Am Ende verlieren wir das Interesse an gedanklicher Vertiefung
Vergessen Sie die griechische Schuldenkrise und auch die Sorgen der EU! Soeben komme ich zurück von einem Ausflug nach Chalkidiki, dem Geburtsort Aristoteles’. Ich konnte nicht anders, als mich an der Warmherzigkeit und der positiven Lebensweise der Griechen zu erfreuen. Und das, obwohl die meisten von ihnen gerade eine schwere Zeit durchmachen. Der Zauber der […]
Vergessen Sie die griechische Schuldenkrise und auch die Sorgen der EU! Soeben komme ich zurück von einem Ausflug nach Chalkidiki, dem Geburtsort Aristoteles’. Ich konnte nicht anders, als mich an der Warmherzigkeit und der positiven Lebensweise der Griechen zu erfreuen. Und das, obwohl die meisten von ihnen gerade eine schwere Zeit durchmachen. Der Zauber der Antike ist an jeder Ecke spürbar – und er wirkt inspirierend. Wenn wir also schon das Haushalten nicht von den Griechen lernen können, so vielleicht etwas anderes. Ich fragte mich auf dem Rückflug: Wie kann es sein, dass einige Menschen, die vor mehr als 2000 Jahren gelebt haben, die Welt und ihre sozialen Gesetzmässigkeiten so gut wie wir – oder teils sogar besser – erfassen konnten? Hat sich unser Gehirn nicht weiterentwickelt seit den Sophisten, die ihr Leben damit verbrachten, veraltete Theorien über die Welt zu kritisieren?
Vielleicht ist das schon die ganze Wahrheit: das Leben hat sich beschleunigt, die Gesellschaft mit ihm – und der Normalbürger hat gar nicht mehr die Zeit, sich konsequent einem Problem oder einer Theorie zu widmen. Immer hat man etwas anderes zu tun: irgendwohin unterwegs sein, Geld verdienen, Beziehungen pflegen, das alles, während wir durch unsere Städte hetzen. Und weil wir so viele verschiedene Dinge tun, glauben wir, auch gesamthaft mehr zu leisten – das Gegenteil könnte aber der Fall sein.
TV, Internet, Magazine, Radio – sie alle werfen uns nur Häppchen hin, kleine, konsumierbare Dosen, die sich nicht unangenehm breitmachen. Die tiefgreifende Auseinandersetzung mit einer Frage und ihre Einordnung in einen grösseren Kontext bleiben auf der Strecke. Mehr noch: unser verinnerlichter Häppchenkonsum droht auf lange Sicht diese Art der Weitergabe von Wissen zu eta-blieren! Millionen von täglichen Blogbeiträgen, Facebook- und Twitter-Nachrichten widmen sich der blossen Verlinkung von anderswo entstandenen Informationen. Verstehen wir «reduce to the max» weiterhin derart falsch, besteht die Gefahr, das Interesse an einer gedanklichen Vertiefung gänzlich zu verlieren.
Wie finden wir also unsere Kontemplationszeit? Eine Strategie, die sich in den USA grosser Beliebtheit erfreut, nennt sich schlicht «Mindfulness». Diese mit buddhistischen Meditationsstrategien angereicherte psychologische Therapie zur Stressreduktion hat einen einfachen Kern: der Patient wird dazu angehalten, aufmerksam mit der eigenen Umwelt umzugehen, ohne in erster Instanz über sie zu urteilen. Das betrifft die Beschäftigung mit den Dingen um uns herum ebenso wie das simple Erkennen und Betrachten von allem, was uns neu oder fremd erscheint. Sobald erkannt, so die Lehre, solle bewusst die Initiative ergriffen werden, um Entscheidungen zu treffen. Agieren statt – wie sonst üblich – reagieren.
Diese Technik ist langsameren Kulturen längst bekannt. Sie praktizieren seit Jahrtausenden Yoga, verbringen Wochen oder Monate in Zurückgezogenheit oder haben andere Praktiken, um zur Besinnung zu kommen. Der Sabbat, Tag der Ruhe der Juden, an dem nicht bloss das Arbeiten, sondern auch alle anderen Routinetätigkeiten verboten waren, diente ebenso der Sammlung von Kräften wie der christliche Sonntag – zumindest letzterer spielt aber heute kaum noch eine Rolle. Die Regeneration, die gerade in unserer beschleunigten Welt eine zentrale Rolle spielen müsste, existiert vielfach nicht mehr.
Eine Idee braucht kontinuierliche geistige Nahrung und vor allem das richtige Umfeld, um zu gedeihen. Das Sammeln von Eindrücken und Informationen in der dissonanten Informationsorgie, die auf uns einwirkt, kann einen Geistesblitz hervorrufen – das menschliche Gehirn braucht aber Zeit, um ihn auch zu verarbeiten. Das falsch verstandene «reduce to the max» muss einem richtig verstandenen «Weniger ist mehr» weichen!