Altmeisterliches Seestück
Lukas Hartmann: «Die letzte Nacht der alten Zeit». München: Nagel & Kimche, 2007.
Ein vor Stunden noch mächtiger Mann von siebzig Jahren auf nächtlicher Flucht; ein zu seinem Schutz abgestellter Soldat mittleren Alters; eine junge Magd, die in Notwehr einen Soldaten erschlagen hat und nun in das Dorf eines Mannes reist, in den sie sich bei einer flüchtigen Begegnung verliebte – diese drei Menschen, die einander sonst sicher nicht begegnet wären, führt Lukas Hartmann in seinem Roman «Die letzte Nacht der alten Zeit» auf einem Kahn zusammen, der in der Nacht der Einnahme Berns durch napoleonische Truppen und der Absetzung der patrizischen Stadtregierung über den Thunersee fährt. Es ist eine Novellensituation im klassischen Sinn: das unerhörte Ereignis des Einmarsches der französischen Truppen lässt drei Menschen für eine Nacht auf engstem Raum ein gemeinsames Abenteuer erleben, bis sich am nächsten Morgen ihre Wege trennen.
Drei Lebensalter, drei soziale Schichten, drei psychische Verfassungen auf einem Boot. Da ist der bitter bilanzierende Alte, der sich eingestehen muss, dass die Republik, der er sein Leben lang gedient hat, untergegangen ist – dies wird zum Ausgangspunkt einer Reflexion über sein Leben, die in der Erkenntnis endet, nicht nur als Vater versagt, sondern auch seine Ideale wenn schon nicht verraten, dann aus Opportunität so lange verwässert zu haben, bis seinem Leben im Rückblick jede Würde fehlt. Daneben der Soldat, längst nicht mehr jung und viele Jahre als Schweizer Söldner in den Generalstaaten der Niederlande stationiert, bis ihm, der sich schon als Hagestolz mit karger Pension enden sah, ein spätes Liebes- und Familienglück zuteil wurde, das ihn nach Bern hat zurückkehren lassen, wo er nunmehr – reputierlich und in kleinbürgerlicher Wohlanständigkeit – seiner Soldatenpflicht genügt. Schliesslich die junge Magd, eine mittellose Vollwaise, die aus dem katholischen Freiburg geflohen und bei protestantischer Herrschaft im Kanton Bern untergekommen ist, nun aber in Notwehr einen zudringlichen Soldaten getötet hat. Hartmann erzählt von modernen Bewusstseinslagen in einer altmeisterlichen Sprache, unter Zuhilfenahme einer altertümlichen Novellenkonstruktion und im Rückgriff auf ein gut zweihundert Jahre zurückliegendes Ereignis, das zur Epochenwende stilisiert wird, obwohl es mit der Stunde Null bekanntlich nie allzu weit her ist.
Es ist wie mit der Nacht, mit dem Fackelschein und mit dem Wind, der nur gelegentlich über den kalten See streicht: wir haben es hier mit einem Gemälde zu tun, das sich einer hohen, nicht recht diesseitigen Sprache bedient und seinen Gegenstand mit einer wunderbar funkelnden Patina überzieht. Das ist nicht das billige Schillern eines historischen Romans, der trivialen Mythen der Gegenwart ein Kostüm umhängt, und auch nicht der Versuch, sich in ein vergangenes Ereignis einzufühlen. Hier wird vielmehr über die Bitterkeit des Alters, den Realismus und Verantwortungssinn des mittleren Lebensabschnitts und die Sehnsucht der Jugend in geradezu idealtypischer Weise gehandelt und werden doch lebendige Figuren geschaffen. Zugleich aber ist es, als blickte man auf ein Gemälde des 19. Jahrhunderts, ein symbolistisches gar. Als führe man auf Böcklins Toteninsel zu. Und das ist allerhand. Ein in seinen ästhetischen Mitteln sehr konservatives, in deren Handhabung beeindruckend vollkommenes, aus der Zeit gefallenes und darum wunderbar erholsames, auch rührendes Buch für einen langen Winterleseabend mit gutem Wein am warmen Ofen.
vorgestellt von Andreas Heckmann, München