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Also sprach Minder

Er preist die Unabhängigkeit des parteilosen Politikers und schimpft gerne über Lobbyismus, Boni und Mandatsjäger. Der Schaffhauser Ständerat Thomas Minder prangert an, was ihm am Berner Ratsbetrieb nicht passt. Wie lange hält er den Alleingang aus?

Also sprach Minder

Herr Minder, was sind Sie: Unternehmer aus Familientradition, geborener Politiker oder einfach ein unzufriedener Bürger, der sich aufmachte nach Bern, um der Schweiz die Leviten zu lesen?

Ich bin ein KMU-Mann. Das hat bei uns Tradition, aber ich habe mich aus freien Stücken dafür entschieden. Die Selbstbedienungsmentalität vieler Manager war mir schon lange ein Dorn im Auge. Irgendwann hat es mir den Deckel gelupft, wie wir hier im Schaffhausischen sagen. So bin ich als Quereinsteiger in der Politik gelandet. Nun bin ich parteiloser Ständerat, der in eidgenössischen Vorlagen, die meinen Kanton betreffen, hartnäckig die Interessen des Standes Schaffhausen vertritt.

Sie sind sich gewohnt, frei zu reden. In Bern herrscht aber offensichtlich ein gedämpfter Ton vor. Ihre Interventionen…

…ach was. Es muss doch möglich sein, ungefiltert zu reden, gerade in Bern, gerade in der Politik. Natürlich mit Respekt und Anstand, aber direkt. Politik braucht kein Geschwurbel. Ich stehe zu meinen Aussagen. Dazu gehören nun mal auch Begriffe wie «Kindergarten» und «Streichelzoo». Die medial inszenierte Aufregung dar-über verstehe ich beim besten Willen nicht. Wenn Minder ausruft, ist das ja nichts Weltbewegendes, niemand kommt zu Schaden. Es gab da andere, die viel radikaler waren als ich. Nachdem sein Vorstoss jahrelang vom Parlament verschleppt worden war, liess sich Gottlieb Duttweiler zwei faustgrosse Steine aus der Aare holen und schleuderte diese ans Bundeshaus. Von solchen Regelbrüchen ist der Minder meilenweit entfernt.

Die haben Sie ja auch nicht nötig, denn seit der Lancierung Ihrer Initiative ist Ihnen auch ohne Poltern viel Aufmerksamkeit gewiss.

Ich habe die Aufmerksamkeit nicht gesucht, die war irgendwann einfach da. Aber wenn dann in den Zeitungen geschrieben steht, Minder laufe Amok, dann habe ich schon ein bisschen Mühe. Was ist denn Politik, wenn nicht harte, ernste Auseinandersetzungen mit klarem Sachbezug? So habe ich mir das wenigstens gedacht. Doch manchmal, so musste ich lernen, fehlt dem Parlament der Sachbezug. Mein persönlicher Assistent hat gezählt und ist in einer einzigen Session auf 533 neu eingereichte Vorstösse gekommen. Darunter hat es nun mal einige Geschäfte, die man getrost als «Tubel-Vorschläge» abtun darf. Solche Absurditäten anzuprangern heisst ja nicht, dass alles schlecht ist im Ständerat. Das ist es nämlich nicht. Übrigens ist alles, was ich bisher sagte und tat, ratsreglementskonform.

Ja, klar. Es gibt allerdings ungeschriebene Gesetze…

…ganz recht. Zum Teil kannte ich sie, zum Teil nicht. Ich habe zu Beginn fest dreingehauen, manchmal vielleicht zu fest. Aber ich bin Newcomer und lernfähig. Mittlerweile nehme ich mich auch mal vornehm zurück. Im Umgang mit den Medien handelt es sich ja letztlich um ein Spiel, das ich langsam beherrsche. Manchmal verweigere ich mich, manchmal setze ich einen Akzent und knalle eins drauf. Das braucht es ja auch.

Darauf sind wir nicht aus. Bleiben wir grundsätzlich: Wer hat in Bern welchen Einfluss und wie werden Deals abgeschlossen?

Im Nationalrat wird viel stärker Parteipolitik betrieben als im Ständerat. Der kleinen Kammer wurde eine andere Aufgabe auferlegt. Das Grundprinzip des Ständerats besagt, dass jeder Stand die gleiche Stimmkraft besitzt, egal ob Millionenkanton wie Zürich oder Minikanton wie Schaffhausen mit knapp 80 000 Einwohnern. Das heisst auch, dass die Ständeräte ihren Kolleginnen und Kollegen gegenüber den Respekt zollen, einander zuhören, den Voten aufmerksam folgen. Im Gegensatz zum Nationalrat, wo es ein viel stärkeres Ringen um Aufmerksamkeit gibt, können Ständeräte so viel und lange reden, wie sie wollen – selbst wenn alle im Rat den Kopf schütteln. Dieser Respekt vor der Debatte wird durch Albert Weltis und Wilhelm Balmers grosses «Landsgemeinde»-Wandbild verkörpert, das im Rücken des Ständeratssaales hängt.

Das ist jetzt sehr staatsmännisch formuliert. Gilt nicht eher, dass man fast Berufspolitiker sein und mehrere Legislaturperioden
absolviert haben muss, bis man nach Regeln des Anciennitätsprinzips wichtige Vorstösse lancieren darf?

Das Votum hat im Ständerat einen hohen Wert, aber es gibt tatsächlich die schulmeisterliche Vorstellung, dass ein Neuling zuerst ein paar Jahre still auf der Hinterbank zu verbringen hat, bevor er sich aktiv einbringt. Erst nach der Lernzeit darf man beispielsweise fordern, dass Zugangsbatches nicht an Lobbyisten, sondern nur noch an persönliche Mitarbeiter und Verwandte vergeben werden können. Sie haben gar keine Ahnung, wie sehr es in der Wandelhalle von Lobbyisten wimmelt, wenn ein Entscheid im Gesundheitswesen ansteht. Das ist wie in einem Irrenhaus.

Ich bin ganz Ohr. Erklären Sie bitte ganz genau, wie Lobbyismus in Bern funktioniert.

Das fängt mit der Präsenz in der Wandelhalle an. Ich bin ja nicht so naiv, den Austausch zwischen Interessenvertretern und Parlamentariern verbieten zu wollen – dieser findet ohnehin statt. Aber es kann doch nicht sein, sage ich mir, dass sich bloss wenige Meter vom Abstimmungsknopf entfernt Leute tummeln, die einzig das Ziel haben, Einfluss auf Gesetze zu nehmen. Die Batches sind
begehrt. Sie sind ja gerade eine Aufforderung an alle, Gschäftli zu machen. Posten zu sammeln, ist ein beliebtes Hobby in Bern. Eigentlich müssten Parlamentarier ihre Mandate offenlegen. Aber das ist oft Ermessenssache. Externe Verpflichtungen sind stets gefährlich – auch im Rahmen von Non-Profit-Organisationen, die Spesen entschädigen. Niemand wird das zugeben, aber ich habe mit eigenen Augen gesehen: Nicht wenige Parlamentarier nutzen ihr Amt als Chance, um nach Mandaten für Gegenwart und Zukunft zu jagen.

Auch Sie dürften vor Vereinnahmungsversuchen nicht gefeit sein. Wie erleben Sie persönlich den Zugriff von Interessenvertretern?

In Form einer unvorstellbaren Flut von Mails und Post. Ich bekomme kiloweise Unterlagen – jeden Tag einen Stapel! Einen Tag vor der Behandlung des Asylgesetzes war darunter sogar ein Brief des Bischofs. Kürzlich verschickte der Gewerbeverband vorgedruckte Briefe, die deren Empfänger nur noch unterschreiben mussten, um sie dann mit Hilfe einer beiliegenden Adressliste an alle Ständeräte zu versenden. Was soll denn das? Das ist doch einfach pure Weichklopferei. Diese Art von Lobbyismus ist dekadent, das muss jetzt einfach mal gesagt sein.

Was meinen Sie mit «dekadent»?

Es gibt Themen, die dank Lobbyismus in der Wandelhalle abgeblockt werden und nie in den Rat gelangen. Und bestehende Vorstösse werden nach Strich und Faden zerzaust. Im Falle meiner Initiative wurden elf Anträge von Politikern der CVP und FDP eingereicht, die direkt aus der Feder der Economiesuisse stammten – elf vorformulierte Anträge, Lobbyismus pur ist das, Dekadenz pur.

Sie betonen stets Ihre Unabhängigkeit. Sehen Sie sich doch als letzten Republikaner in Bern?

Schauen Sie, es ist nun mal so, dass ich der einzige Parteilose in Bundesbern bin. Ich habe keine externen Verwaltungsratsmandate, sitze in keinem Vorstand. Ich zahle meine Beiträge beim WWF, Pro Natura und beim VCS, bin aber kein aktives Mitglied. Solange ich Parlamentarier bin, werde ich auch keine Verwaltungsratsmandate annehmen. Es würde mich natürlich schon reizen, im VR eines Grossunternehmens Einsitz zu nehmen, um wirklich zu sehen, was da abläuft, aber Prinzip ist Prinzip. Und das gilt nicht nur für mich.

Die Idee des helvetischen Milizsystems ist, dass der Parlamentarier neben seinem politischen Engagement noch ein berufliches Standbein hat, das ihm eine gewisse Unabhängigkeit garantiert. Aber viele, sagen Sie, kommen nur dank ihres politischen Amtes zu neuen Jobs. Aus der postulierten Unabhängigkeit wird so eine forcierte Abhängigkeit…

…wollen Sie nun sagen, man müsse das Milizsystem kippen?

Wäre das die falsche Schlussfolgerung?

Das wäre wirklich ein Blödsinn. Ich bin vehement gegen ein Berufsparlament. Schauen Sie doch mal ins Ausland, da herrscht die Classe politique! Natürlich gibt es die, die sagen, dass sie bei höheren Entschädigungen weniger Mandate annehmen müssten. Das ist ein Pseudoargument, das glaubt doch kein Mensch. Und ganz abgesehen davon: wir haben auch in der Schweiz längst Berufspolitiker, die Bezahlung ist mittlerweile gut genug. Die reagieren sehr sensibel, wenn es um den eigenen Lohn geht. Das habe ich erlebt, als ich gegen die Lohnerhöhung für Parlamentarier Stellung nahm. Man wollte sich mitten in der Krise eine Lohnerhöhung zugestehen, und dann wagt es der Minder zu sagen: Verdient euer Geld mit echter Arbeit, nicht in der Politik. Da hat der halbe Ständerat gebrannt. Nur die SVP hat mich unterstützt. Der Nationalrat hat dann die Lohnerhöhung gekippt, das war eine Genugtuung!

Sie haben in der ersten Session das Wort ergriffen…

…das kam gar nicht gut an.

Zumindest nicht bei Ihren Kollegen. Auf der Strasse dürften Sie sich Sympathien geholt haben. War das Kalkül?

Ich befand mich in meiner ersten Session in einem Dilemma – auf der Traktandenliste stand meine Volksinitiative, und mir wurde zugetragen, dass ich den Mund halten solle. Diese Ratschläge habe ich ernst genommen. Ich habe im Ratsbüro angerufen und gefragt, ob ich der erste Ständerat in der Geschichte des Bundesparlaments wäre, der sich in der ersten Session zu Wort melden würde. Dies wurde verneint. Aber ich befand mich weiterhin im Clinch mit mir selber. Dann habe ich mich gefragt: Was erwarten jene von mir, die mich gewählt haben? Und ich rief mir zweitens in Erinnerung, dass im Ständerat Gleichberechtigung herrscht. Also sprach Minder. Gleich fünfmal. Reden ist die Waffe der Politik. Hätte ich mir von einem ungeschriebenen Gesetz diese Waffe wegnehmen lassen sollen?

Es fällt auf, dass Sie in der dritten Person von sich reden. Warum?

Das ist mir nicht bewusst. Vielleicht, weil man in der Politik die ganze Zeit von Nachnamen redet: Minder-Initiative, Minder-Postulat. Im Parlament bin ich der Minder oder der Kollege Minder. So läuft das in Bern. Auch in den Kommissionen redet man sich gegenseitig mit Nachnamen an, selbst wenn man einander gut kennt.

Das Ich, das von Minder redet, ist im Grunde der Bürger, der über sich selbst als Politiker redet – genau gleich, wie er über alle Politiker redet?

Vielleicht ist das so. Das kann ich nicht sagen. Ich rede einfach so, wie mir der Schnabel gewachsen ist.

Die Politik hat es Ihnen angetan.

Ich möchte mich für das Gemeinwesen engagieren und meinen Beitrag zu einer besseren, friedlicheren Schweiz sowie einer nachhaltigeren Volkswirtschaft leisten.

Das klingt nun wieder sehr staatsmännisch, wie aus dem Mund eines langjährigen Politikers. Gehen wir der Reihe nach: Was heisst «besser»?

Zugegeben, der Begriff ist vage. Mit «besser» meine ich: Probleme werden erkannt, benannt und gelöst. Es geht oft viel zu lange, bis wir uns zu Entscheiden durchringen. Bundesbern hat sage und schreibe fünf Jahre gebraucht, um im Fall des tödlich verunglückten Kleinkindes durch einen Hundebiss zu entscheiden, diese Kompetenz bei den Kantonen zu belassen. Fünf Jahre, man muss sich das mal vorstellen!

Die Bedächtigkeit der helvetischen Demokratie hat auch ihr Gutes: Sie lässt viele schlechte Vorschläge versanden.

Der Gedanke ist witzig, verfängt aber nicht. Die negativen Elemente der Langsamkeit in einer Demokratie überwiegen. Warum haben wir bei Wahlen im Thurgau oder Zürich nur noch 28 oder 35 Prozent Stimmbeteiligung? Ich komme aus dem Marketing, habe gelernt zu spüren, wo die Leute Probleme orten. Werden diese Probleme auf die lange Bank geschoben, wird das System träge. Dann kommt es zu Politikverdrossenheit und Ohnmacht. Eine solche Dynamik kann dazu führen, dass ein im Grunde politisch interessiertes Volk das Gefühl hat, den Oberen einen Denkzettel verpassen zu müssen. Ich erhalte diverse Mails, die in diese Richtung gehen. Das ist brandgefährlich.

«Besser» heisst für Sie also «zeitnah»…

…und lösungsorientiert. Ich frage mich bei jeder Vorlage: Brauchen wir wirklich ein neues Gesetz und ist dies absolut zwingend? Nehmen wir die Mehrwertsteuer beziehungsweise deren Dreiteilung und ihren ausufernden Ausnahmekatalog. Das ist ein Bürokratie- und Interessenwirtschaftsmonster par excellence! Ich plädiere schon lange für den schlanken Einheitssatz, doch der föderale Widerstand – Stichwort Hotellerie und Gastronomie – ist enorm. Oder wenn im Jura ein Fohlen stirbt, weil ein Bauer einen stumpfsinnigen Stacheldraht benutzt, wird das Problem nicht gelöst, indem man ein Stacheldrahtverbot erlässt. Sterben dadurch künftig keine Tiere mehr? Unvorsichtige Bauern wird es immer geben. Andrerseits ignorieren unvorsichtige Gesetzesmacher leicht diverse Nebenwirkungen, die wiederum nach neuen Gesetzen verlangen.

Kommen wir zum nächsten Punkt. Was heisst «nachhaltig»?

Keine Exzesse, die sich nur an kurzfristigen Gewinnen und Quartalszahlen orientieren. Nachhaltig heisst für mich, dass ein Entscheid von heute an jener Wirkung gemessen werden muss, die er in hundert Jahren hat. Ich kann als Unternehmer nachhaltig handeln und trotzdem Gewinne machen, einfach nicht auf Kosten der Zukunft. Die Politik, das muss man auch mal sagen, handelt oft gegen dieses Prinzip. Probleme werden hinausgeschoben – und plötzlich verfällt man dem Aktivismus, inszeniert sich als Pro-blemlöser, obwohl man neue erst schafft. Jahrelang befand sich das Asylwesen im Tiefschlaf. Ich muss nicht jahrelang im Parlament wirken, um zu sehen, dass dies ein Fass ohne Boden war. Aber dann sollen Vorlagen mit Dringlichkeit durchgeboxt und kurzfristig Barracken gebaut werden? Im Asylwesen sind Referenden programmiert, da fliessen Milliardenbeträge, von denen diverse Organisationen und Akteure profitieren. Der linke Widerstand gegen die Reformierung des Asylwesens beruht ja darauf, dass sie für die Erhaltung dieses Programms gewählt wurden.

Für Ihre Initiative erhalten Sie Sukkurs von links. Stört Sie das?

Die Stärkung der einzelnen Eigentümer ist eigentlich kein linkes Thema, aber was soll’s. Eigentlich will ich einen schlanken Staat, der Staat soll sich auf das beschränken, was der Private nicht machen kann. Abfallentsorgung? Privatisieren. Die Krankenwagen und die Sicherheit lassen wir beim Staat. Aber wir müssen den Staat aus den börsenkotierten Unternehmen abziehen. Damals, als der Bund als Aktionär die Swissair mitsteuerte, haben wir gesehen, was passieren kann, wenn der Staat mitmischelt. Im Falle der Swisscom ist der Staat immer noch Aktionär. Das stösst bei mir auf Unverständnis. Denn wenn es einen Markt gibt, der spielt, dann ist es die Telekommunikation. Die letzte Meile muss man endlich aufbrechen. Derartige Diskussionen über Grundangebote führe ich gerne. Mit der Post-initiative und dem fehlgeleiteten Versuch, ein flächendeckendes Poststellennetz zu zementieren, wird dies nun teilweise gemacht.

Wie lange halten Sie es durch, gegen den Widerstand der Mehrheit im Parlamentsbetrieb zu agieren? Oder anders gefragt: Wann setzt bei Ihnen die notorische Déformation professionelle ein?

Mich beschäftigt die Frage, wie lange der Minder unabhängig bleiben kann. Ich hielt den Avancen von Bäumle und Blocher stand, meine Abzocker-Initiative zugunsten des Gegenvorschlags zurückzuziehen. Ich pflege einen sehr guten Kontakt zu Blocher und fragte mich schon, ob es denn wirklich sein muss, dass ich mich mit ihm anlege. Umgekehrt gilt auch für Blocher: Leg dich nicht mit dem Minder an. Diese Unabhängigkeit will ich behalten, denn es braucht auf allen Stufen – ob auf eidgenössischer, kantonaler oder Gemeindeebene – Bürger und Politiker, die den Mut haben, den Finger auf einen wunden Punkt zu legen und das Kind beim Namen zu nennen.

 

 


 

Das Treffen mit Thomas Minder

Thomas Minder ist ein Freund klarer Worte. Als wir ihn ganz offiziell auf elektronischem Weg anfragten, mit uns einmal grundsätzlich über Berner Politik zu reden, wollte er indes lieber schriftlich Auskunft geben. So könne er seine Gedanken klarer formulieren bzw. kommunizieren, meinte der Schaffhauser Unternehmer. Warum nicht? Es entwickelte sich eine unheimlich gepflegte Korrespondenz, in der sich Minder ruhig, diplomatisch, ja geradezu staatsmännisch brav gab. Wir fragten uns: Ist dies der Störenfried, der den betulichen Berner Politbetrieb zur Empörung treibt und das wirtschaftliche Establishment das Fürchten lehrt? Wir nehmen also die S16 ab Zürich Richtung deutsche Grenze, um die Sache vor Ort zu klären. In Neuhausen am Rheinfall angekommen, schreiten wir durch das Industrieviertel, von wo aus die Schweizerische Industriegesellschaft (SIG) einst Waffen in die ganze Welt lieferte. An der Rheinstrasse 84 steht das nüchterne Trybol-Haus, das bis 1919 das «Hotel Bahnhof» war. Von dort aus steuert Thomas Minder die Herstellung und den Vertrieb seiner Mundwasser und Zahnpasten. Die Kräuterprodukte schwängern den Duft im holzigen Treppenhaus. Minder empfängt uns im Sitzungszimmer, das einem Apothekersalon gleicht: An den Wänden hängen Vintage-Poster, die in den Glasvitrinen ausgestellten Pflegeprodukte erinnern an den Verkäuferli-Kasten aus der Kindheit. Dann legt Minder los, bewehrt mit einem Mundspray. Zuerst brav, immer weniger brav, dann in Minderform – emotional, aber ebenso präzise. Es spricht kein Polteri, sondern, wenn schon, ein Republikaner alter Schule. Mit stechendem Blick schildert er, was ihm am Parlamentsbetrieb und seinen prägenden Kräften nicht passt. Aber das habe er ja in der Korrespondenz schon gesagt, schiebt er jeweils nach. Wir nicken und denken zugleich: der sprechende Minder und der schreibende Minder. Der sprechende ist einnehmender, mutiger, direkter. Nach knapp zwei Stunden bedankt sich Minder für den mitgebrachten Wein und gibt uns einen Vorrat an Veilchenwurzelzahnpasta und «Original Swiss Herbal Mouthwash» mit auf den Weg.

Florian Rittmeyer

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