Alt und arbeitswillig
Immer mehr Pensionierte bleiben beruflich aktiv. Viele tun dies freiwillig, aber manche auch aus finanziellen Gründen. Die Politik sollte die Bedürfnisse beider Gruppen besser berücksichtigen.
«Mit 66 Jahren, da fängt das Leben an», sang Udo Jürgens einst. Das mag zugespitzt sein, doch immer mehr Erwerbstätige nehmen sich die Worte des Schlagersängers zu Herzen und arbeiten über das gesetzliche Rentenalter hinaus.
Die Arbeitsmarktbeteiligung der 65- bis 69-Jährigen in der Schweiz ist von 15,6 Prozent im Jahr 2004 auf 23,4 Prozent 2023 angestiegen (Abbildung). Dies entspricht einer Zunahme von rund 8 Prozentpunkten. Bei den 70- bis 74-Jährigen betrug die Zunahme rund 4 Prozentpunkte. Zwar wurde der Anstieg zwischenzeitlich unterbrochen, zum Beispiel nach der Finanzkrise von 2008/09 und während der ersten Jahre der Covid-19-Pandemie. Danach hat sich die Arbeitsmarktbeteiligung jeweils wieder erholt und der Aufwärtstrend scheint sich fortzusetzen.
Freude und finanzielle Gründe
Die Gründe dafür sind vielfältig. Auf gesellschaftlicher Ebene kann man sie unter drei Hauptfaktoren zusammenfassen. Erstens spielt der Anstieg der Lebenserwartung und insbesondere der gesunden Lebenserwartung eine Rolle. Unter gesunder Lebenserwartung versteht man die Anzahl Jahre, die wir ohne Einschränkungen bei alltäglichen Aktivitäten verbringen. Die gesunde Lebenserwartung hat in den letzten zwanzig Jahren um rund zwei Jahre zugenommen, die Lebenserwartung bei Geburt sogar um über drei Jahre. Die Tatsache, dass wir länger leben und länger gesund bleiben, ermöglicht es den Menschen, länger aktiv zu bleiben, zum Beispiel indem sie einer bezahlten Arbeit nachgehen.
Ein zweiter wichtiger Grund für die zunehmende Arbeitsmarktbeteiligung älterer Erwerbstätiger sind Entwicklungen, die seit den 1970er-Jahren zu beobachten sind und die mit dem gesellschaftlichen Wandel von einer Industrie- zu einer Dienstleistungsgesellschaft im Zusammenhang stehen.
Dazu gehören zum Beispiel die zunehmende Arbeitsmarktbeteiligung der Frauen – insbesondere mit Kindern – und die Bildungsexpansion. Durch die Zunahme des Anteils der Frauen, die nach einer Familiengründung im Arbeitsleben verbleiben oder wieder einsteigen, steigt der Anteil der älteren weiblichen Erwerbstätigen und somit der Gesamtheit der Erwerbstätigen. Durch die Zunahme des Anteils von Personen mit Bildungsabschlüssen auf Sekundär- und Tertiärstufe üben mehr Menschen qualifizierte Tätigkeiten aus und sind dadurch eher daran interessiert, länger im Arbeitsleben zu verbleiben.
Ein dritter Grund sind Veränderungen in der Sozialpolitik, die zusammenfassend als «Active Aging»-Paradigma bezeichnet werden. Dieses Paradigma zielt darauf ab, ältere Erwerbstätige länger im Erwerbsleben zu halten, und beinhaltet Massnahmen wie die Erhöhung des Rentenalters, eine Reduktion des Umwandlungssatzes bei den Pensionskassen und somit der monatlich ausbezahlten Renten oder die Gewährung von höheren Renten für Personen, die über das Referenzalter hinaus arbeiten.
Werden Personen, die über das Rentenalter hinaus einer bezahlten Arbeit nachgehen, nach ihren Beweggründen gefragt, sind diese ebenfalls vielfältig. Eine Analyse der Schweizer Studie «Vivre-Leben-Vivere» hat gezeigt, dass 28 Prozent der Befragten weiterarbeiten, weil ihr Arbeitgeber ihnen dies proaktiv angeboten hat, und 30 Prozent aus sozialen Gründen, zum Beispiel weil ihnen die Arbeit in ihrem Team Freude bereitet.
Die Studie ergab ebenfalls, dass ein substanzieller Teil der Befragten aus finanziellen Gründen weiterarbeitet. Zehn Prozent der Befragten gaben an, dass sie auf ein Erwerbseinkommen angewiesen sind, und 13 Prozent, dass sie weiterarbeiten, um ihre Rente aufzubessern.
Recht auf Teilzeit
Obwohl sich die gesundheitliche Situation und die Arbeitsbedingungen bei vielen älteren Erwerbstätigen in den vergangenen Jahrzehnten verbessert haben, ist dies nicht für alle in gleichem Masse der Fall. So gibt es bei der Lebenserwartung und der gesunden Lebenserwartung erhebliche Unterschiede, einerseits zwischen sozioökonomischen Gruppen innerhalb von Ländern, andererseits aber auch zwischen Ländern.
Die Altersvorsorgepolitik sollte daher gesundheitliche Aspekte berücksichtigen. Im Rahmen der Reform AHV 21 ist in der Schweiz bereits eine Flexibilisierung des Rentenalters beschlossen worden, die ab 2025 umgesetzt werden soll. Darüber hinaus könnte nicht nur die Möglichkeit von Teilrenten angeboten werden, sondern älteren Erwerbstätigen auch ein Recht auf Teilzeitarbeit gewährt werden. Damit würde dem mit zunehmendem Alter tendenziell steigenden Bedarf nach Erholung Rechnung getragen. Denkbar wäre auch, das Rentenalter von Faktoren wie Beruf oder Bildung abhängig zu machen. Dies wird in einigen europäischen Ländern bereits diskutiert.
Diese Ansätze bieten einerseits die Möglichkeit, das Potenzial älterer Arbeitskräfte dort besser auszuschöpfen, wo Menschen zum Beispiel aus Freude an ihrer Tätigkeit oder aufgrund der mit ihrer Tätigkeit zusammenhängenden Wertschätzung und Sinnstiftung länger im Arbeitsleben verbleiben möchten. Andererseits können sie negative gesundheitliche Folgen abfedern, wo Menschen aus finanziellen Gründen weiterarbeiten.