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(3) Altersvorsorge: zwei Reformansätze

Allein durch Mehreinnahmen und Leistungsabbau lassen sich die Sozialwerke nicht sanieren. Erforderlich ist eine Systemänderung, die das Versicherungsprinzip,
das Vorsorgeprinzip und das sozialpolitische Fürsorgeprinzip neu definiert und kombiniert.

Das Rentensystem in der Schweiz beruht auf den drei Säulen Alters- und Hinterlassenenversicherung (AHV), Pensionskasse und Selbstvorsorge. Dieses Konzept wurde indirekt in der eidgenössischen Volksabstimmung vom 3. Dezember 1972 angenommen, indem damals die Einführung der zweiten Säule beschlossen wurde. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung bezüglich Finanzierung, Auszahlung, Bemessungsgrundlage hat jede der drei Säulen ihre Stärken und Schwächen. Was seit längerem zu erwarten war und nun durch die offizielle AHV-Statistik auch rechnerisch bestätigt worden ist, ist ein in näch-ster Zukunft zunehmendes Auseinanderklaffen zwischen den Prämieneinnahmen und den Rentenausgaben, mit einer daraus resultierenden Finanzierungslücke. Im Hinblick auf den drohenden finanziellen Engpass werden im folgenden drei Stossrichtungen analysiert, die denkbar wären, um die Lage zu verbessern.

Erstens: Die Generierung zusätzlicher Einnahmen im Rahmen des bestehenden Systems.

Zweitens: Der Leistungsabbau im Rahmen des bestehenden Systems.

Drittens: Die Verbesserung der Leistungsfähigkeit durch eine Systemänderung.

Mehreinnahmen ergäben sich bei einer Erhöhung der AHV-Beiträge, durch einen Zuschlag auf die Einkommenssteuer, durch zusätzliche Mehrwertsteuerprozente, durch einen grösseren Anteil aus allgemeinen Steuermitteln oder gar durch die Einführung einer neuen zweckgebundenen Steuer. Weitere Finanzierungsvorschläge basieren auf dem Erlös aus Lenkungsabgaben (Stauabgabe, road pricing) oder aus dem Verkauf der Goldreserven und anderen Nationalbankgewinnen. Ausserdem wird auch über ein Lebensarbeitszeitmodell diskutiert, bei dem die Beitragspflicht an eine feste Dauer, z.B. 44 Jahre, gebunden wäre.

Ein Leistungsabbau wurde anlässlich der letzten AHV-Revisionen diskutiert. In der im ersten Anlauf gescheiterten 11. Revision war beispielsweise vorgesehen, das Rentenalter für die Frauen zu erhöhen (65 Jahre ab 2009), die Renten für Witwen zu kürzen und teilweise abzuschaffen sowie die Referenzperiode für die Anpassung der Renten an die Preisentwicklung auf drei statt zwei Jahre zu strecken. Im Hinblick auf die zwölfte AHV-Revision ist bereits die Rede davon, das Rentenalter im Jahre 2015 auf 66 und zehn Jahre später auf 67 zu erhöhen.

Diesen zwei klassischen AHV-Reform-Vorschlägen ist gemeinsam, dass sie das geltende Sy-stem grundsätzlich nicht in Frage stellen. Zwei aus ordnungspolitischer Sicht höchst problematische Systemmängel bleiben dabei bestehen: die Vermischung zwischen den sozialpolitischen Zielen der Altersvorsorge (Vorsorgeziel) und der sozialen Absicherung (Fürsorgeziel) bei der Wahl und Umsetzung der politischen Massnahmen, sowie die Vernachlässigung der versicherungstechnischen Wechselwirkung zwischen der Leistungsseite und der Finanzierungsseite der AHV.

Als Alternative zu den beiden bisher erwähnten Stossrichtungen, die auf eine Fortschreibung des bisherigen Systems hinauslaufen, wäre als drittes eine grundlegende Systemänderung zu prüfen. Dabei ginge es darum, das Potential an ordnungspolitischen Gestaltungsmöglichkeiten voll auszuschöpfen, damit der Verfassungsauftrag einer minimalen Vorsorge und Fürsorge erfüllt werden kann, bzw. überhaupt wieder erfüllbar wird.

Die AHV kombiniert drei Gestaltungsprinzipien der sozialen Sicherung: das Versicherungsprinzip, das Fürsorgeprinzip und das Versorgungsprinzip. Sie ist keine Versicherung im klassischen Sinn, bei der nach dem Äquivalenzprinzip einmalige Kosten eines unberechenbaren versicherten Ereignisses durch regelmässige Prämien finanziert werden, die das gemeinsame Risiko, die Verwaltungskosten und eine Gewinnmarge abdecken. Sie entspricht auch nicht dem klassischen Fürsorgeprinzip, bei dem die staatlichen Leistungen aufgrund einer konkreten Bedarfssituation aus allgemeinen Steuermitteln erfolgen.

Die AHV funktioniert faktisch nach dem Versorgungsprinzip. Damit ist eine standardisierte staatliche Leistung gemeint, die nur an das Eintreffen eines Ereignisses anknüpft, das durch die betroffene Person nicht verschuldet ist. Das Erreichen des Rentenalters löst automatisch die Altersrente aus und der Todesfall des Gatten die Witwen- und Waisenrente. Der Leistungsumfang nimmt bewusst nicht auf die individuelle Lage des Leistungsempfängers Rücksicht. Die AHV ist auch nicht als subsidiäre Sozialhilfe angelegt, da alle in der Schweiz erwerbstätigen Personen mit 64 bzw. 65 unmittelbar anspruchsberechtigt sind. Eine Ausnahme bildet die Hilflosenentschädigung der AHV, die nur fallweise gewährt wird, jedoch finanziell nicht ins Gewicht fällt.

Die AHV wird allerdings nicht über allgemeine Steuermittel finanziert, wie dies beim Versorgungsprinzip typisch wäre. Einzig die Finanzierung auf der Basis von gesonderten Sozialabgaben rechtfertigt es, die AHV als Versicherung zu bezeichnen. Drei Gründe sprechen aber dafür, dass die Merkmale der heutigen AHV-Finanzierung dem Versorgungsprinzip nahekommen. Erstens ist die Beitragslast wie bei einer Einkommenssteuer vom Einkommen abhängig, wenn auch nur in linearer Form, d.h. mit abgeschwächtem sozialem Ausgleich. Zweitens steuert laut AHV-Gesetz die öffentliche Hand (Bund und Kantone) zurzeit einen Anteil von 20 Prozent der AHV-Einnahmen bei, der gemäss Bundesverfassung auf gesetzlicher Ebene bis auf 50 Prozent ausgebaut werden kann. Diese Subvention wird zwar über zweckgebundene Abgaben (Alkohol-, Tabak- und Spielbankensteuer) finanziert. Solange der Anteil der öffentlichen Hand zuhanden der AHV nur anteilsmässig und daher unabhängig vom erzielten Umfang der genannten Sondersteuern definiert wird, ist faktisch von einer allgemeinen Steuerfinanzierung auszugehen.

Schliesslich steht die Höhe der Renten in keinem versicherungstechnisch logischen Verhältnis zu den Beiträgen, was vor allem aus den vorliegenden Renditeberechnungen hervorgeht. Die aus dem Verhältnis zwischen den bezahlten AHV-Beiträgen und den Altersrenten berechneten sogenannten «internen Zinssätze» bewegen sich in einem sehr tiefen, teilweise sogar negativen Prozentbereich. Dieser variiert z.B. für die gegenwärtigen Generationen zwischen 0,6 Prozent (bei reichen Haushalten) und 2 Prozent (bei armen Haushalten).

Aus dieser kritischen Analyse des Ist-Zustandes ergibt sich die erste Reformidee: Die AHV könnte dadurch entlastet werden, dass sie sich vom Versorgungsprinzip löst und sich vermehrt am Versicherungsprinzip orientiert. Solange am Versorgungsprinzip festgehalten wird, ist eine versicherungstechnisch logische Verknüpfung zwischen der Einnahmen- und Ausgabenseite nicht notwendig. Beide Seiten können weiterhin unabhängig voneinander nach politischen Kriterien definiert werden; finanzielle Lücken werden jederzeit über den Staatshaushalt gedeckt. Wird diese Lückenbüsserfunktion finanziell untragbar, könnte die AHV statt nach dem Versorgungs- nach dem Versicherungsprinzip gestaltet werden.

Eine erste Voraussetzung wäre die neue Definition des Ereignisses, das zum Leistungsbezug berechtigt. So könnte künftig anstelle der Erreichung des Rentenalters als einzigen Kriteriums zusätzlich auch das Unterschreiten des Existenzminimums als Voraussetzung für den Bezug einer Altersrente gelten. Die AHV würde somit pensionierten Personen lediglich ein zu definierendes Existenzminimum gewähren, könnte sich aber weiterhin nach dem Umlageverfahren finanzieren. Der Beitrag der öffentlichen Hand müsste jedoch möglichst eliminiert werden, um den finanziellen Kreislauf zwischen «Prämien»-Einnahmen und Leistungen wieder zu schliessen. Bahnt sich eine finanzielle Lücke an, kann sie mit einer Erhöhung der Lohnbeiträge wieder abgebaut werden. Im Unterschied zu heute würde dies an einem sehr viel tieferen Lohnprozent-Niveau anknüpfen. Die erste Säule der schweizerischen Altersvorsorge wäre dann nicht mehr ein Zwangssparen, das unabhängig von den effektiven Bedürfnissen vorgeschrieben wird, sondern hätte eine subsidiäre, fürsorgerische Funktion.

Eine derart entlastete AHV würde auf der Einnahmenseite am Grundsatz nichts ändern, wonach alle 20- bis 64- bzw. 65jährigen Personen beitragspflichtig sind. Die weiterhin als Lohnprozente erhobenen AHV-Beiträge könnten jedoch unmittelbar reduziert werden, da in einem ersten Schritt der Transferbedarf abnehmen würde. Auf politischer Ebene müsste noch entschieden werden, ob das entfallende Transfervolumen an die zweite oder die dritte Säule zu übertragen sei. Im ersten Fall wäre dies mit staatlicher Regulierung verbunden, die z.B. die Pensionskassenpflicht entsprechend erweitern würde. Im zweiten Fall müsste die öffentliche Hand höchstens die Fördergrenze anpassen. Ansonsten wäre es jedem selbst überlassen, seinen Vorsorgeumfang zu bestimmen, was je nachdem zu einem Anstieg des Konsums oder des Sparens führen würde.

Auf der Ausgabenseite würde die Altersrente nur dann ausbezahlt, wenn eine bestimmte Einkommensschwelle unterschritten wäre. Wenn die so «entlastete AHV» mit anderen Sozialleistungen koordiniert würde, könnten auch ausgabenseitig Ersparnisse erzielt werden.

Entscheidend ist, dass die öffentliche Hand mit der entlasteten AHV im Vergleich zu heute weiterhin den Verfassungsauftrag der Sicherung des Existenzminimums gewähren würde. Der entsprechende Art. 112, Abs. 2, lit. b der Bundesverfassung lautet wie folgt: «Die Renten haben den Existenzbedarf angemessen zu decken.» Dies würde jedoch zu bedeutend tieferen volkswirtschaftlichen Kosten und mit Effizienzgewinnen in der Umverteilung möglich. Aufgrund des Reformvorschlags erhalten nur jene, die auf Unterstützung angewiesen sind, die knappen fiskalischen Mittel als Sozialleistung von der AHV. Jene, die nicht gleich zu Beginn der Pensionierung Renten erhalten, bleiben weiterhin im Genuss dieser Versicherungsleistung, die jederzeit subsidiär beansprucht werden kann.

Nicht zuletzt profitieren nach diesem Modell die Arbeitnehmer von tieferen Lohn-Beiträgen, was sich sowohl auf das Konsum- als auch auf das Sparverhalten, z.B. im Rahmen der dritten Säule, vorteilhaft auswirken müsste (Substitutionseffekte). Auf der Arbeitgeberseite fördern tiefere Lohnnebenkosten die Investitionen bzw. die Schaffung von Arbeitsplätzen (Wachstumseffekte). Die AHV-Beiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber könnten grob geschätzt von heutigen 4,2 Prozent auf 1,8 Prozent angepasst werden, was selbst den ersten, bis 1968 gültigen Wert von 2 Prozent unterschreitet.

Die zweite Reformidee geht noch weiter und will die AHV konsolidieren, indem Vorsorge und Fürsorge getrennt und neu kombiniert werden.Entwickelt man die im ersten Vorschlag formulierten Überlegungen weiter, so können die oben erwähnten ordnungspolitischen Mängel noch konsequenter ausgeschaltet werden. Ausgehend von den politischen Zielsetzungen der Altersvorsorge (Art. 111 der Bundesverfassung) und der Fürsorge im Alter (Art. 112 der Bundesverfassung), stellt sich die Frage nach den dazu notwendigen Massnahmen.

Eine Verbesserung zum heutigen System ergäbe sich aus ordnungspolitischer Sicht wie folgt. Die Altersvorsorge ist effektiver und effizienter, wenn sie in einem System von privaten Pensionskassen erfolgt, deren Wahl direkt durch den Arbeitnehmer getroffen werden kann. Dies entspräche dem System der schweizerischen Pensionskassen, jedoch in Verbindung mit der freien Kassenwahl.

Die Fürsorge hingegen wäre durch eine negative Einkommenssteuer effizienter und transparenter sicherzustellen. Simulationsrechnungen, die für die Schweiz durchgeführt worden sind und Untersuchungen in Deutschland zeigen, dass eine erhebliche Verminderung der Einkommens-ungleichheit durch eine einfache Negativsteuer herbeigeführt werden könnte. Entscheidet man sich für die Übertragung der Vorsorgefunktion der AHV auf die zweite oder dritte Säule und der Fürsorgefunktion der AHV auf bereits bestehende Sozialwerke bzw. -systeme (z.B. die Ergänzungsleistungen), würde sich die AHV rein als Institution erübrigen. Die Vorsorge wäre nur noch durch die zweite und dritte Säule gewährleistet. Soweit entspräche dies dem Pensionssystem in Chile, das die beiden Ziele am konsequentesten getrennt hat. Die Fürsorge wäre in einem ersten Schritt durch die Vielfalt bestehender Soziallei-stungen sicherzustellen. In einem zweiten Schritt könnten diese wiederum konsolidiert werden, so dass die negative Einkommenssteuer zum wichtigsten sozialpolitischen Instrument würde.

Zu betonen ist, dass dieser radikale Lösungsansatz für die AHV nicht in erster Linie das gesamtwirtschaftliche finanzielle Volumen der Vorsorge und Fürsorge, sondern die organisatorische Seite der AHV bzw. die Leistungsfähigkeit der Sozialinstitutionen tangiert – das Geld wird lediglich über andere Kanäle verteilt, ohne Infragestellung der Ziele an sich. Effizienzgewinne durch neue Regelungen und Substitutionseffekte durch ein anderes Verhalten der Personen würden sich erst nach einer Einführungsphase ergeben.

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