Am Hang
Der Humus einer Volkswirtschaft ist der Industriesektor. Start-ups und ausgebildete Fachkräfte festigen ihn. Aufgeweicht wird er durch zu viele Maturanden, Friseursalons und Unternehmensberater. Wird der Humus zu weich, gerät er ins Rutschen.
Bereits tagelang waren heftige Regenfälle niedergeprasselt. Am 14. Oktober 2000 ging dann alles sehr schnell: Innerhalb von Sekunden löste sich am Samstag um 10.30 Uhr der Hang oberhalb des Walliser Dorfs Gondo. Niemand hatte damit gerechnet. Die Schlammlawine walzte 10 Häuser nieder und riss 13 Menschen in den Tod. Zwei Jahre nach der Katastrophe wurde das Dorf wieder aufgebaut. Die Hänge oberhalb des Dorfes sind aber nach wie vor kahl und karg. Es wird Jahrzehnte dauern, bis sie wieder bewachsen sind. Was wegrutscht, ist weg. Ähnlich ist das auch in der Industrie.
In regelmässigen Abständen suchen uns solche Hangrutsche heim und fegen Arbeitsschritte, Industriezweige und sogar ganze Wirtschaftssektoren weg. Einen solchen Hangrutsch erlebte die Schweiz kürzlich, als der Wert des Schweizer Frankens gegenüber dem Euro innerhalb von 15 Monaten um 30 Prozent stieg. Dies war keine langsame Erosion. Als der Dollar gegenüber dem Franken innerhalb von 30 Jahren um den Faktor vier sank, konnten sich die meisten international tätigen Schweizer Unternehmen anpassen und diese Zeit gut meistern. Aber wenn der Euro innerhalb von wenigen Monaten von 1.60 auf 1.10 sinkt, gehen Firmen im Verlauf ihrer Anpassungen zugrunde, es kommt zu massiven Einbrüchen und irreversiblen Verlusten von Arbeitsplätzen. Was wegrutscht, ist weg.
Geologen und Bodenbesitzer sehen sich nach Hangrutschen mit der Frage konfrontiert: Wo und wie generieren wir den neuen Humus, die neuen Pflanzen? Wo und wie generieren wir das neue Fundament, das den Boden stabilisiert, ja für Menschen wieder urbar macht? Die Schweiz muss sich wirtschaftspolitisch ähnliche Fragen stellen: Erneuern sich die hier angesiedelten Firmen nachhaltig und auf hohem technologischem Niveau? Wachsen in der Schweiz genügend neue Firmen? Kurz, entwickelt sich in der Schweiz der Industriesektor, der Sekundärsektor, langfristig positiv? Hat die Schweiz die notwendigen Technologien und den nötigen Unternehmergeist und -willen, um genügend neue Pflanzen heranzuziehen?
In den nachfolgenden Überlegungen werden wir uns nicht mit breiter gefassten Themen wie Rechtssicherheit, Infrastrukturqualität und gesicherter Energieversorgung befassen. Obwohl diese Voraussetzungen natürlich von fundamentaler Bedeutung sind, stellen wir die Erneuerung der Gesellschaft und Nutzung neuer Technologien in den Vordergrund – die Schaffung von neuem Humus und neuen Pflanzen.
Diversität bedeutet Stabilität
Beginnen wir mit einer generellen Bemerkung. Sowohl die Wirtschaft als auch die Gesellschaft profitieren von einer hohen Diversität. Breit abgestützte Gebilde sind robuster als jene, die auf einzelnen Standbeinen beruhen. Um eine andere Naturanalogie zu bemühen: Ökosysteme, die eine grössere Biodiversität aufweisen, sind stabiler. Eine Wiese mit Wasserläufen, Gräsern, verschiedenen Blumen, Bienen, Schmetterlingen, Fröschen, Füchsen, Wühlern, Reihern, Schlangen, Mäusen und Mäusebussards vermag Schockeinwirkungen besser zu verkraften als eine Wiese, auf der es nur Gras und Vieh gibt. Dasselbe gilt für die industrielle Ökostruktur eines Landes. Wird diese durch einzelne Branchen und einzelne grosse Firmen zu stark dominiert, ist sie sehr anfällig für Krisen. Besteht sie jedoch aus gut diversifizierten Branchen und einer Mischung von Kleinstbetrieben, mittleren Unternehmen und grossen Firmen, so vermag sie allfällige Einbrüche als ganzes besser zu absorbieren. Die Folgen einer störanfälligen Ökostruktur lassen sich an England und Frankreich als Negativbeispielen ausmachen.
Risiken der Deindustrialisierung
England hat sich unter Margaret Thatcher und noch lange nach ihrer Amtszeit regelrecht «deindustrialisiert». Unter ihrer Ägide wurde ein industrieller Fundus bestehend aus Eisen-, Stahl- und Maschinenbauindustrie umgepflügt zu einer Serviceökonomie von Finanz-, Konsum- und Unternehmungsdienstleistungen. Im gleichen Zuge wurde das Lehrlingssystem aufgehoben. England verlor von 2000 bis 2010 6 BIP-Punkte im Industriesektor (siehe Graphik 1): Dieser schrumpfte von 22 Prozent auf 16 Prozent des gesamten englischen BIPs, was einem regelrechten industriellen Exodus gleichkam. Die Umlagerungen vom Sekundärsektor zum tertiären Sektor, dem Servicesektor, sorgten für ein fragileres Ökosystem, in welchem eine geringere Anzahl von Reichen einer grösseren Gruppe von Schlechtverdienenden oder Arbeitslosen gegenübersteht: Die «Tertialisierung», also die Hinwendung zu einer reinen Dienstleistungsgesellschaft, bringt hohe Einkommen für eine Gruppe hochgebildeter Spezialisten und unsichere, oft schlecht bezahlte Arbeitsplätze für die grosse Masse. Der Dienstleistungssektor besteht eben nicht nur aus gut gebildeten Anwälten, Ärzten und Unternehmensberatern. Ein grosser Anteil der Dienstleistungsaufgaben ist in «analphabetisierten» Berufen zu finden – in Fastfood-Ketten, wo nicht mehr gelesen, sondern nur noch Piktogrammen gefolgt wird. In diesen Wirtschaftsbereichen wird auch vergleichsweise wenig in die Mitarbeiter investiert; sie werden deshalb schnell Teil eines neuen Prekariats. Auch das in den USA beklagte Schisma zwischen Armen und Reichen lässt sich als Folge einer Deindustrialisierungspolitik deuten, die auf lange Sicht für eine Gesellschaft fatale Folgen haben dürfte: eine weitergehende Desintegration der Gesellschaft, sowohl zwischen Jung und Alt als auch zwischen verschiedenen Gesellschaftskreisen.
Frankreich hat im gleichen Zeitraum seinen Fokus stark auf eine zentral geführte Industriepolitik und auf sogenannte «global players» gerichtet. Die Folge davon war absehbar: Die kleinen und mittleren Unternehmen (KMU) verschwanden weitgehend von der Bildfläche – und damit auch der breit gestützte Unterbau des französisch-wirtschaftlichen Ökosystems. Wie in England erlitt der Industriesektor starke Verluste, wie in England verfügt Frankreich über keine ordentliche Lehrlingsausbildung (mehr) – aber dazu später mehr.
Und die Schweiz?
Der Schweiz bietet dieser Blick über die Grenzen die Chance, dass sie Fehler, die andere begangen haben, vermeiden kann. Bisher hat sie das weitgehend getan. Gemessen am BIP ging der Wert, den die Schweizer Industrie von 2000 bis 2010 geschaffen hat, um weniger als 1 Prozentpunkt zurück – eher ein kleiner Steinschlag als ein Hangrutsch. Man darf zunächst nüchtern feststellen: Die Schweizer Industrie scheint sich in der schwierigen Zeit nach dem 11. September 2001, nach dem Platzen der Dotcom-Blase und nach der Subprimekrise den neuen Umständen gut angepasst zu haben. Das ist für den Wohlstand und die Aufstiegsmöglichkeiten in der Schweiz sehr bedeutend.
Viele der Dienstleistungen hängen am industriellen Sektor, dem Sekundärsektor. Auch jene Arbeitsplätze, die seit 1960 stetig aus der Industrie in den Dienstleistungssektor abgewandert sind, stehen und fallen noch immer mit ihr; sie wurden bloss ausgelagert: Unternehmensberatungen, Reinigungsdienste, Logistikdienstleistungen, Supply Chain Management, Accounting-Dienstleistungen – sie alle setzen eine funktionierende Industrie als Arbeitgeber voraus. Die Serviceindustrie kann langfristig nicht funktionieren ohne die funktionierende «Realwirtschaft». Oder anders gesagt: Wenn die Industrie hustet, holt sich der ganze Tertiärsektor eine Erkältung.
Ob nun Unternehmensberatung, IT-Unternehmen oder Nähmaschinenhersteller: funktionierende Unternehmen brauchen gebildetes Personal – sowohl an Hochschulen trainierte Leute als auch gut aus- und weitergebildete Fachkräfte und Lehrlinge. Die Schweiz verdankt ihre Anpassungsfähigkeit und ihren Wohlstand einem reichen Fundus dieser Leute. Gesellschaftliche Stabilität wird nicht nur durch Ausbildung an Universitäten erzeugt. Es zeichnet sich ab, dass sich die Schweiz des Werts eines durchlässigen dualen Bildungssystems zu wenig bewusst ist. Die Berufslehre verfügt in den meisten gesellschaftlichen Sphären nicht über das gleich hohe gesellschaftliche Ansehen wie der übers Gymnasium verlaufende Pfad zur Universität. Die weit verbreitete Geringschätzung der Berufslehre wurzelt mitunter im falschen Glauben, dass die moderne Industrie ihren Ursprung in Technologien nahm, die an Hochschulen entwickelt wurden. Firmen wie Sulzer, Brown-Boveri, Nestlé oder Hoffmann-La Roche, um nur einige Ikonen der Schweizer Wirtschaft zu nennen, wurden alle von nichtuniversitären Unternehmern mitgegründet. Die höchste Rate der (Klein-)Unternehmungsgründungen findet man im Bereich der Fachkräfte. Mit Blick auf die Resistenz von Ökosystemen lässt sich sogar die These wagen, dass es gesellschaftlich destabilisierend wirkt, wenn Bildung und Leben übermässig verschult werden. Brauchen Kindergärtnerinnen wirklich eine Matur? Brauchen Primarlehrer einen Hochschulabschluss? Ein Grossteil der Arbeiten unserer künftigen Gesellschaft ist nicht mit dem Wissen und Können zu meistern, das ursprünglich an der Schule gelehrt wird. Vielmehr werden Leute gefragt sein, die sich auf der Basis einer soliden Grundausbildung permanent weiterbilden.
Jugendarbeitslosigkeit und (Aus-)Bildung
Zwischen Jugendarbeitslosigkeit und Bildung besteht ein signifikanter Zusammenhang. Obwohl das Bildungswesen ein sehr komplexes System mit vielen gegenseitigen Abhängigkeiten ist, soll es hier in vereinfachter Form anhand einiger Ländervergleiche empirisch dargestellt werden. Zunächst die Fakten: in der Schweiz schliessen etwa 19 Prozent der Jugendlichen die gymnasiale Maturität ab. Etwa 31 Prozent der Jugendlichen haben Zugang zu höheren Lehranstalten. Durch den Unterschied zwischen Matura- und Hochschulquote ist ersichtlich, dass sich 12 Prozent den Zugang zu einer höheren Ausbildung auf dem zweiten Bildungsweg erarbeiten. Nun die Wertung: eine hohe Maturitätsquote an sich ist kein Segen für ein Land. Bei einer (zu) hohen gymnasialen Maturitätsquote sinken naturgemäss auch das Anspruchsniveau und die Qualität der jeweiligen Matura. Wie eine Betrachtung der letzten sechs Jahre eindrücklich zeigt, scheint eine Korrelation zwischen gymnasialer Maturitätsquote und Jugendarbeitslosigkeit zu bestehen (Graphiken 2 und 3). Für viele Bildungspolitiker dürfte dieses Faktum wohl eher überraschend sein.
Jene Schweizer Kantone, deutschen Bundesländer und verschiedenen EU-Länder, die eine hohe Gymnasialquote aufweisen, haben tendenziell auch eine höhere Jugendarbeitslosigkeit zu verzeichnen. Dieses Thema hat natürlich wesentlich mehr Facetten als hier dargestellt. Trotzdem sei die Hypothese gewagt: Man erweist der Jugend und der Gesellschaft einen Bärendienst, wenn man einseitig auf Akademisierung setzt und nicht für ein Gleichgewicht der verschiedenen Berufs- und Bildungsgattungen sorgt. Es ist blauäugig, den Pool an guten Lehrlingen für Industrieelektroniker, Systeminformatiker und Automatikmonteure etc. auszudünnen, indem man möglichst viele junge Menschen in die gymnasialen Ausbildungsgänge zwingt, nur weil das gerade besonders viel Prestige verspricht. Die Schweiz braucht eine richtige Verteilung der verschiedenen Bildungswege und -gruppen, um nachhaltig zu funktionieren.
Ebenso wichtig sind selbstverständlich die Chancengleichheit am Start von Schulkarrieren, die Durchlässigkeit des Bildungssystems und die Möglichkeit der permanenten, auch berufsbegleitenden Weiterbildung.
Damit wären wir beim Inhalt der Schulbildung angelangt. Die Lehrpläne haben sich in der Schweiz in den letzten Jahrzehnten zunehmend in eine Richtung entwickelt, die für die gesellschaftliche Zukunft nicht erfolgversprechend ist. Speziell die sogenannten MINT-Fächer – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – sind durch die verschiedenen Schulreformen auf Volksschulstufe wie auch im Gymnasium systematisch geschwächt worden. Gleichzeitig hat man sich dem Luxus hingegeben, sich zu einer zunehmend Technologie-aversen Gesellschaft zu wandeln, die technologische Neuentwicklungen nicht nur skeptisch beäugt, sondern – oft in Unkenntnis – sogar einfach ablehnt.
Diese Entwicklungen sind der Lösung künftiger Probleme abträglich. Ohne Technologie lassen sich weder neue und erneuerbare Energien entwickeln, noch wird so die weltweite Nahrungs- und Ressourcenknappheit bewältigt. Hinzu kommt die pragmatische Überlegung, dass Leute mit der richtigen technischen (Aus-)Bildung in Zukunft stark gefragt sein werden. Denn es ist klar: China und aufstrebende Schwellenländer sind gegenwärtig daran, die Welt auf einem neuen Niveau zu reindustrialisieren. Und in welchen Ländern werden die zusätzlichen Arbeitsplätze entstehen, wenn investiert wird? Kaum dort, wo ein grosser, innovationsschwacher Dienstleistungssektor und ein Mangel an gut ausgebildeten technischen Fachkräften bestehen.
Start-ups kompensieren verlorene Jobs
Einer der beiden Autoren dieses Beitrags ist mit 27 Jahren wegen eines technologischen Fortschritts in die Schweiz gekommen: Er brauchte für seine Doktorarbeit einen Rechner, den er in Skandinavien nirgends fand. Genauer: er benötigte 3 Megabyte (!) Arbeitsspeicher. Am Ende blieb er in der Schweiz, weil er sich hier wohlfühlte – und weil die Schweiz ein idealer Nährboden für unternehmerisches Schaffen von Arbeitsplätzen war. Das ist sie noch immer. Es herrscht sozialer Frieden, es locken hohe Lebens- und Arbeitsqualität und hohe Löhne bei gleichzeitig hoher Produktivität. Die Schweiz hat indessen eine wirtschaftliche Entwicklungsstufe erreicht, die von den Schweizern alleine nicht geschultert werden kann. Weil die Schweizer mit zunehmendem Wohlstand mitunter weniger Nachwuchs erzeugen, wird zur Notwendigkeit, was in der Schweiz als heikles Thema gilt: selektive Einwanderung. Die personelle Freizügigkeit ist wichtig, um wirtschaftlich und gesellschaftlich anpassungsfähig zu bleiben. Die Schweiz braucht qualifizierte Leute, die für künftige wirtschaftliche und gesellschaftliche Dynamik sorgen – Akademiker und Nichtakademiker.
Zugewanderte Ausländer waren massgeblich an der Gründung vieler grosser Schweizer Firmen beteiligt – und der sehr gewiefte Herr, der in der Uhrenkrise der 1970er Jahre eine ganze Industrie mit Vision und Wille aus dem Tal der Tränen führte, hatte ebenfalls ausländische Wurzeln. Er hat mit Plastikuhren einer serbelnden Industrie zu ihrer Neuerfindung verholfen und auf dem Boden jahrhundertealter Uhrmachertraditionen neue Dynamik entstehen lassen. Und er hat uns ein Paradox vor Augen geführt: Ein Hang ist dann stabil, wenn er ständig kleine Destabilisierungen erfährt und sich seine Zusammensetzung ständig verändert. Der Gedanke dahinter: neue Firmen generieren ständig neue Jobs. In der Schweiz sind es jährlich 20 000. Um diese Dynamik zu illustrieren, eignen sich grosse Länder besser als kleine. Graphik 4 zeigt dies am Beispiel der USA eindrücklich. Während bereits existierende Firmen in den USA über die letzten 35 Jahre netto etwa 1 Million Jobs pro Jahr verloren, haben Start-ups jährlich etwa 3 Millionen neue geschaffen. Das heisst: die vom Portfolio neuer Firmen geschaffenen Arbeitsplätze sind in der Summe konjunkturresistent und wirken auf den Arbeitsmarkt stabilisierend.
Einseitig verteilte Innovationen
Start-ups sind oft Kernzellen neuer Industriezweige. Sie sind Resultat von Forschung und damit verbundener Innovation. Was diese Innovationskraft betrifft, spielt die Schweiz in der obersten globalen Liga. Sie ist das Land mit der weltweit höchsten «intellectual property creation», sie produziert pro Kopf am meisten Patente, Gemeinschaftsmarken und Produktdesigns. Selbst wenn davon die Innovationsleistung des vergleichsweise grossen pharmazeutischen Sektors abgezogen wird, steht die Schweiz noch gut da. Die Schweiz – um in der Naturanalogie zu bleiben – produziert viel Humus (Patente etc.).
Wirtschaftlich relevante Wertschöpfung findet aber erst statt, wenn aus Wissen neue Geschäftsideen entstehen, die sich in Form von neuen Produkten und primär technisch orientierten Dienstleistungen im Markt durchsetzen. Die wichtige Frage lautet deshalb: Wie steht die Schweiz in der Anwendung von Wissen für unternehmerische Tätigkeiten da? Im weltweiten Mittelfeld – denn es könnte durchaus noch mehr Start-ups geben, die Ideen wirtschaftlich umsetzen. Hohe Innovationskraft und mittlere Anwendungsquote – insgesamt klingt das nach einer komfortablen Lage. Ist es aber nicht. Denn ein grosser Teil der Innovationsintensität und neuer Start-ups wird in der Schweiz von den Life Sciences und den Informations- und Kommunikationstechnologien getragen.
Rufen wir uns nochmals in Erinnerung, dass der Schweizer Sekundärsektor während der Krise der letzten fünf Jahre als ganzes in etwa stabil geblieben ist. Wenn wir jedoch in Betracht ziehen, welchen Anteil das Wachstum und damit die grosse Bedeutung des Pharma- und Nahrungsindustriesektors daran hatten, dann ist hier durchaus ein verstärktes Risiko für unser wirtschaftliches Ökosystem auszumachen. Weitere Industriezweige müssen wieder dazugewinnen.
Es besteht Handlungsbedarf in der Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (MEM). Deren Anteil an Businessideen und -plänen, die zum Beispiel im Start-up-Wettbewerb «venture» von der ETH Zürich und McKinsey eingereicht wurden, hat in den letzten Jahren stark abgenommen. Kurz: im traditionellen MEM-Sektor generieren bestehende Firmen und Start-ups zu wenig neue Geschäfte. Und dies, obwohl in Umwelt-, Energie-, Material-, Oberflächen- und Medizinaltechnologie grosses innovatives Potential liegt und die Schweiz im MEM-Sektor genug Wissen und Patente erzeugt. Weshalb ist das so?
Es kann kaum an mangelnder Beratung liegen: Dutzende Stellen, Institutionen und Banken kümmern sich darum – man könnte sogar den Eindruck erhalten, dass mehr Leute Start-ups beraten, als tatsächlich unternehmerisch tätig sind. Statt einer Ausweitung der Beratungsangebote für Start-ups wäre eher eine Bündelung der Kräfte angebracht. Die Förderagentur KTI – die Kommission für Technologie und Innovation – hat hier in letzter Zeit hervorragende Arbeit geleistet. Es ist aber wichtig, dass die KTI nicht als «konjunkturelle Feuerwehr» für alle möglichen politischen Anliegen missbraucht wird.
Liegt es am Geld? Auch hier ist die Schweiz über das Ganze gesehen gut aufgestellt. Relativ zum BIP steht etwa gleich viel Kapital wie in anderen Ländern zur Verfügung. Allerdings: 80 Prozent der Mittel fliessen in den Life-Sciences-Sektor. Das ist gut so und hat auch zum Erfolg dieses Sektors beigetragen. Gleichzeitig sind aber die anderen Sektoren unterversorgt. Es bedarf mehr Mittel für Start-ups aus den MEM-Industrien – jedoch ohne die finanziellen Zuflüsse in die Life Sciences zu drosseln. Es gilt, das eine zu tun und das andere nicht zu lassen. Denn das in der Schweiz vorhandene Kapital kann vermehrt auch in den Start-up-Sektor fliessen. Mit insgesamt mehr Geld im Start-up-Sektor werden die Anreize für die Gründung von mehr MEM-Start-ups erhöht. Hierbei könnte die Schweiz von anderen Ländern lernen, indem sie die Möglichkeiten verbessert, jene Investitionen steuerlich abzusetzen, die im Falle einer Durststrecke eines Start-ups Verluste abwerfen. Mehr Risikobereitschaft der Unternehmer, mehr Risikokapital der Kapitalgeber – dies bedeutet mehr Risiko, aber eben auch mehr Möglichkeiten in Form von Start-ups. Diese schaffen mehr Arbeitsplätze, und diese neuen Arbeitsplätze wirken in der Summe konjunkturstabilisierend.
Der Krise in Europa kann sich die Schweiz nicht entziehen, die Lage dürfte also weiterhin ernst bleiben. Obwohl die Schweiz im Vergleich mit Ländern wie Spanien oder Frankreich weiterhin gut dasteht, darf es nicht Ziel sein, nur im Vergleich gut dazustehen. Eine skandinavische Anekdote mag das verdeutlichen: Ein Schwede und ein Däne sitzen zusammen im Zug und klagen, wie schlecht es ihren Ländern geht. Irgendwann wird es dem Dänen zu viel und er sagt: «Du hast recht, wir fahren beide zur Hölle. Aber immerhin fahren wir beide erste Klasse.»
Eine positive Weichenstellung ist für die Schweiz dann möglich, wenn wir uns nicht nur als Passagiere verstehen, sondern auch und vor allem als Entwickler neuer Gleise, Transportmittel und Zugsteuerungen. Wenn wir dann noch gutes Zugpersonal ausbilden, dürfen wir uns glücklich schätzen.