«Alles war politisch: die Jeans, der Rock’n’Roll und natürlich auch die Sexualität»
Über das politische Vermächtnis der abtretenden Generation.
Die gesellschaftliche Bedeutung der Babyboomer verdankt sich nicht nur der Grösse ihrer Kohorte, sondern auch der Tatsache, dass sie von ihrer Sozialisation und ihrem Selbstverständnis her eine recht homogene Generation sind. Woran liegt das?
Die Babyboomer hatten und haben ein starkes Generationsbewusstsein. Während man heute Buchstaben erfinden muss, um eine Generation festzumachen – Generation X oder Y –, haben die Babyboomer ihre spezifischen Eigenschaften und eine klare Identität. Diese entwickelten sie, weil sie sich im Kontrast zur Kriegsgeneration definieren mussten.
Als die Babyboomer aufwuchsen, waren ihre Eltern mit dem Wiederaufbau beschäftigt, die Entbehrungen und Sorgen aus der Kriegszeit waren aber noch sehr präsent. Wie prägend war dieser Umstand?
Richtig, die Babyboomer waren eine Art Scharniergeneration. Ihre Eltern, die Kriegsgeneration, hatten einen oder zwei Weltkriege und mindestens eine einschneidende Wirtschaftskrise miterlebt. Das waren traumatische Erfahrungen. Viele Entwicklungen, die schon in den Roaring Twenties, der Zwischenkriegszeit, eingesetzt hatten – die gesellschaftliche Öffnung, die Orientierung hin auf Selbstverwirklichung –, wurden von der grossen Depression und dem Zweiten Weltkrieg unterbrochen, ja zunichte gemacht. Ohne diesen markanten Bruch wären die Entwicklungen wohl Schritt für Schritt weitergegangen. Doch so wurden sie unterdrückt und aufgestaut – bis es dann 1968 zum grossen Dammbruch kam. Nie zuvor gab es einen so scharfen Generationengraben wie in diesem Moment. Die Traumata der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägten die Eltern der Babyboomer und ihre ordnungsliebende und auf materielle Dinge orientierte Weltanschauung. Die Generation der Babyboomer wurde im Aufschwung und der Sicherheit der Nachkriegszeit sozialisiert und entdeckte für sich ganz neue Lebensstile und Horizonte! Das betraf die Wirtschaft, die Politik, die Musik und die Mode. Die radikale Verknüpfung von allem Fortschrittlichen und Neuen mit der Jugend ist eine Erfindung der Babyboomergeneration – und diese Bindung ist bis heute stark. So gelten in der Werbung nach wie vor nur die Jüngeren als relevante Zielgruppe.
Würden Sie der These zustimmen, dass die Babyboomer eine sehr politische Generation waren? Politisiert durch ihren kollektiven Werdegang, aber auch durch die ideologisch aufgeladene Zeit des Kalten Krieges, in der sie aufwuchsen?
Absolut. Vor allem die 1960er und 1970er Jahre waren ein Zeitalter der Theorien und Ideologien: Es gab zwei klare politische Alternativen in Ost und West. Der Zugang zu Politik war diskursiv und dialektisch. Die radikalen Ideen dieser Zeit waren noch nicht von ernüchternden Erfahrungen entzaubert. Zudem trug der harte Generationsgegensatz selber zur Politisierung bei; alles war politisch: die Jeans, der Rock’n’Roll und natürlich auch die Sexualität. Die eigenen Erfahrungen mit ihren als autoritär wahrgenommenen Eltern prägten das politische Bewusstsein der Babyboomer und führten zur Solidarisierung mit unterdrückten Völkern und ausgebeuteten Arbeitern. Heute hat «die Generation» als Identitätsbezug massiv an Bedeutung verloren: Die einen haben konservative Eltern, die anderen linke – na und?
Konkreter?
Weil keine offensichtlichen Reibungsflächen mit der Elterngeneration mehr bestehen, hat das Konzept der Generation seinen identitätsstiftenden Charakter verloren. Verstehen wir uns hier nicht falsch: Längst nicht alle Vertreter und Vertreterinnen der Kriegsgeneration waren konservativ und längst nicht alle Babyboomer links. Dennoch existierte für beide Gruppen eine dominante Erzählung. Selbst Fussballprofis liessen sich damals die Haare wachsen und trugen Schlaghosen, auch wenn viele von ihnen wohl wenig mit dem ganzen politischen Überbau anfangen konnten. Es herrschte eine Art generationaler Gruppendruck. Als dieser sich später aufzulösen begann, rückten viele Babyboomer nach rechts. Ich habe dies in einer Längsschnittanalyse von Abstimmungsnachbefragungen untersucht. Dabei kam heraus, dass sich die Babyboomer tatsächlich deutlich links von ihren Eltern abgrenzten, später jedoch stärker als andere Kohorten nach rechts schwenkten. Die nachfolgende Generation etwa, zu der ich selber gehöre und die von meinem Altersgenossen Florian Illies einmal als «Generation Golf» bezeichnet wurde, startete weniger links, bewegte sich dann aber auch weniger stark nach rechts.
Wenn sich also Alterskohorten später kaum mehr über die Generation definierten: Was ist an die Stelle des «generationalen Gruppendrucks» getreten?
Viel eher als die Generation sind es räumlich gekammerte Milieus und individuelle Bildungswege, die die politische Identität heute prägen. Es verhält sich dabei ähnlich wie mit den Klassen: Klassenunterschiede lassen sich ökonomisch noch immer identifizieren und dennoch lässt sich kaum noch ein homogenes Klassenbewusstsein im Sinne eines Karl Marx feststellen. Auch Generationen werden sich immer unterscheiden lassen, doch dies allein ergibt noch kein Generationenbewusstsein. Dazu sind nicht zwingend Auseinandersetzungen mit der Elterngeneration nötig, aber zumindest eine gemeinsame Erfahrungswelt. «Generation Praktikum» ist ein Begriff, der an diesem Konzept anzuknüpfen versucht. Ob der erschwerte Berufseinstieg jedoch wirklich eine Identität zu schaffen vermag, ist eher zweifelhaft. Noch am ehesten eignet sich aktuell die technologische Entwicklung, und dabei insbesondere die Digitalisierung – beides prägt das Bewusstsein jüngerer Generationen markant. Hier liessen sich die Buchstaben-Generationen wohl noch am ehesten mit Inhalt füllen.
Es existiert die These, dass die Babyboomer die letzte Generation seien, die massgeblich über das Buch sozialisiert worden sei – und politisch über die klassische Tageszeitung. Später traten das Privatfernsehen und die elektronischen Medien ihren Siegeszug an; beide übernehmen immer mehr die Sozialisierungs- und Politikvermittlungsfunktion bei Jüngeren. In der Entwicklung steckt – denken wir an Echokammern und Fake News – viel politischer Zündstoff.
Die Babyboomer sind die letzte Generation des Buches, aber sie sind auch die erste Generation, die an der enormen Bildungsexpansion nach 1945 teilgenommen hat, und entgegen allem Kulturpessimismus hält diese Expansion bis heute an. Sie ist im Vergleich zu ihren Eltern und Grosseltern breit gebildet und entwickelte viel intellektuelles Selbstbewusstsein. Auch in dieser Hinsicht handelt es sich also um eine Scharniergeneration. Anders als heute war es damals jedoch angesagt, sich hochabstrakte Theorien zu erschliessen und dicke Wälzer zumindest mit sich herumzutragen. Von der Kriegsgeneration hatten die Babyboomer durchaus eine gewisse Strenge und Disziplin übernommen, sie bezog sich aber nicht auf alle Lebensbereiche. Von nun an ging es auch in der Politik zunehmend um Selbstverwirklichung, und die sogenannt «neuen sozialen Bewegungen» entstanden typischerweise ausserhalb bestehender, als einengend wahrgenommener Strukturen. Die Babyboomer sind deshalb auch die erste Generation des totalen Individualismus.
Welche Auswirkungen hat das bis heute?
Sieht man von all dem 1968er Gedöns ab, ist Individualismus letztlich der Kern dessen, was von den Babyboomern an die folgenden Generationen weitergetragen wurde. Bereits damals wurde in die Wege geleitet, was heute zur Krise des Milizsystems geführt hat: Die Ordnungsliebe und das Dienen aus Pflichtbewusstsein der Elterngeneration wurden als blosse Sekundärtugenden abqualifiziert. Was jedoch beibehalten wurde, ist die Überzeugung von der eigenen Urteilskraft. Doch statt um Sitte und Moral ging es nun vor allem darum, zwischen gutem und schlechtem Konsum, richtigen und falschen Quellen oder auch zwischen Boulevard und gehobener Presse zu unterscheiden.
Weil die Generation Babyboomer so politisch war, weil sie noch über das geschriebene Wort sozialisiert wurde und gut gebildet war, hatte sie auch eine ausgeprägte Fähigkeit zur Durchdringung komplexer Themen und einer anspruchsvollen politischen Debatte. Sie waren fähig, ein demokratisches Staatswesen zu tragen und dynamisch zu halten. Stimmt dieses Bild von den Babyboomern als politisch vorbildlicher Generation?
Das kann man so sehen. Aber man sollte diese Generation nicht idealisieren als die letzte mit klarer Urteilskraft, nach der nur noch Beliebigkeit regiert. Warum? Zwar scheuten sich die Babyboomer nicht vor abstrakten Systemen und komplexen Denkwelten. Die Fixierung auf theoretische Stringenz und ideologische Reinheit unterminierte jedoch zugleich die Fähigkeit zur selbstkritischen, ergebnisoffenen Beobachtung – und zwar auf beiden Seiten des politischen Spektrums. Die einen vermochten sich für Mao zu begeistern, die anderen für General Pinochet. Es war auch eine Generation der Rechthaberei: Bis in die 1980er Jahre hinein war jede Seite völlig überzeugt davon, dass sie auf dem richtigen Weg sei – und alle anderen verloren seien.
Nach der Ideologie und Rebellion ihrer Jugendphase haben die Babyboomer den langen Marsch durch die Institutionen angetreten. Heute sitzen sie an den Schaltstellen von Wirtschaft, Politik und Gesellschaft. Insofern haben sie wieder zurückgefunden in das System ihrer Eltern, das sie reformiert, aber nicht über Bord geworfen, sondern weiterentwickelt haben. Jetzt, da sie allmählich abtreten: was wird aus unserer Fähigkeit, die bestehende Komplexität intellektuell und organisatorisch zu beherrschen?
Tatsächlich nimmt die Bereitschaft, sich mit komplexen Systemen zu befassen, bei den nachfolgenden Generationen ab. Was sich nicht in ein eingängiges Storytelling packen lässt, gilt zunehmend als unvermittelbar. Ohnehin scheint heute Politik mehr und mehr als eine Subdisziplin von Kommunikation verstanden zu werden. Man kann der Babyboomergeneration ja vieles vorwerfen, aber sie hat tatsächlich noch ganz ernsthaft versucht, das System zu verbessern. Bill Clinton, Gerhard Schröder oder Tony Blair als typische Vertreter dieser Generation waren bereit, den Bruch mit ihrer eigenen Basis zu riskieren, um die eigenen Reformideen voranzubringen. Typischerweise hatten sie sich dabei auch längst vom alten ideologischen Korsett gelöst.
Jüngere Generationen wachsen auf mit der Omnipräsenz des weltweiten Netzes, der Social Media und der Smartphone-Apps. Dinge, die mehr als zwei Minuten Aufmerksamkeitsspanne erfordern, haben dort kaum mehr eine Chance. Wie wirkt sich das auf den politischen Diskurs und die Meinungsbildung aus – zumal in einer direkten Demokratie Schweizer Prägung?
Hier sehe ich durchaus Herausforderungen für unser politisches System. Denn nun ist eine neue Generation gekommen, die sich scheinbar immer weniger dafür interessiert, was dort geschieht, im «Maschinenraum» der Politik. Im Zentrum steht nicht mehr die Frage, welche Reformen angepackt werden sollen, sondern vielmehr die Frage, wie sich dies politisch am besten verkaufen und kapitalisieren lässt. Das Handwerk heisst Kommunikation, PR statt Gesetze drechseln und legiferieren. Personen, die Politik eher als ein juristisches, technisches Handwerk sehen, finden sich eher noch in Verbänden oder in der Verwaltung. Dies ist mit ein Grund für das Revival des Populismus. Denn durch die Umdeutung der Politik als einen Akt der Kommunikation hat die Dominanz gefühlter Wahrheit gegenüber faktenbasierter erst die nötige Legitimation erhalten.
Sie meinen: das befreite Individuum der Generation X oder Y wirkt heute zusehends orientierungslos im Supermarkt der Ideen und der Lebenskonzepte?
Wir haben heute tatsächlich eine unglaubliche Pluralität, die man sich noch vor einer Generation kaum vorstellen konnte. Die Babyboomer haben dafür gekämpft, aber zu ihrer Jugendzeit waren das noch abstrakte Ideen, heute ist es allgegenwärtige Realität: Freiheit, Offenheit, Prosperität. Es gab eine Utopie von «demnächst ist alles offen und du kannst alles machen». Das hatten die Liberalen, aber das hatten auch die Sozialisten. Ideen am Horizont, die man verwirklichen wollte. Wo ist denn dieser zukunftsoptimistische Überbau eigentlich hin? Die grossen Linien, die Aufstiegsnarrative: sie sind verblasst. Ich denke, das sorgt bei den Jüngeren für eine Art politische Orientierungslosigkeit.
Welche Konsequenzen hat das für unser Wertesystem?
Man kann hier einen schönen Vergleich ziehen: Für die Babyboomer war wirtschaftlicher Wohlstand selbstverständlich und sie haben diesen Wohlstand als selbstverständlich genommen, wenn nicht gar verachtet. Meine Generation und alle jüngeren haben Rechtsstaat, Gewaltenteilung und Demokratie auf ganz ähnliche Weise als etwas Selbstverständliches kennengelernt. Das, was für die ältere Generation eine umkämpfte Errungenschaft bedeutet, ist für die jüngere Generation etwas, das es «immer» schon gab. Wer die Zeit des Totalitarismus nicht mehr erlebt hat, schätzt die Bedeutung und die Kraft der liberalen Gesellschaftsordnung, des liberalen Rechtsstaats nicht in derselben Weise. Die Kriegsgeneration hat die Grenzen der Menschlichkeit, die Babyboomer die des Materialismus gesehen, wir sehen jetzt die Grenzen der Demokratie. Zu viele haben vergessen, was Totalitarismus ist – und wie gefährlich er sein kann.
Sind es nicht vielleicht gerade die abtretenden Babyboomer, die hier in der Pflicht sind, vermehrt aufzuklären?
Dabei gibt es ein Problem: Die Babyboomer haben aus einer langanhaltenden Phase der Sicherheit und Stabilität heraus etwas gewagt und ausgetestet, und sind dann selber erschrocken über die Kräfte, die sie entfesselt hatten. Sie haben sich eine gewisse Unsicherheit bezüglich der rasanten Globalisierung und der zunehmenden Öffnung eingehandelt. Viele sind heute aber nicht mehr unbedingt bereit, den Preis dafür zu zahlen. Auch deshalb sind sie im Laufe der Zeit konservativer geworden…
…was wieder Emanzipationspotenziale für die Jüngeren böte, nicht?
Die jüngeren Generationen – das hat sich sowohl beim Brexit als auch bei der Wahl Donald Trumps gezeigt – sind dahingehend tatsächlich offener und finden auch dramatische Veränderungen weniger problematisch. Als Optimist würde ich sagen: wir befinden uns aktuell in einer Phase, in der von verschiedenen Generationen mit unterschiedlichen Motiven ausgetestet wird, wie wichtig Demokratie, Rechtsstaat und Gewaltenteilung sind. Dieses Austesten oder Gefährden führt dann zu einer stärkeren Bewusstwerdung dessen, was man hat und was man verlieren kann. Demokratien brauchen manchmal auch die Herausforderung und das Gegenprojekt – wenn wir aus der jüngeren Vergangenheit etwas lernen wollen, dann, dass dieser Prozess langfristig stabilisierend wirkt.