»-Roman – mehrfach anderen Figuren unterschob.

Bis in seine letzten Lebensjahre hinein bearbeitete Mörike die «Peregrina»-Gedichte und damit ein Erlebnis, das ihn zu intensiver literarischer Produktivität stimulierte. Das «Geheimnis seiner Liebe» vermag auch der 70jährige nicht zu ergründen; dem Rätsel kommt er nur dadurch nahe, dass er es in literarische Bilder fasst, die selbst als Rätsel daherkommen. Mathias Mayers Resümee betont, was für die Analyse von Literatur selbstverständlich sein sollte (und es selten ist): «Erst die Dichtung, mit ihrem hohen Anteil traumhafter Bilder, kann etwas darstellen, was das Geheimnis zwar nicht löst, aber in seiner Unerklärbarkeit rechtfertigt.»

Eduard Mörike ist – das könnten die Würdigungen und Gedenkartikel dieses Jahres belegen – ein Autor, der es nicht verdient, im Klassikerschrein der deutschen Literatur zu verstauben. Als «einer, der sich nicht mehr angemasst hat, als er zu tragen vermochte» (Mathias Mayer), ist er ein Lehrbeispiel für die subtilen Verflechtungen zwischen persönlichem Erleben und literarischer Transponierung. Und dass seine Gedichte, etwa der Schluss des «Peregrina»-Zyklus, zum europäischen Schatz des 19. Jahrhunderts zählen, ist unstrittiger denn je: «Die Liebe, sagt man, steht am Pfahl gebunden, / Geht endlich arm, verlassen, unbeschuht, / Dies edle Haupt hat nicht mehr, wo es ruht, / Mit ihren Tränen netzt sie bittre Wunden.»

Irene Ferchl / Wilfried Setzler, «Mit Mörike von Ort zu Ort». Lebensstationen des Dichters in Baden-Württemberg, Silberburg Verlag, Tübingen 2004.

Ehrenfried Kluckert, «Eduard Mörike. Sein Leben und Werk», DuMont Verlag, Köln

2004.

Mathias Mayer, «Mörike und Peregrina. Geheimnis einer Liebe», Verlag C. H. Beck, München 2004.

Rainer Moritz, geboren 1958 in Heilbronn, promovierte in Germanistik. Er ist Leiter des Hoffmann und Campe Verlags, Hamburg und Vizepräsident der Marcel Proust-Gesellschaft. Zuletzt erschien vom ihm «Das Buch zum Buch. Ein ABC der Leselust» (2002), «Und das Meer singt sein Lied» (2004) sowie «Mit Proust durch Paris» (2004).

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