Als das Denken seinen Lauf nahm
Silvia Ferrara: Eine Reise zu den Anfängen des Denkens in der Steinzeit.
Dank einiger technologischer Durchbrüche können die Anfänge der Menschheit mittlerweile genetisch rekonstruiert und damit auch die globalen Wanderungsbewegungen ihrer frühesten Vertreter nachgezeichnet werden. Die Ursprünge des Bewusstseins liegen hingegen noch immer im Dunkeln. Die Spuren, die der archaische Homo sapiens, aber auch die Neandertaler und andere ausgestorbene Menschengattungen auf ihren verschlungenen, hindernisreichen Wegen hinterliessen, erscheinen nach wie vor rätselhaft: Es handelt sich um räumlich wie zeitlich weit verstreute Zeichnungen, Abdrücke und Gravuren. Mittlerweile ist jeder Zweifel bezüglich ihrer Bedeutung für die Ausbildung aller nachkommenden Zivilisationen ausgeräumt. Die Wandmalereien in der Höhle von Lascaux, die erst 1940 entdeckt wurden, gaben dem Philosophen Georges Bataille so sehr zu denken, dass er diese Arbeiten aus dem Jungpaläolithikum gar zum Ursprung der Kunst erklärte. Doch zwischen den dort vorgefundenen Tierdarstellungen und den frühen Hochkulturen wie Mesopotamien, Ägypten und Indus liegen fast 50 000 Jahre – eine unvorstellbar lange Zeit, bedenkt man, gegen welche Gefahren – Wetter, riesige Tiere, Krankheiten – sich die frühen Menschen zunächst bewähren mussten, Generation um Generation, Widrigkeit um Widrigkeit.
Silvia Ferrara, die an der Universität Bologna klassische Philologie unterrichtet, hat sich nun dieses Zeitraums angenommen. Ausdrücklich an «Schönheit, Glanz und Grenzen» interessiert, handelt es sich bei ihrer Studie «Der Sprung» allerdings nicht um ein «Geschichtsbuch», wie sie einleitend hervorhebt, und auch keines «über Ästhetik, Anthropologie oder Philosophie», sondern um eine überaus anschauliche, um nicht zu sagen: faszinierende, Bestandsaufnahme dieser weitgehend unbekannten Phase der Menschheitshistorie. Gezeigt werden «bodenständige, irdische und allesamt höchst menschliche Schritte der Weiterentwicklung», die all dem, was viel später folgen sollte, den Weg ebneten.
Als «roter Faden» der Abhandlung dienen «die spärlichen Reste, die Handabdrücke, die Tierzeichnungen, die Graffiti auf Fels, die Kreise, Linien, Punkte und die Gestalten von Männern, Frauen, Kindern und Tieren sowie die Abbildungen der Mischwesen aus allem, hinauskatapultiert in die physische Welt durch die Kraft einer Idee, durch das Trampolin der Fantasie». Vergegenwärtigt man sich besagte Hindernisse, mit denen die ersten modernen Menschen konfrontiert waren, sind die titelgebenden «Sprünge» nicht nur metaphorisch zu verstehen. Ferrara meint damit allerdings primär all jene unvorhergesehenen Erfahrungen, Entdeckungen und Entwicklungen, die auf einem Weg gemacht wurden, der erst heute und rückblickend als Weg kenntlich wird. Angetrieben von ihrer Neugier und Zeugnis ablegend von ihrer Unbeirrtheit, sich in einer unentwegt herausfordernden Umgebung zu behaupten, ist das, was die Vertreter der menschlichen Gattung an Bildern hinterliessen, noch im kleinsten Detail aufschlussreich.
«Der Sprung» ist eine durchweg erhellende, provozierende und bisweilen auch ergreifende Darstellung der Vorgeschichte. Zumal die «Entwicklungsbahn», die hier geschildert wird, sich auch in der Gegenwart widerspiegelt – als Blick in die Zukunft, mit neuerlichen Sprüngen nach vorn.